Balken Qom
endCapL endCapR

Jochen Hippler

Vom Krieg zum Bürgerkrieg im Irak?
Probleme, Lehren und Perspektiven des Wiederaufbaus




Die irakische Gesellschaft war bei Kriegsende mehrfach traumatisiert und geschwächt. Das Land befand sich seit über zwanzig Jahren praktisch in dauerhaftem Kriegszustand. Der wirtschaftliche Wiederaufbau nach den Kriegen von 1980-88 (Iran-Irak) und 1991 (um Kuwait) war in den gesamten 1990er Jahren durch die UNO-Wirtschaftssanktionen unmöglich, die Infrastruktur verfiel zusätzlich. In dieser Ausgangslage erfolgte der Irakkrieg von 2003, der die Macht der Diktatur Saddam Husseins brach und ein militärisches Besatzungsregime errichtete. Mehr als zwei Jahrzehnte der Kriege und der Auszehrung hatten den Irak von einem relativ wohlhabenden Ölstaat mit guter Infrastruktur zu einem verarmten Land werden lassen.
Ein weiterer zentraler Aspekt der Situation im Jahr 2002/2003 bestand darüber hinaus in der politischen Traumatisierung. Dreieinhalb Jahrzehnte einer brutalen Diktatur hatten die irakische Gesellschaft so geschwächt, dass sie ein bloßes Objekt der staatlichen Macht war. Jede Form von unabhängiger oder oppositioneller Meinung war nur im Exil möglich - im Inland bedeutete sie langjährige Haft, Folter und Ermordung. Einem übermächtigen, diktatorisch verfassten Staatsapparat stand eine demoralisierte, individualisierte, traumatisierte, passive und eingeschüchterte Gesellschaft gegenüber, die sich fast nur noch um die Sicherung des täglichen Lebens kümmern konnte.

Der dritte wichtige Aspekt der Ausgangslage des Wiederaufbaus im Irak bestand in der Vorbereitung der US-Regierung darauf, bzw. im Mangel an entsprechenden Konzepten und Plänen in den USA. So sorgfältig und erfolgreich der Krieg gegen den Irak vorbereitet worden war, so oberflächlich, lückenhaft, unzureichend und dilettantisch blieben die Nachkriegs- und Wiederaufbaupläne. Dies lag zum Teil an unzureichenden seriösen Informationen über die innenpolitischen Voraussetzungen und einem Vertrauen auf die Propaganda von zweifelhaften und zum Teil selbst finanzierten Gruppen von Exilirakern, zum Teil an schweren Fehleinschätzungen, zum Teil an Streitigkeiten zwischen dem US-Verteidigungs- und Außenministerium.(1) Die Planung hatte sich vor allem auf die Zerschlagung der Machtstrukturen der Diktatur, insbesondere die Auflösung der Streitkräfte, und die Reaktion auf humanitäre Notlagen sowie die sehr schnelle Einsetzung einer von den USA kontrollierten irakischen Regierung konzentriert. Demgegenüber wurden die interne Sicherheitslage, der Aufbau der Infrastruktur und der Sozialsysteme, die Etablierung einer funktionierenden Wirtschaft sowie die Einführung eines neuen, halbwegs demokratischen politischen Systems vollkommen vernachlässigt. Als genau diese Fragen sich dann als entscheidend erwiesen, verfügten die US-Streitkräfte und die Zivilverwaltung kaum über andere Optionen als die der Improvisation und des Experimentierens.


Die zentralen Aufgaben des Wiederaufbaus
Die wichtigsten Aufgaben des Wiederaufbaus (2) können kurz so zusammengefasst werden:

