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Jochen Hippler

Umbruch im Nahen Osten und Nordafrika -
Zwischen Demokratisierung und Bürgerkrieg

 

Zur Jahreswende 2010/2011 begann in Nordafrika und dem Nahen Osten ein beispielloser Umbruch der politischen Verhältnisse, der noch kurz zuvor von fast allen Beobachtern für unmöglich gehalten worden wäre. Aufgrund spontaner und breiter Massenproteste stürzten bereits im Januar 2011 der langjährige tunesische Diktator Ben Ali, im Februar mußte auch der seit fast 30 Jahren regierende ägyptische Präsident Mubarak zurücktreten. Die Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel steckte schnell die gesamte Region an, und in dem meisten Ländern von Marokko bis zum Irak kam es zu Demonstrationen. Die Aufbruchsstimmung und Dynamik politischer Veränderung wurde als "Arabischer Frühling" oder "Arabellion" bezeichnet. Seit dem März 2011 zeigte sich allerdings, daß in einigen Ländern der Wandel weder so schnell noch so - relativ - gewaltfrei erfolgen würde.

Die Umbrüche im Nahen und Mittleren Osten stellen einen Gesamtprozeß dar, der die Region seit der Jahreswende 2010/2011 grundlegend umgestaltet. In einigen Ländern standen vor allem anti-diktatorische Forderungen im Zentrum, obwohl auch sozialpolitische und der Kampf gegen Korruption und Machtmißbrauch eine Rolle spielten. Anderswo - etwa im Irak - dominierte das Bedürfnis nach einer Verbesserung der Lebensverhältnisse und nach einer sauberen Regierungsführung. Die Mobilisierung und die Reaktionen der Regierungen folgen deshalb unterschiedlichen, länderspezifischen Entwicklungspfaden: In Marokko, Jordanien und punktuell in einigen anderen Ländern gibt es begrenzte und kontrollierte Reformangebote von Oben, die die jeweiligen politischen Systeme teilweise öffnen sollen, ohne sie zu gefährden. In den ölreichen Ländern südlich des Persischen Golfes folgt man einer Politik, den politischen Wandel besonders gering zu halten, indem man wirtschafts- und sozialpolitische Wohltaten an die Bevölkerung verteilt, und dies, wo nötig, mit punktueller Repression kombiniert. Die dritte Ländergruppe besteht aus Tunesien und Ägypten, wo nach dem Sturz der langjährigen Diktaturen der politische Kampf um die Neuverteilung der Macht und den Aufbau neuer politischer Systeme erst begonnen hat. Unter anderen Bedingungen gilt dies auch für den Yemen, wo der langjährige Präsident Saleh zwar zurücktrat, aber zumindest für eine Übergangszeit sein ewiger Vizepräsident an seine Stelle trat und viele Verwandte und Freunde des Ex-Präsidenten noch in Schlüsselpositionen verbleiben. Ob die bevorstehenden Machtkämpfe friedlich zu bewältigen sein werden oder doch noch zu einem offenen Bürgerkrieg führen, ist gegenwärtig offen. Die vierte Kategorie besteht aus Ländern, in denen sich der Wandel in gewaltsamen Formen von bewaffneten Aufständen oder Bürgerkriegen vollzieht. Es ist offensichtlich, daß diese Kategorien nicht trennscharf sind und es Überschneidungen gibt.

In der gesamten Region herrschte bereits seit Jahren kein Mangel an Gründen zu Opposition, zu Widerstand und Revolte. Von den bevölkerungsarmen und ölreichen Ländern auf der Südseite des Persischen Golfes abgesehen litt - und leidet - der größte Teil der Region unter ernsten wirtschaftlichen und sozialpolitischen Problemen, die sich durch ein hohes Maß an Armut und hohe Arbeitslosigkeit ausdrücken. Daneben sind eine chronische Schwäche sozialer Infrastruktur (also etwa sozialer Sicherungssysteme oder des Gesundheitswesens) zu verzeichnen. Solche Defizite verbinden sich mit krassen Mängeln der Governance-Systeme, etwa außer Kontrolle geratene Korruption und Vetternwirtschaft, Repression und ein Klima der Einschüchterung, Mangel an Partizipations- und politischen Artikulationsmöglichkeiten. All dies wurde an anderer Stelle behandelt und sollte spätestens seit einem einschlägigen Bericht der UNO-Entwicklungshilfebehörde von 2005 bekannt gewesen sein. Dazu kamen emotionale, schwerer zu belegende Faktoren: Ein verbreitetes Gefühl der Verletzung der eigenen Würde durch arrogante, räuberische und zugleich unfähige politische und sozialen Eliten und Bürokratien, die ihre eigenen Bürger entweder ignorierten, oder fast demonstrativ als bedeutungslos behandelten. Die Regierungen und ihre administrativen Apparate wurden von großen Teilen der Gesellschaften zunehmend nicht als Mittel der Lösung, sondern als Kernpunkt aller Probleme betrachtet. Daß gerade in Tunesien und Ägypten die Diktatoren meist auch noch als Werkzeuge ausländischer (französischer bzw. amerikanischer) Interessen begriffen wurden, machte es nicht besser. Insgesamt herrschte und herrscht in der Region ein Problemstau, dessen Lösung durch Reformen von Oben oder Druck von Unten jahrelang durch staatliche Repression und Inflexibilität, durch Entmutigung politischer Opposition und ihren insgesamt geringen Organisationsgrad, und durch Faktoren wie den Palästinakonflikt, die US-Besetzung des Irak und den islamisch geprägten Terrorismus sowie den "Krieg gegen den Terrorismus" verhindert wurde. Letztere schufen eine Empfindung äußerer Bedrohung, die den Spielraum interner Reformkräfte einschränkte.

