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Jochen Hippler


Surge, Aufstandsbekämpfung und Exit -

Die neue Afghanistan-Strategie der USA unter Präsident Obama
 

erweiterte Langfassung



Vorbemerkung.
Seit einigen Jahren wird in Deutschland von der Notwendigkeit eines "Gesamtkonzeptes" für Afghanistan und dem Erfordernis einer "neuen Afghanistanstrategie" gesprochen. Dies war 2009 verstärkt der Fall, als in Washington genau an einer solchen Strategie gearbeitet wurde. Die deutsche Debatte leidet allerdings an beträchtlicher Unklarheit und Verwirrung, da der Strategiebegriff mit großer Willkür höchst unterschiedlich gebraucht wird. Häufig wird er synonym mit "Politik" verwendet, immer wieder sogar mit "Taktik" verwechselt. Oft bedeutet Afghanistanstrategie kaum mehr, als einen bunten Bauchladen von löblichen aber widersprüchlichen Zielen oder Wünschen, gern auch angereichert um einzelne Politikinstrumente, Projekte und Programme. So läßt sich eine wirkliche Strategiedebatte allerdings nicht seriös führen. Wir können hier die Gründe für diese Sprachverwirrung nicht rekonstruieren, aber sie trägt zur völligen Unfähigkeit deutscher und europäischer Politik bei, Einfluß auf die US-Afghanistandebatte zu nehmen. Dort weiß die Obama-Administration im Unterschied zu ihrer Vorgängerregierung sehr genau, was Strategie von Taktik, der Frage der Truppenstärke oder operativen Erwägungen unterscheidet.
Der Begriff "Strategie" wird hier im Sinne eines Grundansatzes zur Erreichung der zentralen Politikziele gebraucht, wozu diese zuerst einmal präzise bestimmt werden und dann streng hierarchisiert werden müssen. Dann geht es darum, den entscheidenden Wirkungsansatz zu bestimmen, der das Ziel erreichen soll und kann, um danach die Politikinstrumente und Akteure konzeptionell so aufeinander abzustimmen, daß sie diesen Wirkungsansatz tatsächlich und möglichst optimal zur Geltung bringen. 
"Taktiken" sind dem streng unter- und nachgeordnet. Sie dienen der Erreichung konkreter Einzelziele oder Aufgaben, die allerdings im Dienste der übergeordneten Strategie stehen müssen, um überhaupt sinnvoll zu sein. Clausewitz erläuterte, allerdings allein auf den militärischen Bereich bezogen, daß Taktik die Kunst sei, Schlachten zu gewinnen - Strategie aber darin bestehe, die Schlachten so anzuordnen, daß sie auch zur Erreichung des eigentlichen Zieles führten, nämlich dem Sieg. Und wir wissen zur Genüge, daß man viele Schlachten gewinnen, einen Krieg aber trotzdem verlieren kann.
Wenn wir hier also von Afghanistanstrategie sprechen, ist damit nicht gemeint, was man in und mit Afghanistan alles anders, besser oder weniger schlecht machen könnte und sollte. Es geht auch nicht primär um die Frage, wie militärische Einheiten effizienter eingesetzt werden könnten oder ob eine Truppenverstärkung oder Verminderung sinnvoll oder geboten sei. Stattdessen fragen wir nach dem Grundansatz der US-Afghanistanpolitik insgesamt: Wie nämlich die Politikziele tatsächlich erreicht werden könnten und sollen. Genau über diese Frage - und ihre taktischen Folgerungen - wurde in Washington fast das ganze Jahr 2009 intensiv nachgedacht und gestritten.

Die Ausgangslage.
Der Krieg in Afghanistan - dessen Kriegscharakter in Washington von niemandem bezweifelt wird - dauert für die USA bereits deutlich länger als der Zweite Weltkrieg. Aber als Präsident Obama im März 2009 gefragt wurde, ob die USA dabei seien, ihn zu gewinnen, antwortete er mit einem einfachen "Nein". Bereits Anfang September 2008 hatte der britische Botschafter in Kabul seinem französischen Kollegen gegenüber erklärt, daß es zu einer Kooperation mit Washington keine Alternative gebe. Allerdings: "Wir müssen ihnen sagen, daß wir Teil einer erfolgreichen Strategie sein wollen, keiner scheiternden". Und zu Beginn der Amtszeit Obamas zitierte die Washington Post einen hochrangigen US-Militär mit den Worten "We have no strategic plan. We never had one." Es sei weiter unklar, "what the mission is".
Solche Einschätzungen reflektierten (a) eine zunehmende und dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage seit 2002/2003, (b) den schrittweisen Verlust der politischen Glaubwürdigkeit der von den ausländischen Kräften gestützten Regierung, (c) eine widersprüchliche, aufgeblähte und deshalb insgesamt unklare Bestimmung der Einsatzziele und (d) die schrittweise Entfremdung der ausländischen Truppen von wachsenden Teilen der afghanischen Bevölkerung. All dies erfolgte trotz einer Verstärkung der ausländischen Truppen von weniger als 400 beim Sturz der Taliban auf über 32.000 US-Soldaten (und noch einmal ebenso viele aus anderen Ländern) bis zum Amtsantritt Obamas. Sie führte allerdings weder zur politischen Stabilisierung Afghanistans noch zur Gewährleistung größerer Sicherheit.
Einige Indikatoren verdeutlichen die Entwicklung: Von 2002 bis 2007 stieg die Zahl gewaltsamer Vorfälle steil an: von monatlich 50 auf 566, nach Zahlen des US-Verteidigungsministeriums lagen die Anschlagszahlen fast doppelt so hoch. Anschläge durch improvisierte Sprengsätze und Bomben am Straßenrand stiegen in der gleichen Zeit von jährlich 22 auf 2615, die der Selbstmordanschläge von Null auf 160. Seitdem hat sich die Sicherheitslage weiter dramatisch verschlechtert. Der Chef des ISAF Nachrichtendienstes, Michael Flynn, erklärte Ende 2009, daß sich die Zahl der gewaltsamen Angriffe seit 2007 verdreifacht hat.
Der UNO-Generalsekretär faßte Ende 2009 die Sicherheitslage in Afghanistan so zusammen:
"The security situation in Afghanistan has worsened over the reporting period, with an average of 1,244 incidents per month in the third quarter of 2009. This represents a 65 per cent increase over the incidents in 2008. Armed clashes, improvised explosive devices and stand-off attacks constituted the majority of incidents. Improvised explosive device incidents were 60 per cent higher than in 2008."
Allerdings hat sich nicht nur die militärische- und Sicherheitslage krisenhaft zugespitzt, sondern auch das politische Umfeld. US-Außenministerin Clinton erklärte bei der Senatsanhörung zu ihrer Berufung, Afghanistan sei inzwischen zu einem "Narco-Staat" geworden. In Afghanistan selbst haben der Staatsapparat und die Regierung Karzai schrittweise an Legitimität verloren, wofür deren Schwäche, Inkompetenz und insbesondere die Korruption, sowie die starke Rolle berüchtigter Warlords verantwortlich sind. Die Fälschungen bei den letzten Präsidentschaftswahlen unterstrichen diese Probleme erneut.
Die neue US-Strategie entsprang aus zumindest drei Quellen: Einmal der angesprochenen Krise in Afghanistan; zweitens den politischen Präferenzen des neuen Präsidenten, wie er sie bereits im Wahlkampf formuliert hatte (Truppenabzug aus Irak, mehr Engagement und Truppen nach Afghanistan); und drittens den Diskussionen im US-Militär, das aufgrund ihrer Mißerfolge im Irak und in Afghanistan seit 2004 eine grundlegende Neukonzeptionierung ihrer Aufstandsbekämpfung vornahm.