    *      die Gewährleistung von Sicherheit, nicht allein für die zuerst kaum gefährdeten eigenen Truppen, sondern vor allem für die irakische Bevölkerung, die sofort von den umfangreichen Plünderungen und ausufernder Gewaltkriminalität betroffen war;
    *      die Wiederherstellung von im Krieg zerstörter Infrastruktur und daran anknüpfend die Gewährleistung einer Grundversorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser, Abwasserentsorgung, Elektrizität, medizinischen Diensten und ähnlichem;
    *      die Etablierung einer funktionierenden Volkswirtschaft, die bereits vor dem Krieg in Trümmern gelegen hatte. Diese Aufgabe ging über die Beseitigung der Kriegsschäden weit hinaus, und beinhaltete nicht allein technische Maßnahmen, wie beispielsweise die gründliche Instandsetzung und Modernisierung der Ölindustrie und die Reparatur lange verfallener Fabriken, sondern auch wirtschaftliche Reformen und Strukturveränderungen sowie die Überwindung von Unterbeschäftigung und Massenarbeitslosigkeit, die mittelfristig über die Bereitschaft der Bevölkerung mitentscheiden würden, sich am Aufbau eines US-dominierten Irak zu beteiligen;
    *      Maßnahmen zur Verhinderung einer Entfremdung der verschiedenen ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen voneinander, die sonst potenziell zu Gewalt führen könnte;
    *      der schrittweise Aufbau eines neuen, demokratischen politischen Systems, das sowohl Stabilität als auch eine Partizipation der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gewährleisten könnte. Dies musste den Wiederaufbau eines funktionierenden Staatsapparates einbeziehen.

Dieses Bündel von Aufgaben war höchst anspruchsvoll und ging über ein kurzfristiges Notfall-Management weit hinaus. Es beinhaltete nicht allein kurzfristige Wiederaufbaumaßnahmen, sondern vieles, das man unter dem Begriff „Nation-Building“ zusammenfassen könnte – ein Konzept, dem die Bush- Administration ideologisch deutlich ablehnend gegenüberstand.(3) Deshalb dürfte die Vernachlässigung solcher Fragen nicht allein an innerbürokratischen Streitigkeiten, sondern auch an falschen politischen Prioritäten und ideologischen Scheuklappen gelegen haben. Diese umfassende, und Nation-Building einbeziehende Aufgabenstellung im Nachkriegsirak war keine willkürlich definierte, sondern eine funktional unabweisbare: Ohne eine Sicherung der menschlichen Grundbedürfnisse - und eines darüber hinausgehenden Lebensstandards sowie einer funktionierenden Volkswirtschaft - würden die Sympathien der irakischen Bevölkerung weder für die Besatzungstruppen oder die Zivilverwaltung noch für eine einzusetzende irakische Regierung gewonnen werden können. Denn diese erwartete nach dem Sturz Saddam Husseins eine schnelle und drastische Verbesserung ihrer unzumutbaren Lebensbedingungen. Demnach würde eine Enttäuschung dieser Erwartungen politisch hohe Kosten verursachen. Ähnliches galt für die Aufgabe, dem Auseinanderleben der verschiedenen ethno-religiösen Gruppen vorzubeugen und ein integratives und partizipatives politisches System zu errichten. Bei einer Vernachlässigung dieser Aufgabe würde nicht allein die Kontrolle des Irak durch die USA schwierig oder fragwürdig werden, sondern das Land potenziell zerfallen und damit zu einem Herd der Instabilität im Nahen und Mittleren Osten werden. Dies wäre allerdings das denkbar schlechteste Szenario für die irakische Nachkriegsentwicklung.

Die Ausgangslage des technischen, wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbaus war also höchst komplex und schwierig. Allerdings gab es auch ermutigende Ansatzpunkte: Der größte Teil der Bevölkerung stand der Eroberung ihres Landes durch die USund verbündeten Truppen insgesamt ambivalent gegenüber. Die kurdische Bevölkerung begrüßte sie fast einhellig, da man eine amerikanische Präsenz als Schutz gegen die Türkei und den Iran, mittelfristig aber auch gegen eine zukünftige irakische Regierung betrachtete. Die schiitische und in etwas geringerem Teil auch die sunnitische arabische Bevölkerung (sowie die kleineren Minderheiten) begrüßten den Sturz Saddam Hussein nachdrücklich, da alle diese Bevölkerungsteile in unterschiedlichem Maße brutaler Repression ausgesetzt waren. Zugleich allerdings bestand von Anfang an ein unterschwelliges Misstrauen gegenüber den USA und anderen Besatzungstruppen. So glaubte fast niemand im Irak, dass die USA den Krieg aus uneigennützigen Gründen geführt hatten, etwa wegen der angeblichen Massenvernichtungswaffen oder zur Einführung einer Demokratie. Praktisch alle Bevölkerungsgruppen unterstellten den USA das primäre Interesse einer Kontrolle des Irak aus selbstsüchtigen Gründen, insbesondere ein Interesse an den irakischen Ölvorkommen. Eine Kritik am völkerrechtswidrigen Charakter des Krieges fehlte dagegen völlig, da die Erleichterung über den Sturz der Diktatur dies völlig aufwog. In den ersten Monaten nach dem Krieg bestand – mit Ausnahme der kurdischen Siedlungsgebiete – also eine widersprüchliche Stimmungslage: Einerseits Freude und Dankbarkeit wegen des Sturzes Saddam Husseins, zugleich latentes Misstrauen gegenüber den USA. Allerdings hätte sich diese Ambivalenz bei einem infrastrukturell, wirtschaftlich und politisch erfolgreichen Wiederaufbau durchaus zu breiter Unterstützung ausbauen lassen.
 