In diesem Beitrag sollen zuerst die beiden Fälle eines schnellen Sturzes der langjährigen Diktaturen Ben Ali und Mubarak, danach Libyen und Syrien als Bürgerkriegsländer behandelt werden, um abschließend die Gesamtregion in den Blick zu nehmen.

 

Der schnelle Sturz zweier Diktatoren

Nicht der hohe Grad der Unzufriedenheit, das breite Bedürfnis nach grundlegender Veränderung und der einsetzende Wandel waren zu Beginn des Jahres 2011 überraschend, sondern nur der konkrete Zeitpunkt der Mobilisierung, ihre Geschwindigkeit und zum Teil ihre Formen. Der zuerst spontane Charakter und lockere Organisationsgrad der Massendemonstrationen erschwerten eine rasche und wirksame repressive Antwort der Regierungen, sie erwiesen sich später aber auch als Problem der neu entstehenden Oppositionsbewegungen. Letztlich bestand deren Stärke weniger in der eigenen Kraft, sondern in der völligen Delegitimierung der tunesischen und ägyptischen Regime. Da hier nicht der Ort ist, die Umbrüche im Detail nachzuzeichnen, sollen nur einige zentrale Merkmale aufgezählt werden.

Der Sturz der Diktatoren erfolgte in beiden Fällen nicht aufgrund der Massenmobilisierung selbst und direkt, sondern durch Staatsstreiche des Militärs, die allerdings unter dem Druck der Demonstrationen erfolgten. Die Demonstranten selbst stellten keine Machtalternative zu den Regimen dar, drängen die Streitkräfte allerdings in eine Position, in der sie einen Putsch für notwendig hielten. Jenseits dieser Gemeinsamkeit sollten die Unterschiede der Rolle des Militärs in Tunesien und Ägypten nicht übersehen werden. Während das tunesische Militär sich schnell und direkt auf die Seite der Massenproteste stellte und diese sogar gewaltsam gegen die brutale Gewalt kleiner, regimetreuer Repressionsorgane verteidigte, trug das Eingreifen des ägyptischen Militärs eher taktischen Charakter. Ihm ging es primär darum, für sich selbst und Teile des alten Regimes noch zu retten, was zu retten war. Im Eigeninteresse sollte die Lage schnell stabilisiert werden, wozu die Person des Präsidenten geopfert werden mußte. Während das tunesische Militär nach dem Schutz der Bevölkerung und dem Bruch mit dem Kern des Regimes den zügigen Übergang zu zivilen Machtverhältnissen akzeptierte, zielten ihre ägyptischen Kollegen auf die dauerhafte Sicherung der eigenen Macht über den Staatsapparat - und jede Beschneidung der politischen Rolle des Militärs mußte diesem erst durch weitere Mobilisierung und politischen Druck abgetrotzt werden.

Die Mobilisierung zum Sturz der beiden Diktatoren überschritt die überkommenen Grenzlinien zwischen den säkularen und religiösen Strömungen, zwischen den Parteien und zwischen den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Es handelte sich weder um eine „islamische Revolution“, wie die iranische Führung dies proklamiert hatte, noch um eine reine Mittelschichtsbewegung, sondern die Mobilisierung bezog große Teil der Bevölkerung ein. Dies bedeutete nicht, daß die Interessen und Identitäten der unterschiedlichen Gruppen und Organisationen verschwunden oder bedeutungslos geworden wären, aber daß diese doch zeitweilig hinter die Gemeinsamkeit des Kampfes gegen die Diktatur zurücktraten. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang die wichtige Rolle kleiner, überwiegend aus der Mittelschicht stammender und liberaler Gruppen und Netzwerke, die insbesondere in der Anfangsphase eine wichtige auslösende Rolle spielten.

Im Verlauf der Entwicklung verschoben sich in beiden Fällen die Kräfteverhältnisse zwischen den unterschiedlichen oppositionellen Akteuren. Zu Beginn der Demonstrationen spielten vor allem kleine, säkulare und lose vernetzte Gruppen junger Leute eine wichtige Rolle, während insbesondere in Ägypten die islamistische Bewegung zögerlich reagierte. Allerdings gab es auch bei den Muslimbrüdern zahlreiche jüngere Mitglieder und Sympathisanten, die sich den Protesten sehr schnell anschlossen - dies allerdings auf eigene Initiative. Als bald Zehntausende von Demonstranten auf dem Tahir-Platz zusammenkamen, schlossen sich die Muslimbruderschaft und andere islamistische Gruppen den Protesten an und stellten ihre beträchtlichen organisatorischen Kapazitäten in deren Dienst - woraufhin sich die Größe der Demonstrationen mehr als verzehnfachte. Allerdings konnte nicht davon die Rede sein, daß die Muslimbruderschaft die Protestbewegung geführt oder dominiert hätte. Nach dem Sturz Präsident Mubaraks begannen sich die Kräfteverhältnisse zu verschieben, was durch die Ergebnisse der Parlamentswahlen manifestiert wurde. Das von den Muslimbrüdern geführte Wahlbündnis erhielt rund 37 Prozent der Stimmen, das salafistische Bündnis rund 10 Prozent weniger. Die im weitesten Sinne liberalen Parteien mußten sich mit insgesamt rund 17,5 Prozent der Stimmen zufrieden geben, die verschiedenen kleinen Abspaltungen der früheren Regierungspartei bekamen zusammen etwa 7 Prozent. Das Ergebnis der Muslimbrüder war in dieser Größenordnung erwartet worden, aber die Schwäche der Liberalen und die Stärke der Salafisten überraschten. Damit verfügten die islamistischen Kräfte über eine klare Mehrheit im neuen Parlament, wenn die deutliche Konkurrenz der beiden großen religiösen Strömungen eine engere Zusammenarbeit bisher auch auszuschließen scheint. Die Muslimbrüder betrieben vor und nach den Wahlen gegenüber dem herrschenden Militärrat eine geschickte Politik, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Phasen massiven Drucks kombinierte. Insgesamt gerieten die liberalen und säkularen Kräfte deutlich in die Defensive – sowohl gegenüber dem herrschenden Militärrat, der durch juristisches Vorgehen gegen ausländische Stiftungen und NGOs klar machte, daß er deren Unterstützung nicht zu tolerieren gewillt war, als auch gegenüber der islamistischen Bewegung, die sich in den Wahlen klar durchgesetzt hatte. Festzuhalten bleibt allerdings trotz gegenteiliger Tendenzen, daß die Grenzlinie zwischen den Kräften des Wandels und der Beharrung nicht zwischen den säkularen und religiösen Strömungen verlief oder verläuft, sondern daß das Maß demokratischer Reformbereitschaft innerhalb beider umstritten bleibt.