Die militärischen Lehren aus Afghanistan und dem Irak unter Bush
Die US-Strategie für Afghanistan betonte in der ersten Jahren nach dem Sturz der Taliban das Prinzip eines light footprint, also eines begrenzten Engagements. Ihr Ziel bestand in der Aufspürung und militärischen Zerschlagung von Gruppen und Infrastruktur von al Qaida und der Taliban. Dabei bemühte man sich, die Zahl eigener Truppen in Grenzen zu halten, indem man sich auf einheimische Kräfte (Nordallianz, warlords, lokale Milizen) und die US-Luftwaffe stützte. Dieser Ansatz erbrachte trotz zahlreicher taktischer Erfolge keinen strategischen Durchbruch, da die Taliban nicht zerschlagen, sondern zunehmend stärker wurden. Das Scheitern bei den erklärten Zielen, Mullah Omar und Usama bin Ladin festzunehmen oder zu töten, unterstrich die Erfolglosigkeit dieser Politik. Die Gründe lagen einerseits in der hohen Priorität des Irakkrieges über den in Afghanistan ab dem Frühjahr 2003 (bzw. schon zuvor, da die Planung und Vorbereitung schon im September 2001 begannen), aber auch in den ideologischen Vorlieben der Bush-Administration, die "Nation-Building" grundsätzlich skeptisch betrachtete und die Aufgabe des Militärs allein im militärischen Bereich bzw. in Kampfeinsätzen sah. Ein Problem dieses Ansatzes bestand darin, daß er oft im Widerspruch zu anderen offiziell erklärten Zielen des Afghanistaneinsatzes stand, z.B. dem einer Unterstützung der neuen afghanischen Regierung, dem Aufbau eines neuen, demokratischen Staates oder der politischen Stabilisierung Afghanistans. Die Kooperation mit Gruppen lokaler und oft fragwürdiger Bewaffneter oder die bei häufigen Luftangriffen unvermeidlichen "Kollateralschäden" richteten politisch und strategisch mehr Schaden an, als sie an taktischem Nutzen erbrachten.
Diese Widersprüche führten zu strategischer Lähmung. Deshalb änderte sich trotz gegenteiliger Absichten der Bush-Administration der Charakter des Krieges grundlegend. In den Worten einer Studie des Congressional Research Service (CRS), der die US-Abgeordneten und Senatoren berät:
"Since 2001, the character of the war in Afghanistan has evolved from a violent struggle against al Qaeda and its Taliban supporters to a multi-faceted counterinsurgency (COIN) effort."
Aufgrund der entmutigenden Erfahrungen in Afghanistan und dem Irak entdeckten die US-Streitkräfte schrittweise die alte Einsicht neu, daß konventionelle militärischen Mittel (wie Luftangriffe und Bodenpatrouillen) allein wenig geeignet zur Bekämpfung von Aufständen sind. In beiden Ländern wurde deshalb zunehmend mit anderen, bevölkerungsbezogenen Militäransätzen experimentiert, wobei man auf frühere Konzepte (etwa der 1980er und 1960er Jahre) zurückgreifen konnte. Die Probleme in beiden Ländern und die dort gemachten Erfahrungen wurden in der US Army und dem US Marine Corps konzeptionell verarbeitet. Bereits 2004 faßte das US-Militär die Lehren in einem vorläufigen Feldhandbuch über Aufstandsbekämpfung (Interim Field Manual FMI 3-07.22) zusammen. Eine systematische Auswertung der Erfahrungen mündete im Dezember 2006 im neuen Field Manual 3-24 zu Counterinsurgency. Dieses Feldhandbuch wurde unter der Leitung von General Petraeus geschrieben, der kurz danach US-Oberkommandierender im Irak und schließlich Chef des US CENTCOM wurde. Es konzeptioniert Aufstandsbekämpfung als vor allem politische Auseinandersetzung, die nicht allein oder primär militärisch gewonnen werden kann. Letztlich müßten die Aufständischen von der Bevölkerung getrennt werden. Auf Dauer werde sich meist diejenige Konfliktseite durchsetzen, die die Loyalität der Bevölkerung erringt. Das militärische Feldhandbuch drückte den politischen Kern von Aufstandsbekämpfung mit großer Klarheit aus. Unter der Überschrift "Legitimacy is the main objective" finden sich etwa Formulierungen wie: "The primary objective of any COIN (Counterinsurgency/Aufstandsbekämpfung; JH) operation is to foster development of effective governance by a legitimate government. Counterinsurgents achieve this objective by the balanced application of both military and non-military means."
Solche Konzeptionselemente entsprangen keinen ideologischen Vorlieben, sondern setzten sich gegen die institutionelle Kultur des Militärs durch. Sie zogen auf pragmatische Weise die Schlußfolgerungen aus den neuen Erfahrungen. Im Irak wie in Afghanistan erwuchs aus ihnen die Erfordernis, durch die Bevölkerung nicht als Besatzungstruppe wahrgenommen zu werden. Gemeinsame Operationen mit afghanischen Einheiten, die insbesondere bei Kontakt mit der Bevölkerung in der ersten Reihe stehen sollen; "Civic Action", also zivile Maßnahmen der US-Truppen zur Demonstration ihres Nutzens für und der Verbundenheit mit der Bevölkerung; die Verminderung von "Kollateralschäden" unter der Bevölkerung etwa durch die Verminderung und stärkere Kontrolle von Luftangriffen und die möglichst rasche Übergabe möglichst vieler Aufgaben an afghanische/irakische Soldaten gehören zu den militärnahen Maßnahmen, die in beiden Ländern immer stärker implementiert wurden. Dazu kam zunehmend die Einsicht, daß der "Sieg" bei Aufstandsbekämpfung letztlich vom Erfolg ziviler Maßnahmen abhängt. Es sollte nicht länger darum gehen, in erster Linie Aufständische militärisch zu bekämpfen, da diese bei größeren Militäroperationen seit 2006 ohnehin gelernt hatten sich zu zerstreuen und ggf. unter die Bevölkerung zu mischen - um sich nach Ende der Operation neu zu formieren. Statt dessen besteht das Ziel militärischer - wie ziviler - Maßnahmen nun darin, die Aufständischen politisch, psychologisch, aber auch physisch von ihren Hilfsquellen abzuschneiden, die sich aus ihrem Kontakt zur Bevölkerung ergeben. All dies bedeutet natürlich keinen Verzicht auf militärische Kampfeinsätze. Wenn aufgrund taktischer Fehler der Aufständischen oder besonderer Bedingungen deren direkte militärische Bekämpfung möglich ist, wird sie selbstverständlich unter Einsatz aller verfügbaren militärischen Mittel auch durchgeführt. Auch zur "Säuberung" einer Region von Aufständischen wurde natürlich weiterhin Gewalt angewandt. Aber grundsätzlich soll der Einsatz militärischer Gewalt nicht das Hauptmittel des Kampfes gegen die Aufständischen darstellen, sondern ein Hilfsinstrument bei der Gewinnung der Bevölkerung sein. Als dies war von der US Army und dem US Marine Corps und den Special Forces bereits vor dem Amtsantritt Präsident Obamas konzeptionell durchgearbeitet.