Grundlegende Probleme des Wiederaufbaus
Die dramatische Sicherheitslage direkt nach Kriegsende bildete das erste Problem der Besatzungszeit. Das beträchtliche Ausmaß an Plünderungen und Gewaltkriminalität, die sofort auf den Einmarsch der US-Truppen folgten, schufen ein tiefes Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung. Dies führte zu einem ersten Vertrauensverlust in die US-Besatzung. Als die Besatzungstruppen sich weigerten, selbst Krankenhäuser und Museen vor Plünderung zu schützen, wurde das als Symbol des Desinteresses der Besatzer an der irakischen Bevölkerung und Gesellschaft wahrgenommen. Einer der Gründe für dieses Verhalten lag darin, dass die US-Army kaum Militärpolizisten mitgebracht hatte und die normalen Kampftruppen für solche polizeilichen Aufgaben nicht ausgebildet waren.

Ein weiterer Rückschlag erfolgte beim Wiederaufbau der Infrastruktur. Die irakische Bevölkerung erwartete, dass die grundlegende Infrastruktur nach dem Krieg sehr schnell wiederhergestellt würde. Man hatte nach dem Golfkrieg von 1991 erlebt, wie die irakische Regierung ohne ausländische Hilfe und bei geringen Mitteln mit großem Nachdruck und beträchtlichem Improvisationstalent innerhalb weniger Wochen erstaunliche Erfolge beim Wiederaufbau erzielt hatte. Die amerikanischen Truppen und ihre Techniker würden die Infrastruktur sicher schneller und besser instand setzen als die Saddam-Diktatur. Solche Erwartungen wurden gründlich enttäuscht. Selbst Monate nach Kriegsende kamen Reparatur und Instandsetzung der wichtigsten Infrastruktur nur sehr schleppend voran. Die Wasserversorgung und das Telekommunikationssystem blieben prekär; selbst die entscheidende Stromversorgung funktionierte weiterhin nur höchst unzureichend. Noch zu Jahresbeginn 2005 gab es über längere Zeiträume selbst in den reicheren Wohnvierteln der Hauptstadt nur zwei bis drei Stunden Strom pro Tag – ein dramatisches Scheitern des Wiederaufbaus, denn die unzureichende Stromversorgung ist in einem Land wie dem Irak keine Nebensache. Ohne Strom funktionieren keine Wasser- und Abwasserpumpen, keine Maschinen, keine Kühlschränke und Ventilatoren (bei Spitzentemperaturen im Sommer von über 50 Grad Celsius), keine Straßenlaternen (bei einer in der Dunkelheit extrem angespannten Sicherheitslage), keine Wohnungsbeleuchtung.(4) Und in einem so ölreichen Land wie dem Irak führten Nachrichten, dass manche Autofahrer bis zu 12 Stunden an Tankstellen auf etwas Benzin warten mussten, zu verständlicher Unzufriedenheit. An so relativ einfachen Dingen so spektakulär zu scheitern, erwies sich als politisch folgenschwer. Die Lebensbedingungen der irakischen Bevölkerung blieben katastrophal und verschlechterten sich zum Teil noch. Dadurch wurde ihr Vertrauen in die US-Behörden schwer erschüttert und der Verdacht verstärkt, dass es diesen gar nicht um die irakische Gesellschaft ging, sondern nur um deren Kontrolle. Daraus erklärt sich, dass mit Ausnahme der kurdischen Siedlungsgebiete die anfängliche Ambivalenz der Stimmung in eine breite Ablehnung der US-Streitkräfte und der amerikanischen Politik umschlug. Einer der zahlreichen Gründe für den schleppenden materiellen Wiederaufbau – neben etwa der schwierigen Sicherheitslage, die Bauprojekte erschwert – lag im höchst langsamen Abfluss der zur Verfügung stehenden Gelder. Noch im Oktober 2004 waren von den durch den US-Kongress beschlossenen 24,1 erst 5,2 Milliarden Dollar ausgegeben. (5) Bis zum Zeitpunkt der Amtseinführung der provisorischen irakischen Regierung zur Jahresmitte 2004 waren weniger als 140 von versprochenen 2300 Aufbauprojekten begonnen worden.(6)