 

Die Bürgerkriege in Libyen und Syrien

Nach den schnellen und erfolgreichen Machtwechseln in Tunesien und Ägypten und den darauf folgenden Mobilisierungen in anderen arabischen Ländern wuchsen die Erwartungen, daß bald weitere Regime stürzen würden. Der Begriff „Arabischer Frühling“ drückte diese Erwartung eines weiteren, stürmischen regionalen Wandels aus. Allerdings erlitt diese Hoffnung bereits sehr früh einen Rückschlag, als es nach ersten Demonstrationen in Libyen im März 2011 fast sofort zum Bürgerkrieg kam. Die ersten Monate seines Verlaufes scheinen andere Regime der Region davon überzeugt zu haben, daß trotz breiter Protestbewegungen durch entschlossene und konsequente Repression und den Einsatz militärischer Mittel eine Verteidigung der eigenen Macht möglich sei. Das zuerst unschlüssige Königshaus in Bahrain rief zu diesem Zwecke im März das Militär aus Saudi Arabien und den Arabischen Emiraten zu Hilfe, um die Demonstranten niederzuschlagen und die Bewegung zu brechen. Und als es ab März in Syrien zuerst vereinzelten, dann immer breiteren Protesten gegen die Regierung kam, beschritt diese sofort den Weg gewaltsamer Unterdrückung.

Die Bürgerkriege in Libyen und Syrien weisen neben einigen Parallelen auch beträchtliche Unterschiede auf. Zu diesen gehört der Tatbestand, daß die zuerst friedlichen Proteste in Libyen sehr schnell in eine gewaltsame Konfrontation zwischen Regierung und Aufständischen umschlugen, während die Gewalt in Syrien lange einseitig vom Regime gegen unbewaffnete Demonstranten ausgeübt wurde und sich durch Deserteure eher langsam ein gewaltsamer Wiederstand entwickelte. Die Gewalt der Diktatur führte erst nach vielen Eskalationsschritten zu einem Bürgerkrieg zwischen dem Regime und Aufständischen.

Im regionalen Kontext stellte Libyen einen Sonderfall dar, da dort die Proteste fast sofort in einen gewaltsamen Aufstand und Bürgerkrieg umschlugen. Dies lag an folgenden Faktoren: Einmal war die libysche Gesellschaft – und nicht nur der Staatsapparat - schon vor dem beginnenden Gewaltkonflikt bewaffnet, wenn auch in weit geringerem Maße als das Regime. Sturmgewehre und Handfeuerwaffen waren in großen Teilen der Bevölkerung weit verbreitet, aber auch schwereres Material bis hin zu Raketenwerfern verfügbar. Diese Waffen waren auch während des Gaddafi-Regimes immer wieder in innergesellschaftlichen Konflikten eingesetzt worden, insbesondere bei Kämpfen zwischen konkurrierenden Stämmen. Diese bildeten zugleich organisatorische Netzwerke, die zwar mit dem Regime interagierten, teilweise mit ihm eng verknüpft waren, aber doch politisch-soziale Akteure aus eigenem Recht blieben. Als dann die friedlichen Demonstrationen durch Gaddafi-Loyalisten und staatliche Repressionsorgane gewaltsam angegriffen und beschossen wurden, standen sie der Repression nicht – wie in Ägypten und zuerst in Syrien – wehrlos gegenüber, sondern verfügten über eigene Waffen und staatlich nicht zu kontrollierende Kommunikations- und Loyalitätsnetzwerke. Deshalb waren gewaltsamer Widerstand und Bürgerkrieg in Libyen von Anfang an realistische Optionen, die in anderen Ländern nicht bestanden (Ägypten) oder erst über einen längeren Zeitraum schrittweise hergestellt wurden (Syrien). Allgemeiner ausgedrückt: In den meisten Ländern der Region erforderte ein gewaltsamer Aufstand oder Bürgerkrieg die Spaltung, Fragmentierung oder zumindest teilweise Auflösung (Deserteure) der staatlichen Repressionsorgane, um so das (nicht mehr legitime) Gewaltmonopol des Staates zu brechen – in Libyen (und in noch deutlich geringerem Maße im Yemen) – bestand dieses Gewaltmonopol ohnehin nur sehr eingeschränkt: Dort waren sowohl der Staat als auch die Gesellschaft in unterschiedlichem Ausmaß bewaffnet.

