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Jochen Hippler

Perspektiven der internationalen Politik im 21. Jahrhundert -
Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik



Die Weltpolitik befindet sich im Umbruch. Während des vergangenen Vierteljahrhunderts durchlebte sie tiefgreifende strukturelle Änderungen, die noch nicht zur Herausbildung eines neuen und dauerhaften Systems internationaler Beziehungen geführt haben. Am Beginn dieser Umgestaltung stand das stabile, wenn auch starre Korsett des Kalten Krieges, als das nukleare Patt zweiter Supermächte disziplinierend wirkte. Beide organisierten ein eigenes "Lager" - den Warschauer Pakt und die NATO - und prägten durch die Unterstützung von Klientelregimen in der Dritten Welt auch die Nord-Süd- und Süd-Süd-Beziehungen. Mit dem Zusammenbruch von Warschauer Pakt und Sowjetunion kam es zu einem "unipolaren Augenblick" der klaren Dominanz der USA im Weltsystem, der fast zwanzig Jahre die internationalen Beziehungen bestimmte. Sowohl innerhalb der westlichen Industrieländer, als auch in den Nord-Süd-Beziehungen wurden die USA zum unangefochtenen Hegemon, auch wenn dieser am 11. September 2001 symbolisch - nicht machtpolitisch - von einem nichtstaatlichen Akteur herausgefordert wurde. Das letzte Jahrzehnt war von einer schleichenden Erosion der US-Dominanz gekennzeichnet, insbesondere seit 2003, als wichtige US-Verbündete trotz massiven Drängen Washingtons ihre Beteiligung am Irakkrieg verweigerten. Heute durchläuft das internationale System einen Prozeß der Pluralisierung von Machtzentren, auch wenn die USA weiterhin der mit Abstand wichtigste Einzelakteur bleiben. Zugleich läßt sich ein gradueller Kontrollverlust der Großmächte über die Rahmenbedingungen internationaler Politik konstatieren.
Die Umbrüche der letzten ein oder zwei Jahrzehnte werden von unterschiedlichen Faktoren verursacht, die sowohl für die relative Schwächung Washingtons als auch für andere Aspekte der Machtverschiebung verantwortlich sind und deshalb bei der Formulierung deutscher Außenpolitik berücksichtigt werden sollten.

Überdehnung US-amerikanischer Macht
Zuerst einmal wird die Dominanzposition Washingtons im internationalen System von wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in den USA selbst untergraben. Einmal scheint die globale Führungsrolle das Land zunehmend finanziell zu überfordern. Die USA deuteten in der Vergangenheit ihre Machtposition oft in militärischen Kategorien. Bis zur Hälfte der weltweiten Militärausgaben wurden allein von den USA getätigt. Dadurch entstand einerseits eine überwältigende militärische Überlegenheit Washingtons in Vergleich zu allen anderen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (technologisches Niveau, Zerstörungspotential, Mobilität, etc.), zugleich aber überforderte dies die wirtschaftlichen und innenpolitischen Möglichkeiten der USA, einen solchen Militärhaushalt dauerhaft zu finanzieren. Die massive Aufrüstung erfolgt seit einigen Jahrzehnten vor allem durch Verschuldung der US-Regierung und erweist sich nun als nicht länger tragbar. Dabei handelt es sich allerdings nicht allein um ein ökonomisches Problem, nämlich einen Mangel an wirtschaftlicher Dynamik im Vergleich zum ehrgeizigen Rüstungsniveau und zu geringe Staatseinnahmen zur Rüstungsfinanzierung, sondern auch um ein politisches: Innenpolitisch sind die nötigen höheren Steuern zum Abbau der Überschuldung des Staates nicht durchzusetzen, und das auf Checks-and-Balances angelegte politische System der USA funktioniert nur bei einem politischen Konsens der zentralen politischen Akteure, der aber seit längerem fehlt. Weder der Präsident noch der Kongreß können ohne die jeweils andere Seite weitgehende Reformen durchsetzen - das führt zu einer chronischen politischen Lähmung, die die Überwindung der Überschuldung verhindert. So schwindet die Möglichkeit der USA, ihre globale Dominanz dauerhaft militärisch zu fundieren, während zugleich ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung relativ zu anderen Akteuren abnimmt. 2013 wird der US-Verteidigungshaushalt zum ersten Mal seit 1998 - wenn auch geringfügig - sinken, für das nächste Jahrzehnt sind darüber hinaus Einsparungen von 487 Mrd. Dollar vorgesehen.  Sollte sich der Kongreß in Laufe des Jahres nicht auf ein umfangreiches Paket an Einsparungen (die auch den Verteidigungsetat betreffen müßten) und Steuererhöhungen einigen können, würden noch einmal automatische und pauschale Kürzungen von 500-600 Mrd. Dollar im Verteidigungshaushalt fällig. Damit wird eine wichtige Voraussetzung der US-Führungsrolle in den internationalen Beziehungen untergraben.