Die Strategiediskussion.
Vor dem Hintergrund der höchst schwierigen Lage in Afghanistan stand das ganze Jahr 2009 in Washington im Zeichen einer Neuformulierung der US- Afghanistanstrategie. Wie erwähnt hatte die Änderung der US-Politik auf der operativ-militärischen Ebene schon vorher begonnen, die Bush-Administration folgte dem entgegen ihrer eigentlichen Absicht (light footprint) zögerlich. So hatte sie die Truppenstärke bereits auf 32.000 Soldaten erhöht, und der Chef des CENTCOM, General Petraeus, ordnete bereits vor dem Amtsantritt der Obama-Administration eine gründliche Überprüfung der bisherigen Strategie an. Die neue US-Regierung stellte sofort die gesamte Afghanistanpolitik erneut auf den Prüfstand und begann mit der Entwicklung einer neuen Strategie. Die erkennbaren Höhepunkte dieses Prozesses lagen im März, als der Präsident zum ersten mal in einer großen Rede bereits eine „neue Strategie“ für Afghanistan verkündete, im Juni, als der US-Oberkommandierende in Afghanistan, General McKiernan, faktisch entlassen und durch General McCrystal ersetzt wurde, und im Dezember, als Präsident Obama in der Militärakademie West Point erneut eine „neue Strategie“ bekanntgab. Die ersten elf Monate des Jahres 2009 waren dadurch gekennzeichnet, daß immer neue Überprüfungen der Strategie dicht gedrängt aufeinander folgten – die längste und gründlichste von September bis November. Bemerkenswert war, daß die Diskussionen innerhalb der US-Regierung höchst konfliktiv begannen, im Herbst dann aber doch in einen breiten Konsens mündeten.
Die Ausgangslage betraf zwei miteinander verbundene Schlüsselfragen: (1) sollte die US-Truppenstärke in Afghanistan vermindert oder erhöht werden oder unverändert bleiben, und (2) worin sollte tatsächlich das Kernziel der US-Politik in Afghanistan bestehen, und daraus abgeleitet: welchem strategischen Grundansatz sollte man zur Erreichung dieses Zieles folgen?
Der Präsident wies im Verlauf der Beratungen darauf hin, daß diese Fragen nicht unabhängig voneinander entschieden werden konnten und daß die nötige Truppenstärke vor allem aus der zuvor entschiedenen Strategie abgeleitet werden müsse.
Die beiden Ausgangspositionen lassen sich vereinfacht folgendermaßen zusammenfassen: Die erste wurde insbesondere von Vizepräsident Biden vertreten. Sie bestand darin, den Krieg in Afghanistan als Mittel der Terrorismusbekämpfung zu führen. Al-Qaida war dabei der entscheidende Feind, den es zu schlagen galt. Es könne nicht darum gehen, die Kontrolle Afghanistans, den Aufbau eines – mehr oder weniger demokratischen – Staatsapparates oder den Sieg über die unterschiedlichen Aufständischen ins Zentrum zu rücken. Das zentrale US-Interesse liege nicht in Afghanistan an sich, sondern eben vor allem in der Zerschlagung der dortigen terroristischen Strukturen und Gruppen, soweit sie die USA bedrohten. Zu diesem Zweck sei allerdings eine ambitionierte Politik des Nation-Building oder der Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency) weder erforderlich noch sinnvoll, sondern könnte leicht vom eigentlichen Politikziel ablenken und erforderte zusätzlich einen viel zu hohen Personal- und Mitteleinsatz. Präzise und begrenzte Militäroperationen gegen al Qaida – insbesondere aus der Luft, etwa mit unbemannten „Drohnen“ – würden damit zum Grundansatz, während die Bekämpfung und Besiegung der Taliban von nachgeordneter Bedeutung seien. Auf der Grundlage einer solchen Strategie wäre eine Ausweitung der US-Truppenpräsenz nicht nur überflüssig, sondern sogar kontraproduktiv, da sie den Aufständischen noch mehr Angriffsziele bieten und sogar zu verstärktem Widerstand gegen die ausländischen Truppen in der Bevölkerung führen könnte. Letztlich faßte eine solche Strategie die US-Ziele enger und sollte mittelfristig sogar eine Reduzierung der Truppen erlauben. Sie beruhte also auf begrenzteren, stärker militärisch gefaßten, dafür aber erreichbareren Politikzielen, und war attraktiv, weil die US-Öffentlichkeit den Afghanistankrieg zunehmend skeptischer beurteilte.
Die Gegenposition bezogen insbesondere die Generäle Petraeus und McCrystal. Sie betonten statt der eng fokussierten Terrorismusbekämpfung vor allem die Aufstandsbekämpfung, auch wenn diese natürlich ebenfalls als – wenn auch indirekteres – Mittel der Terrorabwehr gerechtfertigt wurde. Beide argumentierten auf Basis der neuen Counterinsurgency-Doktrin der US-Streitkräfte, wie sie im Feldhandbuch 3-24 niedergelegt war. Im Rahmen ihrer Strategie sollten al Qaida und die Taliban im gleichen Maße bekämpft werden, da eine Stärkung der Taliban letztlich auch den Handlungsspielraum des internationalen Terrorismus vergrößern würde. Aufstandbekämpfung/Counterinsurgency könne aber nicht rein militärisch gelingen – etwa durch Luftschläge – da es sich eher um einen politischen denn militärischen Konflikt handele. Der Grundansatz müsse darin bestehen, vor allem die Bevölkerung für sich zu gewinnen bzw. zu kontrollieren, um auf diese Weise den Aufständischen das Wasser abzugraben. Dieser Ansatz implizierte zweierlei: Die weit größere Bedeutung ziviler Maßnahmen, die die Legitimität und Funktionsfähigkeit der afghanischen Regierung stärken sollten; und die deutliche Ausweitung der militärischen Kräfte, sowohl auf US-amerikanischer (bzw. internationaler), als auch der afghanischen Seite. „Nation-Building“ und der selektive Aufbau und die Stärkung des Staatsapparates waren in diesem Ansatz zwar keine Ziele, aber doch entscheidende Mittel der Politikerreichung.
Zwischen diesen beiden Grundpositionen agierten der US-Verteidigungsminister Gates und Außenministerin Clinton eher abwartend, auch wenn sie sich im Verlauf des Jahres langsam der zweiten Strategieoption anschlossen, zuerst Clinton, später Gates.
Diese Schlachtordnung der Regierungsdebatte war höchst ungewöhnlich: Daß ein Vizepräsident sich so aktiv in die operativen und konzeptionellen Fragen der Politikformulierung einbrachte, war selbst nach der Erfahrung mit Vizepräsident Cheney unter George Bush weiter alles andere als selbstverständlich. Und daß zwei wichtige Generäle aktiv und z.T. an ihren Vorgesetzten vorbei (dem Generalstabschef und dem Verteidigungsminister) Lobbyismus für eine von ihnen entworfene Politik betrieben (und zwar ausgerechnet gegen den amerikanischen Vizepräsidenten), war höchst ungewöhnlich. Schließlich wurden sie gar von ihren Vorgesetzen öffentlich gemahnt, ihren Rat nur vertraulich und im Rahmen der Befehlskette vorzubringen und keinen Druck auf die Politik auszuüben.