Weiter kompliziert wurde die Situation in Libyen dadurch, daß hier nicht allein ein Kampf um die Macht im Staat oder um einen anderen Staat im Gange war – bereits dies zwei sehr unterschiedliche Angelegenheiten, sondern zugleich einer der Machtumverteilung zwischen Stämmen, Regionen und Städten. Gegenwärtig spricht vieles dafür, daß der Sieg der NATO und der von ihnen unterstützten Aufständischen über das Gaddafi-Regime nicht zu einem demokratischen Staatswesen führen wird, sondern zur Fragmentierung der Gesellschaft und gewaltsamen Machtkämpfen zwischen zahlreichen Stämmen und Milizen. Dabei geht es nicht um politische Konflikte entlang einer Trennlinie pro oder contra Gaddafi, sondern um den Austrag von Partikularinteressen – etwa der Konkurrenz zwischen den Städten Benghasi, Misurata und Tripolis, der von manchen Stämmen (wie Walfallah oder Hutman Sulaiman), oder von regionalen Milizen, die sich nicht entwaffnen lassen wollen, um ihre neue Macht nicht zu verlieren. Auch ethnische Minderheiten (etwa Berber oder Tabu) und religiöse Extremisten gehören zu diesen Gewaltakteuren.

In Syrien verlief die Gewaltdynamik deutlich anders, wenn auch mit inzwischen mindestens ebenso destruktiven Ergebnissen. Was zuerst als friedlicher, lokaler Protest begann, wurde in Syrien von Anfang an durch das Regime repressiv und blutig bekämpft. Da die syrische Bevölkerung im Gegensatz zum größten Teil der libyschen allerdings unbewaffnet war und bis heute ist, nahm die Gewalt zuerst nicht die Form eines Bürgerkrieges, sondern die staatlicher Repression bis zu Massakern an. Die Demonstranten waren zu größeren Aktionen der Gegengewalt nicht in der Lage, da der Staat tatsächlich über ein faktisches Gewaltmonopol verfügte. Auch die früheren Bürgerkriegserfahrungen in den Nachbarländern Libanon und Irak wirkte zuerst dämpfend. Erst durch die zunehmenden Desertationen aufgrund der Gewalt gegen Zivilisten entstand nach und nach ein Potential der Gegengewalt, des Bürgerkriegs und der gewaltsamen Übergriffe von Aufständischen. Seit dem Jahresbeginn 2012 hat sich die Lage in Syrien dramatisch zugespitzt: Einmal nahm das Niveau staatlicher Gewalt beträchtlich zu, bis hin zum andauernden Artilleriebeschuß gegen Wohnbezirke von Städten wie Homs. Zweitens hat sich der Charakter des Konflikts als Folge der Gewalteskalation schrittweise geändert: Zwar war in der Mobilisierung gegen die Diktatur aufgrund der wichtigen Rolle von Alawiten im Regime immer zumindest implizit eine konfessionelle Dimension präsent, diese trat aber im Laufe der Entwicklung immer stärker hervor. Konnte man zu Beginn noch von Protesten der Gesellschaft gegen das säkulare Regime als ihren Hauptcharakteristikum sprechen, wenn auch mit konfessionellen Untertönen, traten letztere immer mehr in den Vordergrund. Es kam zunehmend auch zu Gewalt zwischen den konfessionellen Gruppen, insbesondere zwischen sunnitischen Bevölkerungsgruppen einerseits und alawitischen und christlichen andererseits. Einiges deutet darauf hin, daß das Regime solche Tendenzen bewußt provozierte oder förderte, indem es etwa selbst gezielt sunnitische Stadtviertel angriff und zerstörte, aber die der anderen Gruppen verschonte oder sogar schützte. Der Effekt dieser partiellen Konfessionalisierung bestand darin, daß die Alawiten und Christen zum großen Teil das Regime aktiv oder zumindest passiv unterstützten, da sie es aufgrund der Gewalteskalation als das kleinere Übel im Vergleich zu einer sunnitischen Machtübernahme betrachten. Die syrische Konfliktdynamik beruht inzwischen auf einer mehrfachen Verhärtung. Die Radikalität der staatlichen Gewalt hatte drei Folgen: (a) die zunehmende Unmöglichkeit einer politischen Verständigung oder eines Kompromisses zwischen Regime und Opposition; (b) die Erschwerung eines Ausscherens von Teilen der Machtelite und deren Zusammenarbeit mit der Opposition, da die gemeinsam mit dem Kern des Regimes begangenen Verbrechen dies kaum noch zulassen; (c) eine Radikalisierung der Opposition und die Verschiebung der Perspektive hin zum gewaltsamen Widerstand, die alle Wege zum friedlichen Wandel verschlossen sind. Zum letzten Aspekt gehört auch die Stärkung eines sunnitischen religiösen Radikalismus in Abgrenzung zum gewalttätigen, als säkular-alawitisch wahrgenommenen Regime. Inzwischen kommt es auch zunehmend zu Menschenrechtsverletzungen durch Aufständische. Angesichts dieser Verhärtungstendenzen ist es bemerkenswert, in welchem Maße trotz der exzessiven staatlichen Gewalt und der Radikalisierung und Zersplitterung großer Teile der Opposition pragmatische und überkonfessionelle Kräfte weiterhin durch zivilen Widerstand und humanitäre Maßnahmen eine wichtige Rolle spielen.