Der Aufstieg neuer Mächte
Zweitens kam es aufgrund weltwirtschaftlicher Entwicklungen zum Aufstieg neuer Mächte, die sich nicht bedingungslos einer US-amerikanischen Führungsrolle unterordnen wollen. Die imposanten Wachstumsraten Chinas im letzten Jahrzehnt (bis zu 14 Prozent im Jahr) aber auch zunehmend die Indiens, das 2010 sogar etwas schneller wuchs als China (10,4 statt 10,3 Prozent)  haben zu einer erkennbaren Machtverschiebung geführt. 1990 lag der Anteil Chinas am weltweiten Bruttosozialproduckt bei 2, heute bei 8 Prozent - Tendenz weiter steigend. In wenigen Jahren dürfte China zur größten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen und damit die USA überholen - vermutlich schon vor 2018. Das Land ist bereits länger der wichtigste Gläubiger der US-Regierung, ohne den das Haushaltsdefizit kaum zu finanzieren wäre - und auch EU-Politiker flogen schon nach Peking, um Unterstützung bei der Lösung der Euro/Schuldenkrise zu erbitten. Auch andere Länder sind dabei, zunehmend eine selbständige und selbstbewußte Außenpolitik zu verfolgen, die aus dem Schatten Washingtons heraustritt: Neben dem schon erwähnten Indien sind hier etwa Brasilien, Südafrika oder die Türkei zu nennen, die in ihren Regionen, aber auch darüber hinaus (etwa in Bezug auf den Iran oder Libyen) zunehmend eigenständige Positionen vertreten, die zum Teil der Politik Washingtons (oder der anderer westlicher Industrieländer) entgegenlaufen. Selbst die früher gelähmte Arabische Liga oder Kleinstaaten wie Qatar können inzwischen punktuell Initiativen entwickeln, die ihnen bis vor kurzem nicht zuzutrauen waren.
Die relative (nicht absolute!) Schwächung der letzten verbliebenen Supermacht trifft also auf eine politische Regionalisierung der Politik aufgrund des Aufstiegs regionaler Großmächte. Es ist zu erwarten, daß es in diesem Zusammenhang zu Friktionen kommen wird: Das Hineinwachsen neuer regionaler und später globaler Mächte in ungewohnte Führungsrollen muß zu Erschütterungen der regionalen Gleichgewichte führen und wird bei manchen ihrer Nachbarn auf Widerstand stoßen (etwa bei Pakistan in Bezug auf Indien). Auch wäre es erstaunlich, wenn ein solches Hineinwachsen in eine neue Position der Stärke immer von allen aufstrebenden Mächten verantwortungsvoll und zurückhaltend bewältigt würde. Damit besteht die Gefahr, daß neue Großmächte zumindest in einer Übergangsphase dazu neigen könnten, ihre noch ungewohnte Stärke zu unbefangen oder hemmungslos einzusetzen, was zu entsprechenden Gegenreaktionen näherer oder fernerer Akteure führen müßte. Darüber hinaus darf unterstellt werden, daß auch die USA ihre neue Rolle als stärkste, aber nicht mehr dominierende Macht erst werden lernen müssen. Solche Lernprozesse verlaufen aber selten ohne Rückschläge und Widersprüche - ein punktueller Rückfall in imperiale Abenteuer und Konflikte mit den neuen Großmächten sind Szenarien, die nicht ausgeschlossen werden können. Für Europa wird es darauf ankommen, sich in solche Politik nicht mehr als unvermeidbar hineinziehen zu lassen, ohne die weiterhin wichtige Beziehung zu Washington zu sehr zu belasten.