Die wachsende Unzufriedenheit und zunehmende Feindseligkeit gegenüber den USA trugen dazu bei, dass die zuerst einzelnen Akte gewaltsamen Widerstandes sich ausweiteten und an Tiefe und Breite gewannen. Handelte es sich zuerst um versprengte Gruppen von Angehörigen des alten Regimes und aus dem Ausland eingesickerte terroristische Kämpfer mit islamistischem Hintergrund, so gewannen gewaltsame Widerstandsakte zunehmend eine soziale Basis in Teilen der Bevölkerung. Dies galt vor allem für sunnitische Araber. Selbst bei den Schiiten, die besonders unter der Saddam-Diktatur gelitten hatten, entstand ein ähnliches Potenzial, auch wenn sich dieses nur punktuell und zeitweise (etwa durch die Bewegung Muqtada Sadrs) auf der Handlungsebene niederschlug. Der Grund für das prinzipiell geringere Gewaltniveau in den schiitischen Bevölkerungskreisen war allerdings eher trivial. Im Unterschied zu den arabischen Sunniten konnten sich diese durch die immer wieder geforderten frühen Wahlen aufgrund ihrer demografischen Stärke die Machtübernahme auf friedlichem Wege versprechen. Systematischer Widerstand hätte diesen einfachen Weg zur Macht eher gefährdet denn gefördert, er wäre also kontraproduktiv gewesen. Bei den sunnitischen Arabern gab es diesen Anreiz zur Gewaltlosigkeit nicht.

Der gewaltsame Widerstand im Irak ist recht heterogen. Er umfasst weiterhin Teile des alten Regimes, auch wenn sich diese – soweit erkennbar – von der ohnehin diskreditierten Ideologie der Baath-Partei und dem Bezug auf die Person Saddam Husseins schrittweise gelöst zu haben und statt dessen eine ideologische Mischung aus Nationalismus und religiösen Elementen zu favorisieren scheinen. Zweitens gab es tatsächlich ein Einsickern religiöser Fanatiker aus der Szene des internationalen Terrorismus mit islamischem Hintergrund. Aus Teilen der arabischen Bevölkerung hatte sich zusätzlich ein Segment herausgebildet, das auch zu bewaffnetem Widerstand gegen die fremden Truppen und ihre irakischen Partner bereit war, wenn auch der Grad an Organisation oder Spontaneität stark variierte. Zugleich verlief der Aufbau irakischer Sicherheitskräfte nicht befriedigend. Zwar gab es Ende 2004 rund 136 000 Soldaten und Polizisten (davon knapp 80 000 Polizisten), aber nur 40 000 davon waren umfassend einsatzfähig, nach anderen Schätzungen sogar nur halb so viele. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht jeder gewaltsame Widerstand terroristischen Charakters ist. Wenn auch in der wissenschaftlichen Debatte nach wie vor kein Konsens über eine Definition des Terrorismusbegriffs besteht,(7) so fokussieren die wichtigen seriösen Definitionen doch auf Terrorismus als Akte politischer Gewalt, die gegen Nicht- Kombattanten verübt werden. Anschläge bewaffneter Kräfte (auch mit unkonventionellen Mitteln) gegen Besatzungstruppen oder andere bewaffnete Streitkräfte innerhalb eines Krieges, Bürgerkrieges oder ähnlicher Auseinandersetzungen sind damit zwar Gewaltakte, aber keine Terrorakte. Dahingegen erfüllen Anschläge gegen Zivilisten, beispielsweise Passanten, Restaurants, Moscheen oder Busse das Kriterium des Terrorismus. Betroffene Streitkräfte (zum Beispiel Israel in Palästina, die Sowjetunion in Afghanistan, die Wehrmacht in Jugoslawien oder der Ukraine, die USA im Irak) wenden den Terrorismusbegriff zwar auch auf Angriffe auf sich selbst an, was aber allein politische Hintergründe hat. In diesem Sinne gibt es im Irak sowohl bewaffneten Widerstand unkonventioneller Art als auch Terrorismus. Beide Phänomene sollten allerdings begrifflich getrennt werden. Dies ist umso dringender als die Tätergruppen sich oft auch unterscheiden.