Während wir in Libyen also eher eine Fragmentierung der Gesellschaft anhand sehr unterschiedlicher tribaler, regionaler, lokaler, ethnischer und religiöser Bruchlinien beobachten können, deutet in Syrien gegenwärtig mehr auf eine Tendenz zur Spaltung der Gesellschaft in konfessionelle Blöcke hin, die allerdings selbst politisch keinesfalls homogen sind. Auch deshalb sind Opposition und Widerstand bisher heterogen und kaum gemeinsam handlungsfähig.

 

Die Rolle der Machteliten

Ein zentraler Faktor der Umwälzungen besteht in allen Ländern im Grad der Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der politischen Eliten. Selbst noch so breite Massenmobilisierungen allein führen nicht aus sich heraus zu anderen Machtverhältnissen, solange die herrschenden Regime einig sind und die Kontrolle über ihre Repressionsapparate behalten. Wenn die Staatsapparate über das faktische Gewaltmonopol in ihren Gesellschaften verfügen, nimmt der Regimezusammenhalt eine zentrale Stellung ein. Massendemonstrationen können Druck auf ein Regime ausüben und unter bestimmten Voraussetzungen Teile des Machtapparates dazu bewegen, eigene Interessen auf Kosten anderer Regimekräfte zu verfolgen. Wenn relevante Teile der politischen Führung oder der Repressionsorgane den Eindruck gewinnen, das Regime verfüge nur noch über begrenzte Überlebenschancen, kann es für diese zu einer attraktiveren Option werden, Teile der eigenen Macht oder wirtschaftlichen Ressourcen in die Zeit nach dem Umsturz hinüberzuretten, anstatt diesen vergeblich verhindern zu wollen. Eine solche Entwicklung kann eine Eigendynamik entfalten, die die Macht des Regimes untergräbt und der Opposition neue politische Spielräume eröffnet. Wenn eine solche Spaltung des Regimes nicht erfolgt, bleibt die weniger erfolgversprechende Option, die Repressionskräfte von unten zu schwächen oder auszuhöhlen. Dies bedeutet im Kontext eines staatlichen Gewaltmonopols, die unteren und mittleren Kader der bewaffneten Einheiten politisch zu demoralisieren, Überläufer aus dem Militär, der Polizei und - seltener - den Geheimdiensten zu rekrutieren und schrittweise zu militärischer Gegenmacht zu organisieren. Eine solche Entwicklung kann den Druck auf das Regime erhöhen und so evtl. doch noch eine Fragmentierung bewirken - sonst bleibt nur die Alternative zwischen einem Totlaufen der Mobilisierung (wie im Iran 2009) und einem Bürgerkrieg (Syrien).
 

Veränderungen der islamistischen Bewegungen

Ein zweiter zentraler Aspekt der Umgestaltungen besteht in einer sich verändernden Rolle des Politischen Islam. Hier lassen sich gegenwärtig widersprüchliche Tendenzen beobachten. In der ersten Phase des Arabischen Frühlings, also beim Sturz der Diktaturen in Tunesien und Ägypten, erlitten extremistische und insbesondere gewalttätige islamistische Strömungen eine politische Niederlage, die ihre ohnehin zu beobachtenden Schwächung verstärkte. Die wochenlange Sprachlosigkeit von al-Qaida angesichts der Regierungsstürze in Tunis und Kairo stellte ein Symptom dieses Effekts dar. Islamistische Terrorgruppen mußten erleben, daß sich einerseits die politische Agenda im Nahen und Mittleren Osten vom Widerstand gegen westliche Interessen im Rahmen eines extremistischen religiösen Projektes zu einem Kampf für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verschob, und daß Terrorismus in diesem Zusammenhang weder eine Rolle spielte noch einen Platz hatte. Dies stellte die Praxis und die Legitimationsgrundlage der islamistischen Terrorgruppen massiv in Frage, die sich bis dahin aus dem Kampf gegen westliche Truppen im Irak und in Afghanistan und dem Widerstand gegen die eigenen Diktatoren legitimiert hatten.

Zweitens allerdings öffnete der Arabische Frühling den gewaltlosen islamistischen Gruppen die Tür zur Partizipation am politischen Prozeß, die ihnen vorher durch die Diktaturen verstellt worden war - und sogar die Chance, im Zuge von Demokratisierung und Wahlen friedlich an die Macht zu kommen oder wesentlich an ihr zu partizipieren. Da zuvor eine Radikalisierung der islamistischen Bewegung häufig durch ihre Exklusion aus dem politischen Prozeß und oft brutale Unterdrückung und Verfolgung forciert worden war, wurde nun die Option gestärkt, daß sich der arabische Islamismus langfristig in Richtung auf eine "türkische Entwicklung" des Islamismus bewegen würde. In Tunesien, wo eine solche Entwicklung bereits zuvor begonnen hatte, war diese Tendenz besonders ausgeprägt, aber auch bei den ägyptischen Muslimbrüdern ist eine solche längerfristig durchaus wahrscheinlich. Sie dürfte allerdings kaum ohne Brüche und Rückschläge erfolgen, und der Wahlerfolg der Salafisten demonstrierte, daß hier auch Gegenbewegungen am Werke sind. Aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen wird sie auch andere Formen annehmen und anders verlaufen müssen als in der Türkei.