Globalisierung
Eine weitere Rahmenbedingung der internationalen Politik liegt in der fortschreitenden wirtschaftlichen und technologischen Globalisierung. Sie bewirkt die Verschränkung wirtschaftlicher Interessen, wie ein gemeinsames Bedürfnis nach verlässlichen und stabilen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wenn die Immobilien- und Bankenkrisen in den USA vor einigen Jahren oder die gegenwärtige Euro- und Schuldenkrise in der EU den Wohlstand auch in entfernten, aber wirtschaftlich verflochtenen Ländern massiv bedrohen, etwa die indisch-chinesische Wirtschaftsdynamik und die Wachstumsaussichten in anderen Teilen der Welt, dann entstehen Anreize weltwirtschaftlicher Kooperation. Umgekehrt können lokale und weit entfernte Entwicklungen aber auch negative Auswirkungen auf Dritte und ganze Regionen zeitigen: Der Energiehunger Chinas und Indiens beispielsweise führt zu einem weltweit deutlich höheren Preisniveau bei Erdöl und Erdgas (und damit geringeren Wachstumsraten anderswo), er führt aufgrund der Verknappung der Energieressourcen zu größerer Konkurrenz um diese, damit zu einem höheren Interesse an einer Kontrolle der ölfördernden Regionen (etwa am Persischen Golf). In einem konkreten Fall läßt sich die Auswirkung in der Untergrabung des europäisch-amerikanischen Ölboykotts gegenüber dem Iran durch die chinesische Bereitschaft feststellen, ggf. als Abnehmer iranischen Erdöls einzuspringen. Anders ausgedrückt: Die weltwirtschaftliche Integration und Globalisierung dürfte mittelfristig einerseits zur Zunahme strategischer Gemeinschaftsinteressen in weltwirtschaftlichen Fragen führen (wie heute bereits dem gemeinsamen Wunsch, eine Verschärfung der Finanzkrise in der EU zu vermeiden), aber zugleich sub-strategische und taktische Interessengegensätze immer wieder verschärfen. Die weitere Integration des Weltmarktes - bzw. von globalen Märkten in unterschiedlichen Sektoren - wird mittelfristig also zum gemeinsamen Bedürfnis nach deren Funktionsfähigkeit und der allgemeinen Einhaltung der jeweiligen Regeln und Regelungssysteme führen, zugleich aber einen Rahmen des Austrags von neuen Interessengegensätzen darstellen. Hier wird die internationale Politik zu deren Ausgleich gefordert sein.