Obamas Märzrede.
Die Rede Präsident Obamas vom 27. März 2009 sollte, in seinen Worten, eine „umfassende, neue Strategie für Afghanistan und Pakistan“ präsentieren, die den „Abschluß einer sorgfältigen Überprüfung unserer Politik“ darstelle. Mit großer Klarheit betonte der Präsident sein zentrales Politikziel: „… we have a clear and focused goal: to disrupt, dismantle and defeat al Qaeda in Pakistan and Afghanistan, and to prevent their return to either country in the future. That's the goal that must be achieved.”
Zur Erreichung dieses Ziels kündigte der Präsident eine ganze Reihe politischer und militärischer Maßnahmen und Bemühungen an. Die Ausgangspunkte bestanden in (a) der Betonung der Rolle Pakistans bezogen auf den Afghanistankrieg und vor allem die Bekämpfung von al Qaida; (b) militärische und zivile Maßnahmen in Afghanistan; und (c) eine Verstärkung multilateraler Kooperation in der Region und darüber hinaus.
Im Einzelnen nannte Obama:
(1) Die verstärkte militärische Unterstützung Pakistans bei der Bekämpfung und Vernichtung von al Qaida;
(2) Stärkeren Druck auf Pakistan, um sich an diesem Kampf zu beteiligen, der allerdings etwas breiter charakterisiert wurde: Es gehe um die Bekämpfung al Qaidas „und anderer gewalttätiger Extremisten“. Darüber hinaus solle die US-Hilfe für Pakistan stärker kontrolliert und überprüft werden: „We will not and cannot provide a blank check.“
(3) Verstärkte finanzielle Unterstützung ziviler und ökonomischer Entwicklung in Pakistan zur Stabilisierung der dortigen politischen Verhältnisse.
(4) Die Bestätigung einer bereits zuvor beschlossenen Truppenverstärkung in Afghanistan um 17.000 Soldaten.
(5) Eine Vergrößerung (auf 134.000 Militärs und 82.000 Polizisten bis 2011) und bessere Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte. Deshalb sollten 4000 zusätzliche US-Soldaten zu Ausbildungszwecken entsandt werden.
(6) Verstärkte zivile Anstrengungen und deutlich mehr amerikanisches Zivilpersonal in Afghanistan, wenn auch die konkreten Ziele und Mittel etwas unbestimmt blieben.
(7) Einen nicht näher bezeichneten dezentralen/lokalen „Versöhnungsprozeß“ mit Teilen der Aufständischen, während zugleich der „kompromisslose Kern“ der Taliban „mit Gewalt behandelt und geschlagen“ werden müsse.
(8) Multilaterale Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen: Trilateral mit Afghanistan und Pakistan, im Rahmen der NATO und der UNO, und durch Etablierung einer Kontaktgruppe, die neben den üblichen US-Partnern auch die zentralasiatischen Staaten, die Länder des Persischen Golfes, den Iran, Rußland und China einbeziehen solle.
Insgesamt beinhaltete diese neue US-Politik deutliche Veränderungen gegenüber der unter Präsident Bush. Pakistan wurde nicht länger nur als Hilfsquelle zur Führung des Afghanistankrieges betrachtet (Drängen auf Abriegelung der Grenze), sondern rückte neben Afghanistan ins Zentrum der Politik. Die US-Politik wurde noch stärker auf die Terrorismusbekämpfung fokussiert – zumindest rhetorisch. Das zivile und vor allem militärische US-Engagement in Afghanistan sollte weiter ausgeweitet werden. Auch der verstärkte Aufbau des afghanischen Militär- und Polizeiapparates stellte eine Akzentverschiebung dar. Dahinter verbargen sich, trotz aller klaren Worte, weiterhin konzeptionelle Widersprüche oder Unklarheiten: Die scheinbar eindeutige Festlegung, daß die Bekämpfung al Qaidas im Zentrum der Politik stehen solle, wurde mehrfach aufgeweicht – einmal durch den gelegentlichen Zusatz „und andere Extremisten“, wodurch die Taliban implizit mit al Qaida gleichgesetzt wurden, aber auch durch einen weit breiteren Politikansatz als zur reinen Terrorbekämpfung nötig gewesen wäre. In einem gewissen Sinne hatte sich Vizepräsident Biden mit seiner Fokussierung auf Terrorismusbekämpfung rhetorisch durchgesetzt, während inhaltlich eher ein Ansatz militärischer Aufstandsbekämpfung erkennbar war, wie von General Petraeus und General McCrystal empfohlen. Allerdings wurden die Schlußfolgerungen aus dieser Präferenz nur teilweise und halbherzig, am ehesten noch auf militärischem Gebiet gezogen. Die nötigen zivilen Komponenten von Aufstandsbekämpfung waren zwar angedeutet, blieben aber allgemein und teilweise vage.
Anders ausgedrückt: Die Rede des Präsidenten vom März 2009 bedeutete ein teilweises politisches Umsteuern, als Strategieformulierung ließ sie allerdings einige Fragen offen und war noch nicht ausgereift.

Die Dezemberrede.
Im April und Mai 2009 verstärkte sich eine bereits vorhandene Unzufriedenheit in Washington (auf ziviler wie teilweise militärischer Seite) mit dem US-Oberkommandierenden in Afghanistan, General McKiernan, dem man immer weniger die Entschlossenheit und Dynamik zutraute, auf der Grundlage der "neuen Strategie" das Blatt zu wenden. Im Juni wurde er deshalb vorzeitig durch General McCrystal ersetzt, der sofort mit einer erneuten Überprüfung der Afghanistanstrategie beauftragt wurde. Parallel verschlechterte sich die Sicherheitslage in Afghanistan weiter. Nach den Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen im Sommer ordnete Präsident Obama selbst eine nochmalige Überprüfung der Strategie an, die von Anfang September bis Ende November dauerte. Am 1. Dezember 2009 hielt er dann vor Kadetten der Militärakademie West Point eine Schlüsselrede, die vermied, explizit noch einmal von einer „neuen“ Afghanistanstrategie zu sprechen, aber in den Wochen zuvor genau so von seiner Regierung angekündigt worden war. Tatsächlich erfolgte eine Akzentverschiebung und Weiterentwicklung der Grundansätze aus dem März.
Das Kernziel wurde nun folgendermaßen beschrieben: „We must keep the pressure on al Qaeda, and to do that, we must increase the stability and capacity of our partners in the region.”
Diese Zielbestimmung war offensichtlich bescheidener als im März, als es schlicht darum gegangen war, al Qaida und andere Aufständische in Afghanistan und Pakistan zu zerschlagen. Nun sollten sie also stärker "unter Druck gesetzt" werden. Die Förderung der Stabilität und staatlichen Fähigkeiten der regionalen Partner (Afghanistan und Pakistan) sollte als Ansatz zur Zielerreichung diesen. Diese Wende zu größerem Realismus und Bescheidenheit wurde allerdings kurz darauf rhetorisch zurückgenommen, indem die Ziele der Märzrede noch einmal bekräftigt wurden: „Our overarching goal remains the same:  to disrupt, dismantle, and defeat al Qaeda in Afghanistan and Pakistan, and to prevent its capacity to threaten America and our allies in the future.“
Die konkretere Ausfüllung dieser Absichten fand dann allerdings schnell zu dem zuvor gewonnen Realismus zurück: „To meet that goal, we will pursue the following objectives within Afghanistan. We must deny al Qaeda a safe haven. We must reverse the Taliban's momentum and deny it the ability to overthrow the government. And we must strengthen the capacity of Afghanistan's security forces and government so that they can take lead responsibility for Afghanistan's future.”
Es ist offensichtlich, daß diese Ziele sich eher darauf richteten, den Aufstieg der Taliban zu bremsen oder zu stoppen, nicht auf deren Zerschlagung. Dieser Eindruck verfestigt sich bei einer Betrachtung der beschlossenen Maßnahmen und ihrer Begründung. Diese sollen auf drei Gebieten erfolgen:
(a) Im Frühjahr und Sommer 2010 wird die US-Truppenstärke weiter erhöht, um ab dem Sommer 2011 schrittweise mit dem Rückzug zu beginnen. Zusätzlich zu den bereits zuvor von Obama beschlossenen Truppenverstärkungen (um insgesamt 21.000) werden weitere 30.000 US-Soldaten nach Afghanistan entsandt, deren Aufgabe aber nicht in einem militärischen Sieg über die Taliban besteht, sondern die den Aufstand zurückdrängen und Bevölkerungszentren sichern sowie mehr afghanische Truppen ausbilden sollen. Vor allem sollen sie Bedingungen schaffen helfen, um die Verantwortung für die Sicherheitslage zügig auf die afghanische Regierung zu übertragen. Für den ab Mitte 2011 beginnenden Truppenabzug wird ein Abschlußdatum allerdings nicht genannt.
(b) Die zweite Säule der Politik soll in einer verbesserten und umfangreicheren zivilen Unterstützung Afghanistans bestehen. Diese sei allerdings an die Leistungen der afghanischen Regierung gebunden: "The days of providing a blank check are over". In den Worten des Präsidenten: "We'll support Afghan ministries, governors, and local leaders that combat corruption and deliver for the people.  We expect those who are ineffective or corrupt to be held accountable.  And we will also focus our assistance in areas -- such as agriculture -- that can make an immediate impact in the lives of the Afghan people." Konkrete Angaben über eine neue Politik im zivilen Bereich fehlen allerdings, finden sich allerdings einige Wochen später im zivilen Strategiepapier des US-Außenministeriums.
(c) Schließlich soll eine "wirksame Partnerschaft mit Pakistan" zur dritten Säule der Strategie werden. Am konkretesten sind hier Aussagen, die Fähigkeit Pakistans zum Kampf gegen die die extremistischen Aufständischen zu stärken sowie Mittel zur Unterstützung der Demokratie und Entwicklung bereitstellen zu wollen. Auch hier lieferte das US-Außenministerium wenige Wochen später konkretere Pläne nach.
Insgesamt läßt sich die Strategie der US-Regierung aufgrund der Grundsatzrede so zusammenfassen: Eine zeitweise und begrenzte Aufstockung der US- und internationalen Truppenpräsenz soll die Krise überwinden und einen Abzug der US-Truppen ab Mitte 2011 einleiten. Um dies zu erreichen, sollen die afghanischen Sicherheitsapparate massiv gestärkt, die Bevölkerung kontrolliert und von den Aufständischen getrennt und auf diese Art die Taliban in die Defensive gebracht werden. Zugleich sollen die Funktionsfähigkeit und Legitimität der afghanischen Regierung gestärkt werden. Parallel sollen der Terrorismus in Pakistan und insbesondere dem Grenzgebiet zu Afghanistan gestoppt und das pakistanische politische System durch militärische wie zivile Hilfe stabilisiert werden. Die Tendenz der Rede des März 2009, unter dem Firmenschild "Terrorismusbekämpfung" tatsächlich Aufstandsbekämpfung zu betreiben, tritt in den Dezemberrede verstärkt zutage, wobei die Ziele realistischer formuliert wurden. Letztlich werden selektive Militärschläge wie auch ein konventioneller Krieg als strategische Optionen zurückgewiesen (im ersteren Fall nicht als taktische Mittel), ebenso solche einer zivilen oder politischen Kriegsbeendigung durch Verhandlung oder Kompromiß oder eine des Abzugs im Moment der Krise und des Scheiterns. Statt dessen setzt die US-Regierung auf Aufstandsbekämpfung - eine Kriegsart "niedriger Intensität". Hierbei werden zivile, politische, entwicklungspolitische und wirtschaftliche Mittel für eine politisch orientierte, bevölkerungsorientierte Kriegführung instrumentalisiert, soweit dies möglich ist. Letztlich war das Feldhandbuch des Heeres und des Marine Corps zur Richtschnur der zivilen und militärischen Afghanistanpolitik Washingtons geworden.
Betrachten wir zusätzlich zu den öffentlichen Politikformulierungen durch den Präsidenten auch die Änderungen der konkreten Politik im militärischen und zivilen Bereich, wird das Bild der neuen US-Strategie noch klarer.