Auf der anderen Seite lassen sich inzwischen auch Tendenzen beobachten, die auf eine erneute Stärkung extremistischer und gewaltsamer Islamisten hindeuten. Diese ergeben sich aus den Bürgerkriegen in Libyen und Syrien, aber auch aus einem schleichenden Kontrollverlust der yemenitischen Regierung. Sobald nämlich die Regime in Tripolis und Damaskus mit massiver Gewalt gegen friedfertige Demonstranten reagierten, und insbesondere nachdem in Libyen der Machtkampf zwischen zahlreichen Akteursgruppen um die Hinterlassenschaft des Gaddafi-Regime begann und in Syrien ein Bürgerkrieg an die Stelle friedlicher Demonstrationen trat, stellt sich die Gewaltfrage neu. Wenn diktatorische Regime nicht friedlich von der Macht verdrängt werden können, da sie mit systematischer Gewalt und Massakern gegen Zivilisten vorgehen, kann es einerseits zu einer politischen Radikalisierung kommen, zugleich aber Gegengewalt bis hin zum Bürgerkrieg unvermeidlich erscheinen. In einem so veränderten Kontext können dann auch extremistische Gruppen mit Erfahrung in gewaltsamen Auseinandersetzungen als nützlich und legitim wahrgenommen werden. Verschiebt sich also der Kampf vom politischen Protest und politischer Mobilisierung hin zu gewaltsamen und militärischen Auseinandersetzungen, gewinnen extremistische Gewaltakteure auch islamistischen Zuschnitts wieder an Legitimität. Dies läßt sich insbesondere in Syrien beobachten, wo nach Auskunft des Stellvertretenden irakischen Innenministers seit den ersten Monaten 2012 al-Qaida Kämpfer und andere Jihadisten aus dem Irak einsickern, um am Aufstand gegen Assad teilzunehmen. Damit korrespondiert eine Entwicklung in Syrien selbst, bei der aufgrund der partiellen Konfessionalisierung der Gewalt der sunnitische Radikalismus zunimmt - ohne den die ausländischen Jihadisten keine soziale Basis im Land fänden.

Die Frage, welchen Weg der Nahe und Mittleren Osten einschlagen wird, dürfte zu einem großen Teil von der Entwicklung des Islamismus abhängen - und dies wiederum von der Intensität und Dauer der Gewaltkonflikte einerseits, und dem Erfolg der Entwicklungen in Tunesien, Ägypten und Ländern wie in Marokko und Jordanien andererseits. Sollte der Islamismus in einigen Schlüsselländern durch seinen wachsenden Einfluß und die Übernahme politischer Verantwortung demokratiekompatibel werden und dem Weg der türkischen AKP folgen, ergäben sich neue Perspektiven der Stabilisierung und Demokratisierung der Region - wenn auch unter kulturell konservativen Vorzeichen. Bei einer zunehmend gewaltsamen Entwicklung in Libyen und dem Yemen und einem längeren Bürgerkrieg in Syrien besteht die Gefahr, daß der in die Krise geratene islamische Extremismus und seine gewaltsamen Spielarten eine neue Blüte erleben, die regional destabilisierend wirkt.

 

Regionale Veränderungen

Damit rückt die regionale Perspektive der gegenwärtigen Umbrüche ins Blickfeld. Hierbei verdienen folgende Aspekte besondere Aufmerksamkeit: Einmal ist bereits heute erkennbar, daß die Entwicklung in Libyen nach dem Sturz Gaddafis regional destabilisierend wirkt. Im benachbarten Mali nutzen aufständische Tuareg libysche Waffen zu einem Aufstand im Norden des Landes, wo sie bereits mehrere Städte eroberten, einschließlich Timbuktu. Auch die terroristische Gruppe al-Qaida im Muslimischen Maghreb konnte sich durch Waffen aus Libyen und offensichtlich auch personell stärken. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf zunehmenden Waffenschmuggel von Libyen nach Ägypten, ein ernstes Warnzeichen für die regionale Stabilität.

Die regionalen Auswirkungen der Situation in Syrien sind vermutlich noch größer. Der gegenwärtige Bürgerkrieg wirkt destabilisierend in die Nachbarländer hinein. Aber auch ein Sturz der syrischen Diktatur und ein dann kaum vermeidbarer größerer Einfluß oder eine direkte Machtübernahme durch sunnitische Gruppen würde sich nicht unbedingt stabiliserend auf den Libanon und den Irak auswirken. Im Libanon geriete Hisbollah in eine schwierige Situation, die das diffizile innerlibanesische Gefüge aus dem Gleichgewicht bringen könnte - ein Grund, warum die Hisbollah weiterhin und im Gegensatz zur palästinensischen Hamas die säkulare Diktatur in Syrien unterstützt. Auch im Irak bestehen große Sorgen vor einem Umsturz in Syrien: Insbesondere die schiitischen und kurdischen Parteien betrachten das Assad-Regime weiterhin als das kleinere Übel gegenüber einer "sunnitischen" oder gar sunnitisch-islamistischen Machtübernahme. Eine solche könnte die irakischen Sunniten oder gar deren jihadistische Gruppen unterstützen, was angesichts der instabilen Lage und der zunehmenden Gewalt im Irak nach dem Abzug der US-Truppen weiter destabilisierend wirkte. Umgekehrt könnte sie auch nicht-sunnitische Kräfte im Irak zu einer verdeckten Einmischung in Syrien ermuntern. Diese Skepsis gegenüber einer sunnitischen Machtübernahme in Syrien führte dazu, daß die kurdischen Parteien im Irak auf die syrischen Kurden einwirkten, sich dem Aufstand gegen die Regierung in Damaskus nicht anzuschließen. Dieser Einfluß scheint in letzter Zeit allerdings abzunehmen.