Scheitern in Regionalkonflikten
Der vierte Aspekt der Schwächung der bisherigen Machtzentren besteht in der immer offenkundiger werdenden Unfähigkeit der Großmächte, ihre Politikziele auf zivilem oder militärischem Wege durchzusetzen, soweit sie sich auf die positive Gestaltung der inneren Verhältnisse selbst mäßig großer anderer Länder beziehen.  Es ist nicht ganz klar, ob es sich dabei tatsächlich um eine neue Entwicklung handelt, oder ob dieser Eindruck nur aufgrund einer Kombination von höherer Aufmerksamkeit und noch höheren Erwartungen besteht. Allerdings deutet einiges darauf hin, daß beides zusammenkommt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfolgte die koloniale Unterwerfung des Südens zwar nicht ohne Widerstand, aber doch insgesamt erfolgreich, und der Sowjetunion gelang es nach Ende des Zweiten Weltkrieges, eine ganze Reihe fremder Länder nach den eigenen Vorstellungen und dem eigenen Modell umzugestalten, nicht nur in Osteuropa. Auch das amerikanisch-westliche Politik- und Gesellschaftsmodell verfügte während des Kalten Krieges über beträchtliche Ausstrahlung und Gestaltungskraft, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sowjetischen Alternative.
Der Triumphalismus nach Ende des Kalten Krieges - bis hin zu Phantasien eines "Endes der Geschichte" - führte insbesondere bei der letzten verbliebenen Supermacht zu einer Vorstellung, nach der Auflösung der Sowjetunion nun die Welt in eine "Neue Weltordnung" umstrukturieren und letzte Regionen der Widerspenstigkeit oder Unordnung unter Kontrolle bringen zu müssen. Somalia, Bosnien, Kosovo, Afghanistan, der Irak und einige Länder Westafrikas demonstrierten, daß dies jenseits der Fähigkeiten selbst der unipolaren Hegemoniemacht lag. Das Zögern, Länder wie den Iran, Syrien oder Nordkorea ebenfalls politisch zu reorientieren, deutet auf einen wenn auch zögerlichen und unvollkommenen Lernprozeß. Der möglicherweise bevorstehende Bürgerkrieg der Milizen in Libyen könnte diesen noch einmal forcieren. Inzwischen gelingt es selbst unter dem Einsatz beträchtlicher militärischer Macht nicht mehr, Länder wie Somalia, Afghanistan, den Irak oder Libyen nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten.
Zwar hat sich aufgrund des überwältigenden Zerstörungspotentials des US-Militärs ein Sturz von Diktaturen durch Krieg als eine Sache nur weniger Wochen oder Monate erwiesen (Afghanistan, Irak, Libyen) - aber die positive Neugestaltung solcher komplexen Länder zur nachhaltigen Durchsetzung der eigenen Politikziele erwies sich als schwierig oder unmöglich. Dieser Tatbestand belegt nicht nur den begrenzten Nutzen militärischen Zwanges zu zivilen und gestaltenden Zwecken, sondern auch einen größeren Spielraum kleiner oder mittelgroßer Länder als die überwältigende Überlegenheit der Großmächte eigentlich vermuten ließe. So wie früher der Vietnamkrieg und der sowjetische Afghanistankrieg zu Symbolen eines politischen Scheiterns der damaligen Supermächte wurden, demonstrieren die Erfahrungen Somalias, Afghanistans und des Irak ebenfalls die Grenzen der Macht der dominierenden Länder und Länderkoalitionen. Dies bleibt weder in den Ländern des Südens noch des Nordens unbeachtet.