Militärisches.
Wie erwähnt hatte sich das Vorgehen des US-Militärs in Afghanistan in bereits vor Obama deutlich geändert. Von einer simplen und primär auf Gewaltanwendung orientierten Politik des search and destroy, also das Aufspürens und Zerstörens von Aufständischen und Terroristen, galt nun der COIN-Ansatz von search, clear, hold and build - also der "Säuberung" eines Gebiets von Aufständischen, dessen dauerhafte Kontrolle und die Durchführung politischer, administrativer, entwicklungspolitischer und ökonomischer Aufbaumaßnahmen. Genau dies sollte nun systematisch ins Zentrum der US-Politik rücken. Neben den schon angesprochenen Änderungen der militärischen Taktik abgesehen, wurden zwei weitere Änderungen nötig. Einmal modifizierte das US-Militär den Schwerpunkt seiner Einsatzregionen. Anstatt in oft kaum besiedelten, zerklüfteten und abgelegenen Gegenden (etwa entlang der pakistanischen Grenze) Gruppen von Aufständischen zu jagen, werden dort zunehmend kleinere und isolierte Außenposten aufgegeben. Stattdessen konzentrieren sich die US-Militärs im Rahmen der neuen Strategie nun stärker auf Dörfer und Städte, um die afghanische Bevölkerung von den Aufständischen zu trennen - und sie so potentiell vor deren Angriffen zu schützen, auf jeden Fall aber zu kontrollieren und eine Unterstützung der Taliban zu unterbinden.
Zweitens erfordert eine neue Politik des search, clear, hold and build offensichtlich weit mehr Militärpersonal, als bloßes search-and-destroy. Das bezieht sich einerseits auf US- und andere internationalen Truppen, die die neue Afghanistanstrategie zu implementieren haben - das war der Grund, die US-Truppenstärke seit der Amtsübernahme Obamas zu verdreifachen. Nach der Entsendung von 30.000 zusätzlichen US-Truppen wird die Gesamtzahl an US-Militärpersonal auf rund 100.000 steigen. Auf der Londoner Afghanistankonferenz im Januar 2010 wurde beschlossen, daß auch noch 9.000 weitere aus anderen Ländern entsandt werden sollen. Damit stünden rund 135.000 ausländische Soldaten und Soldatinnen in Afghanistan.
Zugleich aber benötigt die Strategie vor allem mehr afghanisches Militär- und Sicherheitspersonal. Beim Kontakt mit der Bevölkerung sollen Afghanen in der ersten Reihe stehen, um den Eindruck einer rabiaten (und kulturell wie sprachlich fremden) Besatzungstruppe zu vermeiden. Auch die angestrebte Legitimität des afghanischen Staates und seiner Regierung würden leiden, wenn US-Soldaten dauerhaft an Stelle afghanischer operierten. Schließlich sind auch weit mehr afghanische Sicherheitskräfte erforderlich, wenn diese ab der zweiten Jahreshälfte 2011 die schrittweise abziehenden internationalen Truppen ersetzen sollen. Deshalb sieht die neue US-Strategie einen weiteren, massiven Ausbau der afghanischen Sicherheitskräfte vor. So soll das afghanische Militär auf eine Personalstärke von 171.000 (im März lag die Zielgröße noch bei 134.000) und die Polizei auf 134.000 (im März noch geplante 82.000) gebracht werden.  Im US-Verteidigungsministerium wird darüber hinaus bereits über eine erneute Aufstockung der afghanischen Sicherheitskräfte auf insgesamt 400.000 nachgedacht, was die bisher geplanten Zahlen um ein weiteres Drittel erhöhen würde. Noch 2003 hatte es erst 24.000 afghanische Soldaten geringer Einsatzfähigkeit gegeben.

