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Jochen Hippler


Wie falsch ist die Libyenpolitik?
Kritische Anmerkungen zu einer voreiligen Kritik
 


Als im März die Bundesregierung ihre Zustimmung zur UN-Resolution 1973 und damit zum Luftkrieg in Libyen verweigerte, war das Echo gespalten. Umfragen zufolge stimmte eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung der Entscheidung zu. Einige aus der politischen Klasse kritisierten die Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat aus bündnistaktischen Gründen: Sie würde die Beziehungen zu Frankreich, Großbritannien und den USA belasten. Dieses Argument war kurzfristig zutreffend, hatte aber erkennbar nichts mit Libyen oder mit humanitären Erwägungen zu tun. Einige wenige Kritiker bemängelten dagegen, dass die Entscheidung libysche Zivilisten gefährden würde.
Monate später, nach dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddafis, erhob sich ein Sturm rückwirkender Entrüstung. Das Ende der libyschen Diktatur habe erwiesen, dass die Stimmenthaltung der Bundesrepublik ein Fehler gewesen sei – schließlich habe der als „Militäreinsatz“ bezeichnete Luftkrieg den Fall Gaddafis wesentlich mit bewirkt. Es wurde unterstellt, die Bundesregierung hätte die Kriegsteilnahme aus dem Grund verweigert, weil so der Sturz der Diktatur nicht zu erreichen sei, und dieses Argument sei widerlegt. Bemerkenswert war, dass die Vorwürfe sich auf den glücklosen Bundesaußenminister konzentrierten, obwohl er die Entscheidung gemeinsam mit der Bundeskanzlerin und unter Einbeziehung des Verteidigungsministers getroffen hatte. Dies deutet darauf hin, dass die rückblickende Kritik eine starke innenpolitische Dimension enthielt.

Erinnern wir uns: Bei der Zustimmung oder Ablehnung der UN-Resolution ging es nicht darum, ob der Sturz Gaddafis wünschenswert war. Das war unumstritten, stand aber nicht zur Abstimmung. Die Resolution sollte rein humanitären Zielen dienen, insbesondere die libysche Zivilbevölkerung vor Angriffen der libyschen Luftwaffe (und später auch der Panzer) schützen. Genau deshalb wurden die Flugverbotszone eingerichtet und Bodentruppen ausgeschlossen. Weder ein Sturz Gaddafis noch eine militärische Parteinahme der NATO im libyschen Bürgerkrieg war von der Resolution 1973 mandatiert. Dass die NATO und ihre nationalen Kontingente später trotzdem dazu übergingen, als Luftwaffe der Aufständischen zu operieren; dass sie immer wieder Ziele angriffen, die nichts mit dem Schutz von Zivilisten zu tun hatten; dass sie sogar noch nach dem Sturz Gaddafis taktische Luftunterstützung für eine Kriegspartei gewährten – das war bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat nicht absehbar, sonst wäre die Resolution nie zustande gekommen. Auch von einem Schutz der Zivilbevölkerung vor Angriffen der Aufständischen ist bisher nichts bekannt – Zivilisten schienen nur schützenswert, wenn sie von den Truppen Gaddafis attackiert wurden.

So sympathisch ein Schutzversprechen für Zivilisten war und ist: Es bleiben große Zweifel, ob eine Flugverbotszone diesen Anspruch überhaupt einlösen kann. Auch das Massaker an 8000 Männern in Srebrenica (Bosnien) 1995 fand trotz einer Flugsverbotszone statt – und sogar trotz der Präsenz niederländischer Bodentruppen unter einer UN-Mission. Ein Luftkrieg kann Ziele am Boden zerstören, eine fremde Regierung entscheidend schwächen und feindliche Luftangriffe ausschließen. Aber er kann nicht verhindern, dass Zivilisten von Angriffen am Boden, Massakern oder den Kriegsfolgen bedroht werden – zumindest nicht, ohne dass die Interventionsmächte zur Kriegspartei werden. Ein wirksamer humanitärer Schutz der Bevölkerung erfordert politisch neutrale Bodentruppen mit einem robusten Mandat, also dem Recht zum Waffeneinsatz gegenüber allen Angreifern. Die schloss die UN-Resolution zu Libyen aber aus. Sich hier zu enthalten, war durchaus begründbar: Die Resolution verkündete ein Ziel, das mit den vorgesehenen Mitteln kaum zu erreichen war. Die Bundeskanzlerin bemerkte vor der CDU/CSU Bundestagsfraktion zu Recht, die Militärintervention sei „nicht hundertprozentig durchdacht“.
Damit standen die kriegführenden NATO-Staaten vor einer klaren Alternative: Entweder sie handelten in den engen Grenzen der Resolution. Dann konnten sie zwar Luftangriffe auf Zivilisten verhindern, aber weder den Krieg beenden noch Gaddafi stürzen – was politisch als Scheitern wahrgenommen worden wäre. Oder sie gingen über die Resolution hinaus, so dass sie selbst zur Kriegspartei wurden. Dann konnten sie zwar zum Sturz des Gaddafi-Regimes beitragen, hatten aber den Boden der UN-Resolution verlassen und operierten völkerrechtswidrig.
Dieses Dilemma war bei Verabschiedung der Resolution absehbar. Das ließ und lässt die Stimmenthaltung als vertretbar oder richtig erscheinen. Wer sie heute mit dem Argument kritisiert, der Luftkrieg habe schließlich den Sturz der Diktatur bewirkt, übersieht, daß die UN-Resolution dazu nicht ermächtigt hat. Das Argument läuft darauf hinaus, ein Völkerrechtsbruch sei im Nachhinein gerechtfertigt, wenn er erfolgreich verläuft. Wer dieser Meinung ist, sollte es dann auch klar sagen. Lothar Brock hat bereits vor Jahren vor der neuen Unsitte gewarnt, das Völkerrecht durch Rechtsbruch weiterzuentwickeln.