Die Rolle nicht-staatlicher Akteure und Strukturen
Inzwischen besteht ein breiter Konsens, zivilgesellschaftlichen und nichtstaatlichen Akteuren in den internationalen Beziehungen eine wichtige Rolle zuzugestehen. Dies gilt, wenn auch oft diskret, für die großen privatwirtschaftlichen oder staatlichen (Rußland, China) Wirtschaftsunternehmen, ihre Interessen und Vernetzung. Kaum ein wichtiger außenpolitischer Staats- oder Regierungsbesuch kommt noch ohne eine eindrucksvolle Begleitung durch Wirtschaftsführer aus, und die Förderung privatwirtschaftlicher Interessen (oft Exportinteressen, aber auch zur Rohstoff- und Energiesicherung) gehört zum Standardrepertoire der Außenpolitik.
Daneben haben sich die Zivilgesellschaft und die Zivilgesellschaftsförderung als Elemente internationaler Politik fest etabliert, auch wenn deren Einfluß oft überschätzt wird. Nichtstaatliche Akteure sind aber zunehmend auch als Störenfriede oder Gegner in den Blick geraten. Dies gilt lokal (etwa bei Warlords in Somalia oder Afghanistan), aber in Bezug auf den internationalen Terrorismus auch global. Im letzteren Fall zeichnen sich in der internationalen Politik inzwischen Akzentverschiebungen ab. Nach den katastrophalen Terroranschlägen des 11. September 2001 wurden der Terrorismus im Allgemeinen und die Terrororganisation al Qaida im Besonderen zum Zentralproblem der Internationalen Politik erklärt und ihm ein strategischer Charakter zugewiesen. Ausdruck dieser Bewertung war die Formulierung Präsident Bushs, einen "Krieg" gegen den Terrorismus führen zu wollen, der in seiner Bedeutung immer wieder mit dem Kalten Krieg gegen die Sowjetunion verglichen wurde. So sehr dies innenpolitisch und nach den dramatischen Fernsehbildern auch psychologisch verständlich war, so wenig war dies sachlich angebracht. Die damals weltweit vielleicht 3000-4000 al Qaida Kämpfer  waren zweifellos gefährliche und skrupellose Verbrecher, konnten aber weder die Existenz der USA noch die Weltmachtrolle der USA jemals ernsthaft bedrohen - ganz im Gegensatz zur früheren Sowjetunion, die zu beidem in der Lage war. Die Wahrnehmung einer taktischen Bedrohung als strategische führte zur politischen Aufwertung dieser Terrorbande und damit letztlich zu ihrer Stärkung. Im Irak wurde sie zeitweise zu einem lokalen Machtfaktor, bis ihre soziale Basis sich gegen sie wandte, danach im Yemen - dort allerdings nur, weil sie zuvor in Saudi Arabien zerschlagen worden war und ihre Reste sich dort neu gruppierten. In Afghanistan dürften heute nach Angaben der US-Truppen nur noch weniger als 50 al Qaida-Kämpfer operieren. Selbst in Pakistan ist dieser nicht-staatliche Gewaltakteur inzwischen weitgehend diskreditiert und sogar den meisten extremistischen Gewalttätern suspekt. Dies bedeutet nicht, daß al Qaida nicht weiter in der Lage wäre, blutige Anschläge durchzuführen, wenn ihr seit dem 11. September auch nie mehr ein vergleichbar furchtbares Verbrechen gelang - aber als globale strategische Bedrohung kam al Qaida bereits lange vor dem Tod ihres Anführers Usama bin Ladin nicht in Betracht. Die Regierung Obama hat behutsam versucht, daraus Schlüsse zu ziehen. Wenn es auch innenpolitisch unklug wäre, im Umgang mit dem Terrorismus als leichtfertig zu erscheinen, so wurde doch rhetorisch abgerüstet: von einem "Krieg gegen den Terrorismus" ist schon lange nicht mehr die Rede. Die Umwälzungen in der arabischen Welt ("Arabischer Frühling") haben nun dem islamisch geprägten Terrorismus seine wichtigste Grundlage entzogen: Anstatt westlicher Regierungen oder Gesellschaften werden die eigenen diktatorischen Regime als größtes Problem begriffen, und die Veränderungen vor allem in Tunesien und Ägypten, aber vermutlich auch in Ländern wie Marokko und Jordanien weisen den Weg zu nicht-terroristischen Formen des politischen Kampfes. Das politische Scheitern von al Qaida und der Arabische Frühling werden den politischen Islam ("Islamismus") insgesamt stärker in die Mitte ihrer Gesellschaften führen und in die Richtung einer türkischen Entwicklung drängen. Auch dadurch entstehen der Außenpolitik neue Spielräume, die es zu nutzen gilt.