Schließlich müssen die Entwicklungen in der Region, insbesondere bezogen auf Syrien, vor dem Hintergrund der iranischen Regionalpolitik und der Konkurrenz zwischen Saudi Arabien und dem Iran gesehen werden. Die innenpolitisch diskreditierte Regierung in Teheran verfügt außenpolitisch nur über einen eingeschränkten Kreis von Partnern und wird insbesondere von den meisten arabischen Nachbarn mit Mißtrauen betrachtet. Allerdings haben die gescheiterte Afghanistanintervention der NATO und insbesondere die Irakpolitik der USA unter George Bush die iranische Position relativ gestärkt: Der Iran verfügt heute über beträchtlichen Einfluß im Irak. Über seine enge Kooperation mit dem säkularen syrischen Regime stärkt sich seine regionale Position weiter und erleichtert die Zusammenarbeit mit der libanesischen Hisbollah. Die arabischen Staaten südlich des Persischen Golfs bemühen sich seit langem, den iranischen Einfluß zurückzudrängen, insbesondere Saudi Arabien, Qatar und die Arabischen Emirate. Ein Ansatzpunkt dieser Politik besteht in der Schwächung des syrischen Regimes, was gerade Saudi Arabien und Qatar durch politische Initiativen - etwa im Rahmen der Arabischen Liga - aber inzwischen offensichtlich auch durch geheime Waffenlieferungen an die syrischen Aufständischen betreiben. Andererseits deutet einiges darauf hin, daß der Iran umgekehrt durch personelle Hilfe und Beratung, möglicherweise auch durch Waffenlieferungen, die Regierung in Damaskus im Kampf gegen die Aufständischen unterstützt. In diesem Sinne stellt der syrische Bürgerkrieg auch einen Stellvertreterkonflikt um die regionale Vorherrschaft dar. Deshalb ist der syrische Bürgerkrieg regional von weit größerer Bedeutung, als es 2011 der libysche war.

 

Fazit und politische Schlußfolgerungen

Die Umbrüche im Nahen und Mittleren Osten, die Ende 2010 in Tunesien begannen, werden noch lange anhalten. In den meisten Ländern haben die Auseinandersetzung zur Überwindung der alten, verknöcherten Verhältnisse gerade erst begonnen. In einigen Ländern (Tunesien, Ägypten) wird die Entwicklung durch wirtschaftliche Probleme bedroht, die die Hoffnung vieler Menschen auf eine bessere Zukunft enttäuschen könnte. Damit wäre auch die politische Entwicklung ungewiss. In den Ländern, die sich um eine kontrollierte Reform von Oben bemühen (Marokko, Jordanien) ist noch unklar, ob dieser Weg gelingt, und ob diese Reformen auf Dauer eine grundlegende Umgestaltung der politischen Strukturen zum Ziel haben werden. Anderswo - etwa in Libyen und dem Yemen - gab es sehr unterschiedliche politische Veränderungen, aber eine stabile Entwicklung und demokratische Reformen sind durch die Gefahr einer gewaltsamen Fragmentierung in beiden Fällen bedroht. In Syrien sind die zukünftigen Ergebnisse des Bürgerkrieges noch überhaupt nicht abzuschätzen. Und in den ölreichen Staaten südlich des Persischen Golfes kam es (Saudi Arabien, Bahrain) zu Demonstrationen, die von den Behörden niedergeschlagen wurden - aber insgesamt sichert eine Mischung sozialpolitischen Entgegenkommens und der Drohung mit Gewalt noch die Stabilität. Ob diese aber von Dauer sein kann, ist nicht vorhersagbar.

Insgesamt ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, daß die Umbrüche in Nahen und Mittleren Osten zu einer Demokratisierung in der gesamten Region oder der meisten seiner Länder führen werden. Zwar besteht dort ein breites Bedürfnis nach Rechtsstaatlichkeit, mehr Transparenz des Regierungshandelns und größeren Partizipationsmöglichkeiten, das in den Mittelschichten besonders ausgeprägt ist. Aber in vielen Ländern sind die Gegenkräfte nicht zu unterschätzen. Dazu gehören alte Machtapparate und Seilschaften, die möglichst viel von ihrer Macht retten wollen; die ethnische, tribale oder konfessionelle Fragmentierung vieler Gesellschaften, die die Herausbildung staatsbürgerlicher Gleichheit erschwert; die autoritären oder partikularistischen Tendenzen in manchen politischen Strömungen säkularer wie islamistischer Ausprägung, auch bei denen, die auf einen politischen Wandel setzen; der immense sozialpolitische und wirtschaftliche Problemdruck, der leicht zur Enttäuschung mit den Veränderungen führen kann; und die Militarisierung und Gewaltförmigkeit der Umbrüche in einigen Ländern, die einem demokratischen Klima abträglich sind. Diese komplexe Gemengelage bietet antidemokratischen oder machtopportunistischen Kräften zahlreiche Ansatzpunkte, sich dem Druck in Richtung auf einen demokratischen Wandel zu wiedersetzen. Am wahrscheinlichsten dürfte deshalb nicht eine allgemeine Demokratisierung, sondern eine Pluralisierung der politischen Systeme sein: An die Stelle der politisch "monochromen" Diktaturen der Vergangenheit dürfte ein ganzes Spektrum politischer Regime mit unterschiedlichen Freiheits- und Demokratiegraden treten. Meist werden dabei autoritäre und demokratische Elemente in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen nebeneinender zu beobachten sein. So würden also nur in Ausnahmefällen lupenreine Demokratien entstehen, sondern unterschiedliche hybride Ordnungen, in denen autoritäre Strukturen von Ansätzen von Partizipation oder Rechtsstaatlichkeit durchbrochen werden. Das jeweilige Mischungsverhältnis wird durch politische und soziale Kämpfe ausgefochten, die bereits im Gange sind. Und die resultierenden Regime dürften dann vermutlich für eine oder zwei Generationen den neuen Rahmen darstellen, in dem die Auseinandersetzungen um mehr Demokratie ausgetragen werden. Deshalb stellen die aktuellen Umbrüche tatsächlich einen historischen Fortschritt dar: Sie werden wohl noch nicht direkt zu demokratischen Verhältnissen führen, aber sie bereiten den Boden dafür vor.