Die US-Streitkräfte haben Mühe, auf die Bedrohung durch Gewaltakte angemessen zu reagieren. Sie sehen sich dabei objektiven und kaum vermeidbaren Schwierigkeiten gegenüber. Einerseits müssen sich US- (und irakische) Soldaten hochgradig bedroht fühlen, auch durch möglicherweise harmlose Passanten, hinter denen sich ja potenzielle Selbstmordattentäter verbergen können. Dies hält sie auf Distanz zur Zivilbevölkerung und verleitet sie zu eher robusten oder gar brutalen Umgangsformen. Durch derlei Verhaltensweisen wird allerdings ihr Ansehen in der Bevölkerung geschwächt und deren Kooperationsbereitschaft nimmt weiter ab. Beides ist aber für eine Verbesserung der Sicherheitslage zentral, und letztlich wichtiger als Details der Ausrüstung, Bewaffnung oder Truppenstärke.

Andererseits haben die US-Streitkräfte in bestimmten Schlüsselregionen oder Städten mit solcher Härte und gelegentlich Brutalität auf Sicherheitsbedrohungen reagiert, dass sie große Teile der Zivilbevölkerung dem Widerstand geradezu in die Arme trieben. Hier bestehen deutliche Unterschiede im Verhalten zu den britischen und anderen Streitkräften, die oft wesentlich behutsamer und überlegter vorgehen. So wurden etwa beim Vorgehen in Fallujah oder Ramadi und anderen Teilen des „sunnitischen Dreiecks“ immer wieder ganze Stadtviertel in Schutt und Asche gelegt. Darüber hinaus kam es in Fallujah zur Flucht praktisch der gesamten Bevölkerung und ganz beträchtlichen Zerstörungen. Solche Ereignisse haben nicht nur Sunniten gegen die fremden Streitkräfte und die sie unterstützenden irakischen Kräfte aufgebracht. Derlei destruktive Vorgehensweisen wurden – wie auch die Fälle von Gefangenenmissbrauch und Folter in Abu Ghraib(8) – zu Symbolen einer überharten Besatzungspolitik, die viele frühe Chancen einer Befriedung durch erfolgreichen Wiederaufbau verspielte.


Zukunftsprobleme des Wiederaufbaus
Die aktuellen Probleme des Wiederaufbaus liegen insbesondere in drei Schlüsselbereichen. Einmal müssen die Versäumnisse der beiden letzten Jahre dringend nachgeholt werden. Dies betrifft insbesondere den Wiederaufbau der Infrastruktur und einer funktionierenden Volkswirtschaft, um endlich die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu erleichtern und so die Voraussetzungen für eine kooperative und friedlichere Zukunftsentwicklung zu gewährleisten. Die Kader des Widerstandes und noch weniger die eingesickerten Terroristen kämpfen nicht vorrangig wegen der schwierigen Lebenslage der Bevölkerung, sondern aus allgemeineren politischen oder ideologischen Gründen. Aber ihre Wirkungsfähigkeit innerhalb der irakischen Gesellschaft hängt davon ab, ob die Bevölkerung mit ihnen sympathisiert oder sie zumindest toleriert. Ohne Unterstützung vor Ort wären solche Akteure zwar ein Störfaktor, aber kein wirkliches politisches Problem. Und die Sicht breiter Teile der Bevölkerung auf die Widerstands- und Terroristengruppen hängt nicht zuletzt davon ab, ob sie ihre Zukunft mit Hoffnung oder Aussichtslosigkeit betrachtet, und wie ihre Lebensumstände sind. Werden diese nicht schnell und nachhaltig verbessert, könnten die Gewaltakte einzelner Bevölkerungskreise zu einem noch breiteren politischen Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit werden – und sich damit sicherheitspolitischen Problemlösungen entziehen. Diese Aufgabe, die sich auch auf die Gewährleistung von persönlicher Sicherheit für die Zivilbevölkerung erstreckt, ist heute weit schwerer zu lösen als direkt nach dem Ende des Krieges. Sie bleibt aber nach wie vor entscheidend.