Beginnende Anpassung an die neuen Rahmenbedingungen
Vor diesen sehr unterschiedlichen Hintergründen muß die soeben veröffentlichte neue Militär- und Sicherheitsstrategie der US-Regierung begriffen werden.  In ihrem Rahmen wird eine Neuausrichtung der US-Sicherheitspolitik auf die Asiatisch-Pazifische Region angekündigt, die vom westlichen Pazifik (also der Westküste der USA) über Ostasien bis zum Indischen Ozean und nach Südasien reiche. Im Zusammenhang mit einer Reihe von Erklärungen und Entscheidungen der letzten Monate lassen sich daraus zwei Hauptinteressen ableiten: Einmal die Sicherung des US-amerikanischen Einflusses in den wirtschaftlich dynamischen Regionen Asiens durch militärische Präsenz, wobei eine anti-chinesische Stoßrichtung kaum zu übersehen ist. Auch wenn die US-Regierung gemeinsame Handels- und Stabilitätsinteressen mit China betont, ist man doch über die unklaren strategischen Absichten der chinesischen Aufrüstung besorgt und möchte dem mehr militärische Präsenz entgegensetzen. Die angekündigte verstärkte Militärkooperation mit Australien gehört in diesen Zusammenhang. Zweitens muß daran erinnert werden, daß die Zielregion "Indischer Ozean und Südasien" bis an die Küsten Somalias, der Arabischen Halbinsel, Irans und Pakistans reicht. Bezogen auf den Nahen und Mittleren Osten ist davon die Rede, daß die Sicherheitspolitik Washingtons einen Schwerpunkt auf den energiereichen Persischen Golf legen werde, der ja an den Indischen Ozean anschließt. Insgesamt ist zu erwarten, daß die USA ihre militärische Präsenz im Pazifischen Raum mäßig ausbauen werden, während sie zwischen dem östlichen Mittelmeer, dem Persischen Golf und Zentralasien etwas ausgedünnt und auf indirektere Art einsatzfähig gehalten wird. Die Pläne zur Verwendung eines großen "Mutterschiffes" im Persischen Golf als Einsatzbasis gegen den Iran oder die verstärkten Rüszungsexporte nach Saudi Arabien und in die Arabischen Emirate sind Beispiele. Die Rolle Europas in der US-amerikanischen Globalstrategie dürfte, trotz rhetorischer Versuche einer Relativierung, im Vergleich zu anderen Regionen weiterhin langsam abnehmen.
Diese Vorstellungen signalisieren einen ersten Schritt der Anpassung der US-Strategie an die neuen internationalen Bedingungen und die enger werdenden eigenen Möglichkeiten. Sie reflektieren zugleich die skizzierte Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen. Auch wenn im gegenwärtigen amerikanischen Vorwahlkampf die Mehrheit der Republikanischen Kandidaten eher trotzig auf einer weiteren Aufrüstung zur Sicherung der US-Dominanz beharrt, so wird dies kaum gelingen: Wollen die USA angesichts ihrer fiskalpolitischen Probleme und der Pluralisierung des internationalen Systems ihre Position nicht zusätzlich schwächen, wird ihnen kaum eine Alternative zur schrittweisen Rückführung der militärischen Überrüstung, einer Konzentration auf die Rückgewinnung wirtschaftlicher Dynamik (mit Investitionen in die eigene Infrastruktur und das Bildungswesen) und der Intensivierung der Zusammenarbeit mit regionalen Partnern in Asien, Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten und Europa bleiben. Ein solcher mittelfristig zu erwartender, selektiver Multilateralismus wird allerdings nicht wie während der Phase der Unipolarität funktionieren,  indem Washington zur Durchsetzung unilateraler Interessen "Koalitionen der Willigen" rekrutiert. China, Rußland, Indien, die Türkei und andere Länder dürften sich immer weniger einer US-Führungsrolle unterordnen, wenn das nicht ihren eigenen Interessen entspricht, wie sich bereits an der Politik gegenüber Syrien oder dem Iran erkennen läßt. Washington wird also zukünftig stärker zwischen unilateralem Vorgehen zu hohen Kosten und einem stärker kooperativen Politikstil entscheiden müssen, der auch die Interessen der Partner ernsthaft berücksichtigt. Der nötige Lernprozeß dürfte zumindest ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen und nicht ohne Widersprüche und Rückschläge erfolgen. So entstehen in der internationalen Politik neue Gestaltungsspielräume für früher weniger einflußreiche Akteure.
Aus europäischer Perspektive besteht ebenfalls die Notwendigkeit, sich auf die neuen internationalen Begebenheiten einzustellen, allerdings aus einer anderen Ausgangslage. Von einer europäischen Dominanz des internationalen Systems kann ja bereits seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr die Rede sein, und nach dem Zweiten wurden ihre Reste liquidiert. Deshalb werden die europäischen Staaten und die Europäische Union weit weniger Schwierigkeiten haben, sie mit einer multipolaren Grundstruktur der internationalen Politik abzufinden. In gewissem Sinne kommt dies sogar ihren Interessen und ihrem Politikstil entgegen - der plurale Charakter europäischer Politik und die Unmöglichkeit einer europäischen Hegemonialpolitik über die direkte Nachbarschaft hinaus legen Europa eine kooperativ-multilaterale Politik nahe, insbesondere, da die europäische Mittelmacht eher an Außenwirtschaft denn Geopolitik interessiert ist und sein muß. Darüber hinaus ist die Europäische Union in absehbarer Zeit in keiner Verfassung zu einer wirksamen und aktiven Außenpolitik, die mit einem internationalen Gestaltungsanspruch aufträte - außer als Anhängsel der Politik Washingtons, was allerdings weniger wahrscheinlich wird. Die EU hat sich durch ihre letzten Erweiterungswellen strukturell überfordert, ihre Organisationsform ist schon nicht mehr in der Lage, die internen Probleme erfolgreich zu lösen, geschweigen denn, nach außen mit einem aktiven Machtanspruch aufzutreten. Sie ist bürokratisch tüchtig, aber keine Gestaltungskraft. Zwar wird es aus Gründen innenpolitischer Opportunität gelegentlich rhetorische Ansprüche zur regionalen oder globalen Gestaltung oder kurze Ausbrüche einer aktivistischen Politik einzelner Länder geben (wie im Fall der Libyenpolitik des französischen Präsidenten 2011), aber diese unterstreichen nur die strategisch eng begrenzte Politik der EU. Sie und ihre wichtigsten Mitgliedsländer sind im Kern zivile Mittelmächte, deren globale Rolle von der Kooperation mit anderen Mittel- und Großmächten abhängt. Deshalb dürfte die europäische Außenpolitik in Zukunft weiterhin eher regional und auf die Nachbarregionen angelegt sein, während die Außenwirtschaftspolitik global bleibt.

