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Jochen Hippler / Dirk Messner

Weltordnung und Frieden:
Trends und Perspektiven



Weltpolitik ereignet sich im Zusammenspiel unterschiedlicher Politikebenen. Die Machtstruktur des internationalen Systems, weltwirtschaftliche und kulturelle Faktoren, regionale Dynamiken und Nationalstaaten spielen wichtige Rollen, aber auch internationale Organisationen und nichtstaatliche Akteure sind von zunehmender Bedeutung. Auf allen diesen Ebenen kommt es zu fortwährenden Veränderungen und Verschiebungen, auch wenn diese häufig langsam und für zeitgenössische Beobachter geradezu unmerklich erfolgen. Sie führen dazu, dass das »internationale System« eher einen Prozess denn einen Zustand bezeichnet. »Stabilität« ist daher ein leicht misszuverstehender Begriff: Er kann nicht den Fortbestand des Status quo bedeuten, sondern dessen geregelte, konfliktarme und eher kontinuierliche Weiterentwicklung. Diese wiederum wird von der Machtstruktur und der Konfiguration der Akteure und ihrer Interessen, von sozio-ökonomischen Veränderungen und den Politiken der Akteure geprägt - wobei deren Absichten zwar durchaus relevant, aber selten ausschlaggebend sind. Die Struktur des internationalen Systems und seine Veränderung wird zwar von Menschen bewirkt, aber von so vielen objektiven und subjektiven Faktoren beeinflusst, dass in ihrem Zusammenwirken der Wille einzelner Akteure zwar erkennbar ist, aber kaum je das Ergebnis bestimmt.
Die Weltordnung, also die Makrostruktur des internationalen Systems, war während des Kalten Krieges vor allern von Bipolarität geprägt, also dem Gegenüberstehen zweier intern komplexer Machtblöcke, die um die Vorherrschaft rangen. Mit dem Fortfall eines der beiden Blöcke musste sich diese Grundstruktur ändern. Es kam zu einem »unipolaren Augenblick«. Allerdings waren und sind die Perioden während und nach dem Kalten Krieg nicht allein bi-bzw. unipolar, sondern unterhalb der Makroebene von zusätzlichen, z.T. auch gegenläufigen Tendenzen gekennzeichnet bzw. gekennzeichnet gewesen. In beiden Fällen gab bzw. gibt es Regionen am Rande oder außerhalb der globalen Ordnung: Nicht alle Länder und Regionen waren früher im gleichen Maße in die beiden Blöcke integriert, nicht alle sind heute im gleichen Grad der Unipolarität unterworfen. Marginalisierte Länder von geringer strategischer Bedeutung oder die »Bewegung der Blockfreien« waren früher Beispiele dafür, dass das bipolare System nicht überall gleichmäßig dominierte. Es gelang manchen Ländern durchaus, die beiden Blöcke in gewissem Maße gegeneinander auszuspielen und so ein Maß an Bewegungsspielraum zu erhalten oder zu gewinnen. Auch die Volksrepublik China war nach dem Bruch mit Moskau, spätestens aber seit dem Besuch US-Präsident Nixons nicht einfach einem der beiden Lager zuzurechnen. Auch heute ist die Unipolarität nicht ungebrochen: der Begriff der »Schurkenstaaten« beispielsweise soll gerade solche Länder bezeichnen, die sich einer Einordnung entziehen wollen. Auch der offene Streit zwischen westlichen Ländern im Kontext des Irakkrieges (»Altes Europa«) deutet daraufhin, dass Unipolarität nicht Homogenität und unbestrittene Unterordnung unter den Hegemon bedeutet, sondern stets weit widersprüchlicher und komplexer organisiert ist.
So entstanden während und nach dem Kalten Krieg unterhalb der Ebene des zwei- bzw. einpoligen Systems Tendenzen, die diese Strukturen dadurch unterhöhlten, dass zusätzliche Akteure an politischem und ökonomischem Gewicht gewannen. Der wirtschaftliche und - in geringerem Maße - politische Wiederaufstieg der Verlierer des Zweiten Weltkriegs (Japan und Deutschland/BRD und DDR), die Bildung der EWG/EG/EU oder die wachsende Bedeutung der »Schwellenländer« oder »Tigerstaaten« Asiens sind dafür wichtige Beispiele. Heute liegt das Augenmerk in dieser Hinsicht vor allem bei den dynamischen Wirtschaftsmächten China und Indien.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass die durch nur einen oder zwei Machtpole gekennzeichneten Grundmuster des internationalen Systems zwar tatsächlich die Weltpolitik prägten bzw. prägen, zugleich aber nie vollständig durchgesetzt waren und in sich immer die Gegentendenz einer stärkeren Multipolarität trugen. Je stärker die Disziplin des globalen Hegemons oder der Hegemone durchgesetzt werden sollte, desto mehr Anreize bestanden, den Handlungsspielraum dritter Akteure zu verteidigen oder auszubauen.