Es stellt sich zweitens die Aufgabe, einige Konfliktpotenziale zwischen den ethno-religiösen Gruppen zu entschärfen, damit das bereits bestehende Gewaltniveau nicht durch weitere Gewaltkonflikte verschärft wird und letztlich die staatliche Existenz des Irak bedroht. Kurz- und mittelfristig gilt dies vor allem in zwei Bereichen. Zum einen hat sich in den letzten Jahren innerhalb der kurdischen Bevölkerung und Politik eine starke Tendenz zum Streben nach staatlicher Unabhängigkeit herausgebildet. Sie ist nicht unverständlich, und letztlich aufgrund des Prinzips der Selbstbestimmung nicht leicht abweisbar, kann aber die territoriale Integrität des Irak bedrohen. Deshalb ist eine konzeptionelle Antwort der irakischen Innenpolitik und der internationalen Gemeinschaft erforderlich, wenn man nicht schnell in eine Sackgasse (etwa vergleichbar der im Kosovo) hineingeraten möchte. Gegenwärtig verzichten die Spitzen der kurdischen Parteien KDP und PUK noch auf eine öffentliche Artikulation von Unabhängigkeitsforderungen. Diese sind mittlerweile aber innerhalb der Parteien und der ganzen kurdischen Gemeinschaft weit verbreitet. Noch bleibt die kurdische Führung dabei, weitreichende Forderungen für die Sicherung der kurdischen Position innerhalb des Iraks zu stellen. Sollten diese jedoch nicht weitgehend erfüllt werden, dürfte die Option der staatlichen Unabhängigkeit massiv gestärkt werden. Gegenwärtig stellen die Stadt und Region Kirkuk (außerhalb der bisherigen Autonomiezone) die Schlüsselprobleme in dieser Beziehung dar. Seit Mitte der 1970er-Jahre (und in geringerem Maße sogar bereits seit den 1930er-Jahren) hatte die irakische Regierung eine teilweise aggressive Arabisierung Kirkuks betrieben, in der in den 70er- und 80er- Jahren vielleicht 250 000, in den 1990er-Jahren noch einmal zusätzlich etwa halb so viele Kurden aus Kirkuk vertrieben wurden.(9) An ihrer Stelle wurden dort mit finanziellen und anderen Anreizen arabische Familien angesiedelt. Viele vertriebene Kurden und die kurdischen Parteien verlangen nun das Rückgängigmachen dieser Vertreibungen. Dahingegen weigern sich arabische Familien, die bereits seit zwanzig oder dreißig Jahren in oder um Kirkuk (zum Teil in ehemals kurdischen Häusern) leben, ihre neue Heimat aufzugeben. Zugleich gibt es in der Stadt und direkten Umgebung Konflikte zwischen kurdischen und turkmenischen Bevölkerungsteilen, da viele Turkmenen inzwischen fürchten, eine Kurdisierung der Stadt werde an Stelle der früheren Arabisierung treten.

Darüber hinaus besitzt Kirkuk eine hohe wirtschaftliche Bedeutung, weil dort etwa ein Drittel des irakischen Öls gefördert wird. Deshalb ist Kirkuk für die irakische Zentralregierung und zugleich für die kurdischen Parteien von Bedeutung, die mit Hilfe des dortigen Ölreichtums sowohl ihren Einfluss im Irak stärken, als auch eine wirtschaftliche Grundlage für kurdische Unabhängigkeit sichern könnten. Eine Lösung des Problems von Kirkuk und eine politische Antwort auf das kurdischen Unabhängigkeitsstreben sind deshalb eng verknüpft.