Schlußfolgerungen für deutsche Außenpolitik
Eine zugleich Interessen- wie Wertegeleitete Außenpolitik der Bundesrepublik bedarf vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Umbrüche im internationalen System zuerst einer soliden Fundierung in einer funktionsfähigen und wirtschaftlich redynamisierten Europäischen Union. Wenn die europäischen Länder im Konzert der Mächte eines zunehmend multipolaren Systems nicht schrittweise an den Rand geraten wollen, bedarf es einer handlungsfähigen und wirtschaftlich dynamischen EU. In diesem Sinne basiert deutsche und europäische Außenpolitik in der Zukunft noch mehr auf innergesellschaftlichen Voraussetzungen - insbesondere einer vorbildlichen Infrastruktur und einer Wissenschaftskultur, die innovative Grundlagen- mit anwendungsorientierter Forschung verbindet. Die verstärkte Nutzung militärischer oder im allgemeinen Sinne sicherheitspolitischer Mittel zur Einflußnahme oder zur Kompensation außenpolitischer Schwäche wäre demgegenüber weniger aussichtsreich oder gar kontraproduktiv: Wenn selbst die USA trotz weit höherer Anstrengungen und geringerer interner Reibungsverluste (ein einheitliches Beschaffungswesen) auf diesem Weg in eine Sackgasse geraten sind, sollte sie jenseits ihrer finanziellen Aussichtslosigkeit ohnehin gemieden werden. Wenn Deutschland und die EU nicht nur die aktuelle Krise überwinden, sondern darüber hinaus zum Taktgeber technologischer und sozialer Innovation werden, dann gewänne eine deutsche und europäische Außenpolitik die Chance, den Abstieg in die Zweitklassigkeit zu vermeiden. Dazu allerdings müßten die verfügbaren Mittel kompromißlos in die Infrastruktur, die Wissenschaft, Bildung und Ausbildung investiert werden, um verlorenen Boden gutzumachen - und nicht in den hoffnungslosen Versuch investiert werden, den sonst unvermeidlichen Abstieg militärisch zu dämpfen. Wenn die Bundeswehr und andere europäische Streitkräfte zu diesem Zweck weiter zurückgeschnitten werden müssen, ist dies angesichts der Tatsache vertretbar, daß die EU militärisch nicht bedroht ist und ferne Abenteuer out-of-area bisher wenig nützlich waren. Nur als Innovationsmacht könnte es gelingen, zu einem der zentralen Pole des zukünftigen multilateralen Systems internationaler Politik zu werden - und auf dieser Basis Kooperationsgeflechte zu den anderen Polen aufzubauen, zu vertiefen und zu institutionalisieren. Solange die UNO nicht reformiert ist - und hier bietet sich wenig Grund zum Optimismus - kann diese nur ein Netzwerk neben anderen sein. Daneben bieten sich auch ASEAN, die Arabische Liga und andere Regionalinstitutionen an. Aber auch Problemlösungsallianzen (Energiepolitik, Klima, weltwirtschaftliche Regulierung, grenzüberschreitende Kriminalität, etc.) mit einzelnen relevanten Partnern und formellen oder informellen Koalitionen der Zukunftsorientierten bieten sich an. Soft power ist kein Allheilmittel, aber für Europa der einzige Ansatz, die globale Zukunft mitzugestalten - nicht im Sinne überkommener und nicht restaurierbarer Dominanzvorstellungen, sondern als einflußreiche und gut vernetzte Mittelmacht.