Ziviles.
Der Erfolg militärischer Aufstandsbekämpfung im Rahmen der US-Strategie hängt davon ab, ob ein gewaltsames Zurückdrängen der Aufständischen zum Aufbau funktionierender Governance-Strukturen und zur Gewinnung der Loyalität der Bevölkerung genutzt wird. Deshalb nehmen zivile Maßnahmen (etwa entwicklungspolitischer Art) im Rahmen dieser Kriegsform nicht nur taktische und unterstützende, sondern strategische Funktionen wahr - vorausgesetzt, sie sind auf COIN zugeschnitten und mit den militärischen Operationen eng verzahnt.
Zur zivilen Flankierung der militärpolitischen Maßnahmen legte das US-Außenministerium aufgrund der seit Dezember geltenden neuen Afghanistanstrategie im Januar 2010 eine "Regionale Strategie zur Stabilisierung Afghanistans und Pakistans" vor. Diese zivile Strategie ist vor allem sicherheitsorientiert und versucht ihr Ziel der Schwächung der Aufständischen entsprechend der neuen Strategie und von FM 3-24 primär durch eine Stärkung der Funktionsfähigkeit afghanischer Governance-Strukturen (staatliche, aber auch z.B. traditionelle), durch die Schaffung ökonomischer Entwicklungsmöglichkeiten und durch eine allgemeine Stabilisierung Afghanistans und Pakistans zu erreichen. Die beiden ersten Punkte werden in allgemeiner Form so ausgedrückt:
"In Afghanistan, our focus is building the capacity of Afghan institutions to withstand and diminish the threat posed by extremism, and to deliver high-impact economic assistance – especially in the agricultural sector – to create jobs, reduce the funding that the Taliban receives from poppy cultivation, and draw insurgents off of the battlefield."
Es ist offensichtlich, daß hier zivile und Entwicklungspolitik aus sicherheits- und militärpolitischer Perspektive konzeptioniert wird. Das führt dazu, daß aus der Gesamtheit allgemeiner entwicklungspolitischer Ziele (etwa der Millennium Development Goals) selektiv nur jene ausgewählt werden, die sicherheitspolitisch nützlich sein können - und, daß aus entwicklungspolitischen Zielen nun bloße Mittel zu anderen Zwecken werden.
Bezogen auf Afghanistan werden insbesondere die folgenden Politikbereiche genannt:

Die deutliche Verstärkung des US Zivilpersonals, um die Fähigkeiten und Sauberkeit (Korruptionsbekämpfung) der afghanischen Behörden zu steigern;
Die Umsetzung einer "zivil-militärischen landwirtschaftlichen Entwicklungsstrategie", um dem Aufstand Kämpfer zu entziehen und seine Finanzierung aus dem Drogenhandel zu vermindern;
Die Stärkung der sub-nationalen Strukturen und Fähigkeiten, insbesondere in den Bevölkerungszentren im Osten und Süden, durch "neue zivil-militärische Initiativen".
Die Stärkung traditioneller Konfliktregelungsmechanismen sowie des staatlichen Justizsystems in Gebieten, die von den Taliban gesäubert wurden.
Die Bekämpfung des Drogenhandels durch Vorgehen gegen Drogendealer und ihre Netzwerke anstatt gegen arme Bauern durch Zerstörung ihrer Felder;
Die Unterstützung der afghanischen Regierung bei der Reintegration von Talibankämpfern, die sich von al Qaida distanzieren, der Gewalt abschwören und das verfassungsmäßige System akzeptieren;
Die Verstärkung der internationalen Anstrengungen, illegale Finanzströme zu den Taliban aufzuspüren und zu unterbinden;
Eine stärkere Bekämpfung der Propaganda von Taliban und al Qaida, und die Förderung zusätzlicher Kommunikationsmittel und Massenmedien für systemtreue Afghanen; und
die Verbesserung der Koordination internationaler Hilfe.
Zur Umsetzung dieser zum Teil weitgespannten Ziele wird die Anzahl des zivilen US-Personals in Afghanistan deutlich erhöht:
"Under the first phase of this uplift, the civilian footprint in Afghanistan will triple from roughly 300 personnel on the ground in January 2009 to nearly 1,000 on the ground by early 2010. We anticipate further increasing our civilian staffing in 2010 by another 20 to 30 percent, concentrating experts in the field and at key ministries that deliver vital services to the Afghan people. Each U.S. civilian hires or works with an average of 10 Afghans and other implementing partner personnel. Additionally, civilians act as force multipliers for military personnel, helping build relationships with local community leaders and coordinate military civil affairs projects with civilian programs."
Viele der zivilen Maßnahmen sind sinnvoll, insbesondere die Betonung der Verbesserung der zentralen und dezentralen afghanischen Governance-Strukturen. Wäre eine solche Strategie ab 2002 mit Nachdruck verfolgt und durch die ins Auge gefassten ökonomischen und sozialen Maßnahmen flankiert worden, hätte sie einer Eskalation der Gewalt und des Aufstands in Afghanistan vermutlich vorgebeugt. Ob die gleiche Strategie allerdings beim gegenwärtigen Gewaltniveau und im Kontext der inzwischen weit fortgeschrittenen Delegitimierung der Regierung noch eine Wende bringen kann, ist vor dem Frühjahr 2011 nicht seriös prognostizierbar. Als bedenklich muß allerdings die klare Unterordnung der skizzierten zivilen Maßnahmen unter militärpolitische Erfordernisse gelten.
Dies legt nahe, daß auch in Zukunft bei Widersprüchen und Konflikten zwischen zivilen und militärischen Erfordernissen erstere werden zurückstehen müssen. Nicht allein die Erfahrungen der letzten Jahre legen das nahe, sondern auch die personelle, finanzielle und politische Dominanz des Militär und des Verteidigungsministeriums über das Außenministerium und dessen Entwicklungsbehörde USAID, bezogen auf Afghanistan: Selbst nach der Verdreifachung des Zivilpersonals wird dieses nur etwa ein Prozent der US-Truppen ausmachen. So wird sich die bisherige Situation, daß nur durchschnittlich ein einziger Zivilist Mitglied eines US-geführten Provincial Reconstruction Teams (PRT) war bzw. noch ist, nicht grundlegend ändern.