Die ambivalente Rolle der einzigen Supermacht

Damit gerät der Zusammenhang der sehr beschränkten Anzahl globaler Hauptmächte mit ihrer Politik in den Blick. Die heute noch unipolare Grundstruktur des Weltsystems bedeutet nicht automatisch, dass die Weltmacht USA deshalb auch eine unilateralistische Politik verfolgen müsste. Während die Grundstruktur des Weltsystems auf den wirtschaftlichen, militärischen und politischen Machtverhältnissen basiert und damit vom Willen der Akteure nur sehr mittelbar geprägt wird, bleibt die Frage einer eher unilateralen oder kooperativen Politik bei Großmächten im Bereich der eigenen Entscheidungsfähigkeit (Hippler 2003). Auch ein globaler Hegemon kann, wenn er dies für angebracht hält, sich vor allem auf integrative, kooperative und »weiche« Formen der Dominanz stützen - oder aber, mit geringer Rücksichtnahme auf Andere und die Erfordernisse des internationalen Systems einen Politikstil der hemdsärmeligen Durchsetzung der Eigeninteressen wählen. In beiden Fällen mag die Verfolgung der Eigeninteressen die treibende Kraft sein, die Auswirkungen auf die Weltpolitik und der Grad des Widerstandes gegen den Hegemon werden sich allerdings beträchtlich unterscheiden.
Die derzeitige Ordnung des internationalen Systems wird angesichts der noch bestehenden Unipolarität in erster Linie von den USA geprägt, ohne dass diese allerdings in der Lage wären, sie selbst und einseitig zu bestimmen. Und deren Politik erfolgt - zumindest unter der Präsidentschaft George W. Bushs - in einem Spannungsfeld eines »realistischen« und robusten Unilateralismus, der aus pragmatischen Gründen gelegentlich von multilateralen Zugeständnissen gemildert wird, und einem »idealistischen« Projekt des »Demokratieexports«, das wiederum als Mittel eigener Interessendurchsetzung begriffen wird. Beide Aspekte der Politik tragen offensive Züge. Und wenn auch beide der Ausdehnung der eigenen Macht dienen, so tun sie dies auf höchst unterschiedliche Weise: einmal offen machtbezogen und pragmatisch, im zweiten Fall mit dem ideologischen Anspruch, Freiheit und Demokratie zu fördern und fremde Länder von Diktatur zu befreien - wobei bemerkenswert ist, dass der Begriff der Menschenrechte häufig ausgespart bleibt (Hippler 2005). Beide Grundlinien der US-Außenpolitik, die zum großen Teil dem politischen Kompromiss zwischen »Realisten« und Neokonservativen in der Regierung entsprechen, scheinen konzeptionell in einem Gegensatz (pragmatische Machtmaximierung vs. ideologischer Kreuzzug) zu stehen, ergänzen sich aber tatsächlich, indem die Demokratierhetorik einerseits zum Ansatzpunkt für direkte oder indirekte Interventionen in anderen Staaten wird und sie zugleich zur innenpolitischen und internationalen Legitimation pragmatischer Machtausdehnung genutzt wird. Deshalb ist es wenig überraschend, dass andere Länder und Akteure einen solchen Politikmix häufig beunruhigend finden: entweder, weil sie sich von Demokratisierungsvorstellungen oder von US-Dominanzansprüchen bedroht fühlen, oder von beidem.
Während das US-Projekt des »Demokratieexports« umstritten bleibt, stellt sich immer klarer heraus, dass der »Krieg gegen den Terrorismus« als zentrales Element der Globalstrategie der USA deren Stellung in der Welt eher untergräbt als festigt. Inwieweit diese Politik tatsächlich primär dem Kampf gegen den Terrorismus dient oder ihn vor allem in den Dienst anderer imperialer Interessen stellt (Beispiel Irak), ist Gegenstand intensiver Debatten. Zumindest kann festgehalten werden, dass die Solidarisierung der Weltgemeinschaft mit den USA nach dem n. September 2001 durch den Irakkrieg, die Bilder von Abu Ghraib und aus Guantanamo aufgebrochen wurde. Die massiven militärischen Maßnahmen konnten den Terrorismus bisher nicht in die Knie zwingen. Der »Krieg gegen den Terror« scheint vielmehr noch Öl ins Feuer gegossen zu haben, vor allem im Nahen und Mittleren Osten [vgl. Kapitel Internationaler Terrorismus und seine Folgen für die internationalen Beziehungen und Hippler 2006].