Die humanitären Argumente der Interventen sind wenig überzeugend: Wenn der Schutz der Zivilisten entscheidend gewesen wäre, dann hätte man nicht nur Städte wie Bengasi vor den Angriffen der Regierungstruppen geschützt, sondern auch Sirte oder Bani Walid vor denen der Aufständischen – in vielen Fällen unterstützte die NATO aber solche Angriffe aus der Luft. Ein Sturm verteidigter Städte führt aber immer zu schwerem Leiden der Zivilisten, unabhängig davon wer Angreifer und wer Verteidiger ist. Wer humanitäre Absichten ins Zentrum der Politik hätte stellen wollten, hätte also alle bedrohten Bevölkerungsgruppen in gleichem Maße gegen alle Angriffe verteidigen müssen. Darüber hinaus wäre auch zu begründen, warum Massaker in Libyen humanitär anders zu bewerten sind als solche in Syrien – wofür es aber nur politische, keine humanitären Argumente gibt.
Aber selbst wenn man das Argument „Der Zweck heiligt die Mittel“ akzeptieren wollte: Der Sturz Gaddafis ist erfreulich, aber keine Garantie für einen politischen Erfolg in Libyen. Auch die Taliban konnten 2001 schnell gestürzt werden, auch sie vor allem durch einen Luftkrieg im Dienste ihrer einheimischen Gegner, der Nordallianz. Der Sturz Saddam Husseins wurde 2003 ebenfalls durch einen Luft- und einen kurzen Bodenkrieg in einigen Wochen bewerkstelligt. Der heutige Jubel in Paris und anderswo erinnert fatal an den Triumphalismus von George W. Bush im Mai 2003, im Irak sei die „Mission erfüllt“. Diese krasse Fehleinschätzung bezahlten anschließend hunderttausende von Irakern und Afghanen und zahlreiche ausländische Soldaten mit dem Leben. Der wirkliche Krieg stand damals erst noch bevor, er war die Folge des Sturzes der beiden Regierungen und des Fehlens jedweden seriösen Konzeptes zur Gestaltung der Nachkriegsordnung.

Heute besteht in Libyen die Gefahr einer ähnlichen Entwicklung. Das Land ist – im Gegensatz zu Tunesien und Ägypten – stark fragmentiert. Regionale, stammesmäßige, ethnische und religiöse Unterschiede sind stark ausgeprägt. Auch in Libyen standen sich nicht zwei geschlossene und gut organisierte Konfliktparteien gegenüber, sondern dutzende bewaffnete Gruppen kämpften um die Macht – und um die Durchsetzung ihrer Partikularinteressen. Heute wird das Land nicht von einer geeinten Regierung kontrolliert, sondern besteht aus zahlreichen regionalen und lokalen Einflusssphären. Ein funktionierender Staatsapparat, der die divergierenden Gruppen friedlich integrieren könnte, fehlt und muss erst noch geschaffen werden. Ob dieses schwierige Experiment gelingt, kann nicht ausgeschlossen werden, ist aber alles andere als sicher. Gegenwärtig besteht Anlass zu Skepsis. Auch deshalb sind der Jubel und die Rechthaberei zumindest verfrüht. Erst die Zukunft wird erweisen, ob der gewaltsame Sturz der Diktatur die Tür zu einer besseren, demokratischen Zukunft geöffnet hat oder ob er zu einem neuen Bürgerkrieg und vielleicht dem Zerfall Libyens führen wird – mit den entsprechenden politischen und humanitären Folgen.
 

 

Quelle:

in einer leicht modifizierten - und mit einer von mir nicht geschrieben Einleitung versehenen - Form erschienen unter dem Titel:

Jochen Hippler,
Der Triumph ist verfrüht
Die Intervention in Libyen bleibt auch nach Gaddafis Sturz zweifelhaft,
welt-sichten
- Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit, Oktober 2011

 

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