Einschätzung der neuen US-Strategie.
Die neue US-Afghanistanstrategie wurde aufgrund des Scheiterns der früheren Politik erforderlich. Sie sollte das bisherige Durchwursteln (so die Formulierung Präsident Obamas) beenden und durch einen integrierten Politikansatz ersetzen, der auf einer konkreteren und präziseren Zielbestimmung beruht. In diesem Sinne handelt es sich tatsächlich um eine Strategie - im Unterschied zu einer Sammlung widersprüchlicher Ziele und einem Bauchladen unterschiedlicher Politiken und Instrumente - auch wenn gewisse immanente konzeptionelle Spannungen bleiben, etwa die rhetorische Betonung von Terror- bei faktischer Konzentration auf Aufstandsbekämpfung. Zu ihrer Bewertung sollten u.a. folgende Punkte beachtet werden:
(1) Konzeptionell soll die Strategie in einer unhaltbar gewordenen Situation durch Eskalation und Politikmodifikation einen Truppenabzug unter Erfolgsbedingungen möglich machen. Ein Erfolg der neuen Strategie wird nach Einschätzung der US-Administration erst in frühestens 12 Monaten erkennbar sein, nach 18 Monaten soll bereits der Abzug beginnen. Dieser dürfte sich allerdings jahrelang hinziehen. Die Strategie wird implizit als ein letzter Versuch erkennbar, das Blatt in Afghanistan doch noch zu wenden. Was allerdings geschehen soll, wenn diese Anstrengungen erfolglos bleiben, wird aus naheliegenden Gründen nicht thematisiert. Dann wird der geplante Abzug entweder im Kontext des Scheiterns vollzogen oder abgesagt werden müssen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die in die Strategie integrierten, teilweise sehr konkreten Maßstäbe einer Erfolgsbewertung, die später schwer zu ignorieren sein dürften.
(2) Die neue Strategie korrigiert frühere konzeptionelle Fehler, die den Charakter des Krieges mißverstanden. Die Regierung Obama hat den grundlegend politischen Charakter des Aufstandskrieges erkannt und ist davon abgerückt, ihn primär als militärische Operation gegen kleine Gruppen von Unruhestiftern und Terroristen führen zu wollen, wie dies unter Bush der Fall war. Stattdessen soll nun im Vordergrund stehen, die Loyalität der Bevölkerung für sich - und vor allem die afghanische Regierung - zu gewinnen, indem die Governance-Defizite in der afghanischen Gesellschaft und dem afghanischen Staat sowie die Kontrolle und der Schutz der Bevölkerung ins Zentrum gerückt werden. Konzeptionell würden die Militäroperationen damit in eine unterstützende Rolle für die erforderlichen politischen und gesellschaftlichen Prozesse gebracht, anstatt den Krieg gewaltsam entscheiden zu sollen. Es ist allerdings fraglich, ob dieser Anspruch aufgrund der schwierigen sicherheitspolitischen Lage und der Dominanz des Militärs tatsächlich einzulösen ist, da er einige Jahre zu spät erfolgt. Auch die institutionelle Kultur der US-Streitkräfte steht dem weiterhin entgegen, da diese sich eher als Kämpfer denn als "Sozialreformer" verstehen.
(3) Im Verhältnis von zivilen zu militärischen Strategieelementen besteht ein schwer auflösbares Paradoxon. Einerseits besteht der Grundansatz im Ringen um die Loyalität der Bevölkerung. Im Konflikt mit den Taliban besteht genau hierin des "Gravitationszentrum" (center of gravity), das nach Auffassung der Generäle Petraeus und McCrystal letztlich den Krieg entscheiden wird. Die Gewinnung der Loyalität der Bevölkerung ist aber keine militärische, sondern eine politische, psychologische und insgesamt stärker zivile Aufgabe, die vom Militär nur flankiert werden kann. Dies würde nahelegen, die Afghanistanpolitik durch zivile US-Behörden - etwas das Außenministerium und seine Entwicklungsbehörde - prägen und leiten zu lassen. Davon kann allerdings nicht einmal ansatzweise die Rede sein, da aufgrund der Sicherheitslage, aber auch ihres politischen, finanziellen und militärischen Gewichts das Verteidigungsministerium und das US-Militär vor Ort die Afghanistanpolitik eindeutig prägen. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß sich dies im Rahmen der neuen Strategie ändern würde. Damit entsteht die paradoxe Situation, daß ein konzeptionell eigentlich politisch-ziviler Grundansatz vom militärischen Apparat und mit militärischer Befriedungsabsicht geführt wird. Den zivilen Behörden bleibt damit faktisch kaum eine Alternative, als ihre politischen und entwicklungspolitischen Aktivitäten in den Rahmen militärischer Aufstandsbekämpfung einzupassen, womit sie sich in die Rolle von Zulieferern oder Subunternehmern der Kriegsstrategie begeben.
(4) Die Achillesferse der neuen Strategie liegt in der Rolle des afghanischen Staatsapparates und der afghanischen Regierung. Vor allem von ihnen hängt, auch nach Einschätzung der hohen US-Militärs, die Stabilisierung Afghanistans und die langfristige Überwindung der Gewalt ab. Genau deshalb will die Strategie deren grundlegende Defizite korrigieren. Diese - etwa die Bekämpfung der endemischen Korruption oder die Überwindung administrativer Schwäche und Inkompetenz - ist allerdings nur bei aktivem und entschlossenen Handeln der afghanischen Regierung und der staatsnahen Machteliten möglich. Trotz deren ständigen Beteuerungen bester Absichten ist aber absolut offen, ob diese über den politischen Willen und die Fähigkeit verfügen, die notwendigen Schritte einzuleiten und vor allem entschlossen umzusetzen. Die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl vom Sommer 2009 und der Widerstand Präsident Karzais, diese offen zu benennen und zeitnah zu korrigieren, geben Anlaß zu Skepsis. Daß der US-Präsident mehrfach davon sprach, der afghanischen Regierung "keinen Blankoscheck mehr" auszustellen, ist sicher sinnvoll - wirft aber die Frage auf, was denn unternommen werden sollte, falls diese ihrer Verantwortung weiter nicht gerecht wird. Die afghanische Regierung fallenzulassen würde das Land weiter destabilisieren und den Aufständischen in die Hände spielen, so daß dies kaum eine glaubwürdige Drohung darstellt. Eine tragfähige und bessere Alternative ist gegenwärtig nicht erkennbar, so daß anstelle der Unterstützung der Regierung nur der vorzeitige Abzug bliebe. Ob die US-Regierung allerdings bereit wäre, den Gesichtsverlust eines solchen Schrittes in Kauf zu nehmen, darf gegenwärtig noch bezweifelt werden. Ohne eine halbwegs saubere, legitime und funktionsfähige afghanische Regierung ist der Krieg gegen die Aufständischen nicht zu gewinnen, das wissen die US-Militärs sehr genau - und eine solche gibt es bisher nicht. Ausländische Kräfte können entsprechende Reformen zwar unterstützen, aber kaum jemals von außen erzwingen. Ganze Scharen ausländischer Berater - etwa zur Korruptionsbekämpfung oder der Durchführung sauberer Wahlen - bleiben so lange nutzlos, wie die Regierung die Korruption braucht, toleriert oder fördert und an fairen Wahlen selbst kein Interesse hat. Dadurch entsteht die paradoxe Situation, daß die afghanische Regierung fast völlig von ausländischer - insbesondere US-amerikanischer - Hilfe abhängt, die US-Politik aber zugleich faktisch die Geisel der afghanischen Regierung ist, da sie ohne die Regierung in Afghanistan keine relevante Basis für die eigene Politik mehr hätte.