 

Anmerkungen:

US Department of Defense, News: American Forces Press Service, Carter: Strategic Guidance is Compass for 2013 Budget, online: http://www.defense.gov/News/NewsArticle.aspx?ID=66705

India outpaces China - Winning the growth World Cup, in: The Economist online, Apr 15th 2011, http://www.economist.com/blogs/freeexchange/2011/04/india_outpaces_china

Jochen Hippler, Strategische Grundprobleme externer politischer und militärischer Intervention - Unter besonderer Berücksichtigung der Krisensituationen des Nahen und Mittleren Ostens, INEF-Report 103, Duisburg 2011, online: http://www.jochenhippler.de/IR103_Strategieprobleme_ziviler_und_militarischer_Intervention.pdf

Gerges, Fawaz A.; The Rise and Fall of Al-Qaeda;  New York (Oxford University Press) 2011, S. 14

US Department of Defense, Sustaining U.S. Global Leadership: Priorities for 21st Century Defense, Washington, January 2012

siehe dazu; Jochen Hippler, US-Dominanz und Unilateralismus im internationalen System - Strategische Probleme und Grenzen von Global Governance, in: Jochen Hippler/Jeanette Schade, US-Unilateralismus als Problem von internationaler Politik und Global Governance, INEF-Report 70, 2003, Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Duisburg; online: http://www.jochenhippler.de/html/us-dominanz_und_unilateralismus_im_internationalen_system_.html
 

 


Quelle:

Jochen Hippler
Perspektiven der internationalen Politik im 21. Jahrhundert - Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 10/2012, 5. März 2012, S. 27-33


 

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