Zukünftige Herausforderungen

Die gegenwärtig noch relativ stabile unipolare Ordnung des internationalen Systems bedeutet nicht, dass regional oder lokal nicht beträchtliche Instabilität, Gewaltkonflikte und Fragmentierung von nationalen oder regionalen Subsystemen herrschen könnten. Eine der großen Herausforderungen für die internationale Politik besteht darin, dass es in Teilen der Dritten Welt zu Auseinandersetzungen um die politische Macht sowie um die Kontrolle des Staates oder wichtiger Ressourcen kommt, die die Funktionsfähigkeit und Existenz von Staatlichkeit insgesamt bedrohen [vgl. Kapitel Fragile Staaten und globale Friedenssicherung]. Dies führt in Zeiten der Globalisierung nicht allein zu lokalen Problemen, sondern strahlt auf ganze Regionen oder die Weltpolitik aus. »Gescheiterte« oder scheiternde Staatlichkeit bringen deshalb nicht allein die politische und wirtschaftliche Entwicklung vor Ort in Gefahr, sondern können durch Migration, regionale Gewaltmärkte oder globalen Gewaltexport die weltweite Stabilität untergraben. Zwar wird das Problem scheiternder Staatlichkeit und die mögliche Destabilisierung ganzer Weltregionen intensiv diskutiert, doch der politische Wille interner wie externer Akteure, sich in diesen Krisenregionen nachhaltig zu engagieren, ist begrenzt.
Darüber hinaus wird die Zukunft der Weltpolitik entscheidend davon abhängen, ob sich in den kommenden zwei Jahrzehnten der ökonomische Aufstieg Chinas und Indiens fortsetzt und diese beiden Giganten dazu in der Lage sein werden, ihre neu gewonnene ökonomische Macht in politische Gestaltungskraft umzusetzen. Ansätze dazu gibt es bereits: In Lateinamerika und Afrika ist immer häufiger vom »Beijing Konsensus« (autoritäre Herrschaft, pragmatische Marktwirtschaft, Achtung des Prinzips der Nicht-Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten) als Alternative zum westlichen (Post-)Washingtoner Konsensus die Rede. China und zunehmend auch Indien sind zudem aufgrund ihrer enormen Devisenreserven sowie ihrer ökonomischen Dynamik in Afrika, Lateinamerika und Zentralasien, also den Regionen, in denen sich der Wettbewerb um Energieressourcen und Rohstoffe verschärft, zu relevanten Akteuren geworden. Die ökonomischen und politischen Machtpotenziale scheinen sich von West nach Ost zu verschieben (Kaplinsky 2006).
Dieser Trend könnte die Tiefenstrukturen der internationalen Politik verändern und einen Umbruch von der heute noch quasi-unilateralen zu einer multipolaren Weltordnung einleiten (Humphrey/Messner 2006). Viel wird von den zukünftigen Beziehungen zwischen den USA, China und Indien abhängen. Entsteht hier eine konfliktive Machtrivalität zwischen den alten und den neuen Großmächten, die sich in weltpolitische Turbulenzen und Instabilitäten übersetzt, oder erhöhen der Aufstieg der asiatischen Akteure sowie die ökonomischen Interdependenzen zwischen den wichtigsten Spielern der internationalen Politik den Druck, die multilateralen Strukturen an die neuen Herausforderungen anzupassen?
Auch Europa steht in diesem Prozess vor wesentlichen Weichenstellungen. Erstens müssen die europäischen Akteure ihre Beziehungen zu den USA sowie China und Indien unter den Bedingungen sich global verschiebender Machtkonstellationen neu austarieren. Zweitens sind die europäischen Nationalstaaten gegenüber den USA, China und Indien nur kleine und mittlere Akteure mit sehr begrenzten Machtressourcen. Ob Europa Mitte des 21. Jahrhunderts am Rand oder im Zentrum der Weltpolitik steht, entscheidet sich an der Fähigkeit der europäischen Regierungen, eine gemeinsame Außenpolitik tatsächlich durchzusetzen.



Literatur

• Hippler, Jochen 2006: Der Irak zwischen Dauerkrise, Bürgerkrieg und Stabilisierung, in: Reinhard Mutz/Bruno Schoch/ Corinna Hauswedell/Jochen Hippler/ Ulrich Ratsch (Hg.): Friedensgutachten 2006, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), u. a. Münster, S. 121-130.
• Hippler, Jochen 2005: Freiheitsbegriff, »Krieg gegen den Terror« und Menschenrechte in der Außenpolitik der Bush-Administration, in: Jahrbuch Menschenrechte 2006, Frankfurt/M. S. 130-137.
• Hippler, Jochen 2003: US-Dominanz und Unilateralismus im internationalen System - Strategische Probleme und Grenzen von Global Governance, in: Jochen Hippler/Jeanette Schade, US-Unilateralismus als Problem von internationaler Politik und Global Governance, INEF-Report 70, Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Duisburg.
• Humphrey, John/Dirk Messner 2006: China and India as emerging global governance actors, in: IDS Bulletin, Vol. 37, Nr. i, 5.107-115.
• Kaplinsky, Raphael (Hg.) 2006: Asian Drivers: Opportunities & Threats, IDS Bulletin, special issue, Vol. 37, Nr. 1, S. 1-114.

 

in: Globale Trends 2006 - Fakten, Analysen, Prognosen,
hrsg. von Tobias Debiel, Dirk Messner, Franz Nuscheler für die Stiftung Entwicklung und Frieden, Frankfurt  2006, S. 39-43

 

weitere Texte zu Gewaltkonflikten, Friedens- und Sicherheitspolitik hier


 

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