(5) Eine entscheidende Rolle in der neuen Strategie spielt aus US-Sicht der weitere, massive Aufbau des afghanischen Militärs und der Polizei, sowie die Verbesserung ihrer Qualität und Einsatzfähigkeit. Ohne sie können weder die Kontrolle noch der Schutz der Bevölkerung gelingen. Ohne sie wäre es auch schwer vorstellbar, an wen die USA und die internationalen Truppen die Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan übergeben sollten. Die vorgesehene Vergrößerung der afghanischen Sicherheitsapparate dürfte mit dem vorgesehenen Personal- und Mitteleinsatz durchaus erreichbar sein. Ob sie allerdings ihr strategisches Ziel erreichen wird, nämlich die afghanischen Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, nachhaltig selbst für militärische Stabilität zu sorgen, ist alles andere als gesichert. In anderen Fällen (z.B. Sowjetunion in Afghanistan nach 1989, USA in Südvietnam) haben solche Versuche nur wenige Jahre Zeit gewonnen, um gesichtswahrend abziehen zu können, scheiterten danach aber bald. Darüber hinaus führt die massive Vergrößerung der afghanischen Sicherheitskräfte zu zumindest zwei grundlegenden Problemen: Einerseits ist schon seit einigen Jahren allein das afghanische Militär so groß und kostspielig, daß die gesamten afghanischen Staatseinnahmen nicht mehr ausreichen, nur dieses zu finanzieren. Diese Situation würde sich bei einem deutlich vergrößerten Militär noch einmal dramatisch verschärfen. Ein solches Modell ist nicht nachhaltig und bringt Afghanistan in eine dauerhafte Abhängigkeit äußerer Mächte, deren Bereitschaft unklar ist, wie langfristig sie die nötigen Finanzmittel bereitstellen möchte, nachdem die eigenen Truppen abgezogen sind. Einem Land wie Afghanistan einen gigantischen Militärapparat überzustülpen, ihn nach einigen Jahren aber nicht mehr zu bezahlen, birgt hohe Konfliktrisiken. Andererseits würde ein erfolgreicher Aufbau der Sicherheitsapparate im vorgesehenen Umfang bei einem gleichzeitig schwachen zivilen Staatsapparat zu einem deformiertem Staat führen. Dieser müßte zunehmend zu einem Wurmfortsatz des Militärs, der Geheimdienste und evtl. der Polizei werden. Das würde allerdings auf Dauer eher zu gesellschaftlicher und politischer Instabilität und einem hohen Niveau innergesellschaftlicher Gewalt (Repression und Widerstand) führen. Anders ausgedrückt: Die angestrebte Aufblähung des Sicherheitsapparates ist einerseits die Voraussetzung, die neue Afghanistanstrategie umzusetzen. Zugleich aber ist sie nur sinnvoll, wenn man Militär und Polizei mindestens eine oder zwei Generationen lang aus den USA und der EU bezahlt und zugleich sicherstellen kann, daß der zivile Staat die Kontrolle über den Sicherheitsapparat nicht verliert.
(6) Schließlich sollte noch darauf hingewiesen werden, daß die gegenwärtige Strategie zwar im Kern politisch statt nur militärisch, dies aber auf eine sehr spezifischen Weise ist. Es ist nicht zu übersehen, daß die Vielzahl sinnvoller ziviler Maßnahmen dem Ziel sicherheitspolitischer Stabilisierung und eines Sieges über die Aufständischen klar instrumentell untergeordnet ist. Außenministerin Clinton sprach nicht zufällig davon, daß es für sie "von höchster Priorität" sei, die Diplomatie und Entwicklungspolitik "an der Seite der Militärpolitik innerhalb unsere Nationalen Sicherheitspolitik" zu positionieren. Und der Afghanistan- und Pakistanbeauftragte der USA, Richard Holbrooke, sprach Anfang 2010 von einer "wahren zivil-militärischen Integration" der Afghanistanpolitik und einer "integrierten zivil-militärischen Strategie". Er formulierte: "For the first time since the conflict in Afghanistan began eight years ago, we have an innovative, whole-of-government strategy to protect our vital national security interests in this region."
Tatsächlich ist im Rahmen der Afghanistanstrategie auch die Entwicklungspolitik zuerst ein Mittel der Sicherheitspolitik, zum Teil direkt der Militärpolitik untergeordnet. Damit stehen entwicklungspolitische Ziele prinzipiell immer zur Disposition, da diese nur so lange ernst genommen werden müssen, wie sie der Flankierung oder Erleichterung der Sicherheitspolitik dienen. Zugleich darf davon ausgegangen werden, daß auch die Aufständischen den Zusammenhang von entwicklungspolitischen Maßnahmen und Kriegführung nicht auf Dauer übersehen - womit das Risiko wächst, daß zivile Akteure aus ihrer Sicht noch mehr zu legitimen Angriffszielen werden. Insgesamt bedeutet dies, daß sich die Grenzen zwischen militärischem und zivilem immer mehr verwischen. Die Kritik vieler NGOs an dieser Tendenz ist nicht von der Hand zu weisen.
(7) Die neue Afghanistanstrategie beinhaltet auch eine Rhetorik der "Versöhnung" mit den Aufständischen. Üblicherweise sollte "Versöhnung" eine Verständigung und gemeinsame Konfliktaufarbeitung mit dem Gegner bedeuten. Tatsächlich allerdings ist dies im Rahmen der Strategie nicht der Fall. Von Verhandlungen und Aussöhnung mit den Aufständischen ist an keiner Stelle die Rede, sondern nur von dezentralen Versuchen, die Aufständischen zu spalten und deren "harten Kern" dadurch zu isolieren, daß ideologisch weniger Gefestigte diesem durch materielle und andere Anreize abspenstig gemacht werden. Der verbleibende Rest soll weiterhin "besiegt" werden, wozu die Reintegration eines Teils der Aufständischen - soweit sie auf Gewalt verzichten und die verfassungsmäßige Ordnung akzeptieren, also politisch kapitulieren - gerade beitragen soll. Ein solches Politikinstrument hat einen - wenn auch begrenzten - pragmatischen Nutzen. Dies gilt allerdings nur dann, wenn es der neuen Strategie gelänge, die Taliban und die anderen Aufständischen wesentlich zu schwächen und in die Defensive zu drängen, sowie die potentiellen Überläufer vor der Rache der Aufständischen zu schützen. Erst dann würden materielle Anreize in größerem Maßstab erfolgversprechend sein. Auf jeden Fall hat eine solche Politik nichts mit Versöhnung zu tun, da sie den Gegner nicht als prinzipiell legitim akzeptiert, sondern schwächen und besiegen will. Das gilt auch dann, wenn man den Ansatz einer Versöhnung mit den Taliban zu Recht für aussichtlos hält.
(8) Die neue Afghanistanstrategie der US-Administration ist aufgrund der hervorgehobenen Rolle der USA keine bloße unilaterale oder bilaterale US-afghanische Angelegenheit, sondern prägt die internationale Afghanistanpolitik insgesamt, auch die deutsche. Bereits nach der Rede Obamas im März hatte sich die Bundesregierung hinter den neuen Ansatz gestellt, spätestens mit der internationalen Londoner Afghanistankonferenz im Januar 2010 machte sich die internationale Gemeinschaft insgesamt die neue US-Strategie zu eigen. In gewissem Sinne stellt dies einen Fortschritt dar, da die internationale Gemeinschaft nun über eine halbwegs kohärente Afghanistanstrategie verfügt, an der es früher mangelte. Allerdings wirft die pauschale Übernahme auch eine Reihe von Fragen auf. So erstaunt gerade in Deutschland, wo die Regierung und der größere Teil der Opposition sich weiterhin nicht überwinden können, den Krieg in Afghanistan einen Krieg zu nennen, wie bruch- und widerspruchslos die US-Strategie akzeptiert wurde - die schließlich vom US-Präsidenten und allen anderen Mitgliedern seiner Regierung mit großer Selbstverständlichkeit als Kriegsstrategie bezeichnet wird. Einen Krieg auf intelligentere, rationalere und kohärentere Art zu führen, ändert nichts an seinem Kriegscharakter. Und innerhalb einer integrierten zivil-militärischen Kriegsstrategie die zivilen Politikkomponenten argumentativ nach vorne zu rücken bedeutet nicht, daß diese keine Instrumente der Sicherheits- und Militärpolitik - in diesem Fall auch: der Kriegführung - wären. Dies mag richtig oder falsch, berechtigt oder unberechtigt sein - aber es wäre im Sinne rationaler Politikformulierung zumindest wünschbar, diesen Zusammenhang offen und öffentlich zu diskutieren.
(9) Darüber hinaus verändert die neue US-Strategie die Rahmenbedingung der deutschen Abzugsdebatte grundlegend. Falls Washington tatsächlich im Rahmen seiner Strategie Mitte 2011 - also in kaum mehr als einem Jahr - mit dem Truppenabzug beginnt, dürfte sich damit jede deutsche Abzugsdebatte erledigen: Ein Verbleiben der Bundeswehr in Afghanistan bei abziehendem US-Militär wäre offensichtlich unsinnig und undenkbar. Die gegenwärtige Abzugsdebatte läuft der in den USA hinterher: Sie sollte nicht unter der inzwischen fiktiven Frage geführt werden, ob ein Abzug erfolgen sollte oder nicht, sondern wie, wann und auf welche Art er abgewickelt werden kann. Da die US-Regierung und die internationale Gemeinschaft seit London offen von einem Truppenabzug ab Mitte 2011 sprechen, braucht es heute keinen politischen Mut mehr, dies in Deutschland auch zu tun. Es kommt jetzt darauf an, ihn vorzubereiten und zu planen, damit er nicht ebenso improvisiert und planlos erfolgt, wie der Einsatz begonnen wurde.

 

 

Es handelt sich bei diesem Text um eine wesentlich erweiterte Fassung von:

Jochen Hippler
Die neue Afghanistan-Strategie der Regierung Obama,
in: Christiane Fröhlich, Margret Johannsen, Bruno Schoch, Andreas Heinemann-Grüder, Jochen Hippler (Hrsg.);
Friedensgutachten 2010,
Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), u.a., Münster 2010, S. 63-75

Belege und Zitat achweise in der Druckfassung bzw. dem Manuskript
 

 

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