 

Die Einflußmöglichkeiten der westlichen Länder auf die regionale Entwicklung sind insgesamt begrenzt. Selbst der Einsatz kriegerischer Mittel garantiert keinen Erfolg: Im Irak und in Libyen konnten die taktischen Kriegsziele zwar schnell erreicht werden - der Sturz Saddam Husseins und Muammar Gaddafis - aber das Ergebnis bestand weder in Stabilität, noch in demokratischer Entwicklung oder dauerhafter westlicher Dominanz. Bei Einflußnahme unterhalb der Schwelle des Einsatzes militärischer Gewalt, etwa durch diplomatischen Druck, Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen oder Wirtschaftssanktionen, ist zwar die Gefahr einer zusätzlichen Destabilisierung geringer, aber die Wirkung unspezifischer und wenig zuverlässig. Letztlich geht es um die grundlegende Umgestaltung fremder Gesellschaften, und darauf bezogen sind die Einflußmöglichkeiten Dritter eher gering und die bisherigen Erfahrungen wenig ermutigend. Deshalb sollte die westliche Politik sich von überzogenen Zielvorstellungen hüten, sondern sich auf die Förderung günstiger Rahmenbedingungen, auf humanitäre Unterstützungsmaßnahmen, die Unterstützung positiver Reformentwicklungen und andere "weiche" Politikinstrumente konzentrieren - und insbesondere darauf, diktatorische und repressive Regime nicht noch durch wirtschaftliche oder militärische Unterstützung zu stabilisieren. Darüber hinaus sollten die westlichen Regierungen zwar die Interessen ihrer Länder in der Region vertreten, diese aber weniger hinter humanitären Rechtfertigungen verbergen. Die irakische Erfahrung aber auch nicht-militärische Formen der Einflußnahme - etwa die jahrzehntelange Unterstützung arabischer Diktatoren - haben demonstriert, daß imperiale Interessen und die Förderung demokratischer Stabilität sich gegenseitig blockieren können - und solche Blockaden neigen dazu, beides zum Scheitern zu bringen.

 

 

Anmerkungen (Fußnoten nur in der Druckfassung)

  • Stephan Rosiny, Ein Jahr „Arabischer Frühling“: Auslöser, Dynamiken und Perspektiven, GIGA-Fokus Nr. 12, Hamburg 2011
  • Jochen Hippler, Der Nahe und Mittlere Osten – Grundprobleme einer konfliktträchtigen Region, in: Jochen Hippler (Hrsg.) Von Marokko bis Afghanistan – Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten, Hamburg 2008, S. 11-27
  • United Nations Development Program (UNDP), Arab Human Development Report 2004, New York 2005, S. 126
  • Volker Perthes, Der Aufstand - Die arabische Revolution und ihre Folgen, München 2011, S. 13ff
  • Tarek Osman, Egypt on the brink. From the Rise of Nasser to the Fall of Mubarak;New Haven/London 2011, S. 213ff
  • Filiu, Jean-Pierre; The Arab Revolution. Ten lessons from the democratic uprising.;London (Hurst & Company) 2011, S. 91ff
  • Carter Center Election Witnessing Mission, Egypt 2011/2012 Parliamentary Elections, Preliminary Report on All Three Phases of the People's Assembly Elections, Jan. 24, 2012
  • Wolfram Lacher, Libyens Neuanfang - Herausforderungen des Übergangsprozesses, SWP-aktuell 1, Berlin, Januar 2012
  • Fawaz A. Gerges, The Rise and Fall of Al-Qaeda;New York 2011, S. 69
  • Shadi Hamid, Islamists and the Brotherhood: Political Islam and the Arab Spring, in: Kenneth M. Pollack, Daniel L. Byman, et al., The Arab Awakening - America and the Transformation of the Middle East, Brookings Institution, Washington 2011, S. 29-38
  • Jochen Hippler, Zum Zustand des Irak beim Abzug des US-amerikanischen Militärs, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik: Band 5, Heft 1 (2012), S. 61-71
  • Qatar crosses the Syrian Rubicon: £63m to buy weapons for the rebels, in: Guardian online, 1 March 2012; Saudi, Qatari plans to arm Syrian rebels risk overtaking cautious approach favored by U.S., in: Washington Post online, 2 March 2012
  • Jochen Hippler, Strategische Grundprobleme externer politischer und militärischer Intervention - Unter besonderer Berücksichtigung der Krisensituationen des Nahen und Mittleren Ostens, INEF-Report 103, Duisburg 2011

 

 

Quelle:

Jochen Hippler, Umbruch im Nahen Osten und Nordafrika - Zwischen Demokratisierung und Bürgerkrieg,
in: Bruno Schoch / Corinna Hauswedell / Janet Kursawe / Margret Johannsen (Hrsg.)
Friedensgutachten 2012, Münster 2012, S. 236-248

 

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