Ein politisch erfolgreicher Wiederaufbau des Irak setzt drittens die Re-Integration der sunnitischen Araber ins politische System voraus. Die sunnitische Elite (nicht „die“ Sunniten) hat den Irak seit der Unabhängigkeit beherrscht und sieht sich jetzt einer Situation gegenüber, in der sie politisch an den Rand gedrängt wird. Während die Kurden über eine feste Kontrolle dreier Provinzen, zwei starke und gut organisierte Parteien sowie eigene Streitkräfte (die Peshmerga) verfügen, die schiitischen Araber nicht nur über die klare Mehrheit der Bevölkerung und funktionierende religiös und säkular geprägte Parteien, sind die sunnitischen Araber beziehungsweise arabischen Sunniten schwach, gespalten und ohne wirksame Führung. Zugleich sind sie durch den Machtverlust traumatisiert und durch die in ihren Regionen harte Besatzungspolitik getroffen. Die geringe Beteiligung sunnitischer Araber aufgrund eines Wahlboykotts und der schwierigen Sicherheitslage sowie das daraus resultierende Wahlergebnis spiegeln diese Situation wider. Zusätzlich haben sie sich seit Kriegsende nicht selten einer informellen Koalition säkularer kurdischer und religiöser schiitischer Parteien gegenübergesehen, gegen die sie keine Durchsetzungschance hatten. Ein funktionierender, einigermaßen demokratischer Irak wird allerdings nicht ohne oder gegen die sunnitischen Araber aufzubauen sein. Innerhalb dieser Gruppe herrscht gegenwärtig politische Verwirrung, Verbitterung, Feindseligkeit gegenüber dem politischen Prozess und Lähmung, sowie ein erkennbares radikales Potenzial. Eine der Schlüsselaufgaben beim politischen Wiederaufbau liegt deshalb darin, die früher so mächtige Gruppe der sunnitischen Araber wieder in das politische System zu reintegrieren, was ohne politische Angebote und Anreize nicht funktionieren kann. Ob die schiitischen und kurdischen Parteien und die internationale Gemeinschaft Wege finden werden, um den Sunniten aus der Sackgasse zu helfen, und diese dann in der Lage sein werden, ihre Handlungsunfähigkeit, Traumatisierung und Randständigkeit zu überwinden, ist eine offene Frage. Eine vierte Aufgabe ist es, nicht allein zwischen den ethno-religiösen Gruppen, sondern auch in ihnen selbst für kooperative und friedliche Bedingungen zu sorgen. Die beiden kurdischen Parteien führten Mitte der 1990er-Jahre einen blutigen Bürgerkrieg gegeneinander, dem etwa 10 000 Menschen zum Opfer fielen und durch den weitere 100 000 vertrieben wurden. Dieser Konflikt ist inzwischen beigelegt, und die kurdischen Parteien treten nun mit großer Geschlossenheit auf. Allerdings sieht es bei den sunnitischen und schiitischen Arabern weniger erfreulich aus. Zwar ist in den nächsten Monaten nicht mit dem Ausbruch ernsthafter Gewaltaktionen innerhalb dieser Gruppen zu rechnen, auf Dauer können sie aber nicht ausgeschlossen werden. Es ist zumindest denkbar, dass sich in beiden Bevölkerungsgruppen mittelund längerfristig die bereits vorhandenen Machtkonkurrenzen verschärfen und zu Brüchen in den gegenwärtigen Allianzen führen. Die sunnitische Politik ist bereits fragmentiert und verfügt über einen gewaltbereiten Flügel, der sich eben nicht allein auf ausländische Extremisten begrenzt. Und die große schiitisch geführte Wahlallianz mag zwar die Wahl gewonnen haben, ist aber so heterogen, dass man einen dauernden Zusammenhalt nicht einfach unterstellen darf. Ein Auseinanderbrechen ist durchaus möglich – was noch nicht zu Gewaltaktionen führen muss, sie aber wahrscheinlicher werden lässt.

Der Kampf um die Macht im schiitischen Lager ist aufgrund der demographischen Verhältnisse in Zukunft auch der Kampf um die Macht (oder ihren größten Teil) im Irak, was auch einen Anreiz für den Einsatz radikaler Mittel darstellt. Dies birgt die Gefahr, dass sich die gegenwärtig noch mit mäßigem Nachdruck vertretenen Differenzen zwischen den verschiedenen religiösen Strömungen sowie zwischen diesen und den säkularen Tendenzen verschärfen könnten. Denn es handelt sich dabei um den Rohstoff, mit dem Demagogen Bevölkerungsteile für sich und gegeneinander mobilisieren.


Fazit
Die Zukunft des Irak hängt vom materiellen, politischen und gesellschaftlichen Wiederaufbau ab. Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen der erfolgreichen Etablierung eines funktionierenden Staatsapparates, der Prävention potentieller Gewaltkonflikte innerhalb und zwischen ethno-religiöser Gruppen, sowie der Gewinnung der Bevölkerung für das politische Projekt, indem ihre Lebenssituation und Zukunftsaussichten verbessert werden. Alle diese Schlüsselfaktoren hängen inzwischen aber von einer Verbesserung der Sicherheitslage ab, die sich ihrerseits durch die sträfliche Vernachlässigung der materiellen und politischen Aspekte des Wiederaufbaus in den beiden letzten Jahren massiv verschärft hat. Wegen dieser komplexen Situation ist die zukünftige Entwicklung im Irak weiter offen: Weder eine mittelfristige Normalisierung, noch ein Abgleiten in eine Eskalation der Gewalt können heute ausgeschlossen werden.

 


Anmerkungen

1. Ausführlich hierzu: Jochen Hippler, Militärische Besatzung als Schöpfungsakt – Nation-Building im Irak, in: Jochen Hippler (Hrsg.), Nation-Building – ein sinnvolles Instrument der Konfliktbearbeitung?, Bonn 2004, S. 121-140; hier: S. 131ff; und: Jochen Hippler, Der Weg in den Krieg – Washingtons Außenpolitik und der Irak, in: Friedensgutachten 2003, hrsg. von Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Ulrich Rasch, Christoph Weller, Münster 2003, S. 89-98.

2.  Vgl. Papier des US General Accounting Office vom 15. Mai 2003: Rebuilding Iraq, 12 Anhänge, Washington, GAO-03-792R-Rebuilding Iraq.

3.  Dazu: Jochen Hippler, Gewaltkonflikte, Konfliktprävention und Nationenbildung – Hintergründe eines politischen Konzepts, in: derselbe (Hrsg.), Nation-Building – ein sinnvolles Instrument der Konfliktbearbeitung?, Bonn 2004, S. 14-30.

4.  Für eine offizielle und propagandistisch geprägte Sicht des ersten Jahrs des Wiederaufbaus durch die US-Behörden siehe: US Agency for International Development, A Year in Iraq – Restoring Services, Washington, May 2004; eine kritische Bilanz ist: Phyllis Bennis u.a., A Failed „Transition“: The Mounting Costs of the Iraq War, A Study by the Institute for Policy Studies and Foreign Policy in Focus, Washington, September 30, 2004.

5.  Jonathan Weisman, US Spends Only Small Part of Funds to Help Rebuild Iraq, in: Washington Post, November 1, 2004, p. A17.

6.  James Glanz/Erik Eckholm, Reality Intrudes on Promises in Rebuilding of Iraq, in: New York Times, June 30, 2004.

7.  dazu z.B. Walter Laqueur, Krieg dem Westen - Terrorismus im 21. Jahrhundert, Berlin 2004, S. 346-354

8.  Seymour M. Hersh, Die Befehlskette – Vom 11. September bis Abu Ghraib, Hamburg 2004, S. 19-95.

9.  Human Rights Watch, Claims in Conflict – Reversing Ethnic Cleansing in Northern Iraq, New York, August 2004, S. 7ff.

 


Quelle:
Jochen Hippler
Vom Krieg zum Bürgerkrieg im Irak? - Probleme, Lehren und Perspektiven des Wiederaufbaus,
in: Streitkräfteamt der Bundeswehr, Reader Sicherheitspolitik, Ergänzungslieferung 04/2005, Nr. III/1 A, S. 194-200
 

weitere Texte zum Irak hier


 

[ Home ]    [ zur Person ]    [ Bücher ]    [ Aufsätze ]    [ Texts in English ]    [ Fotos ]    [ Blog ]