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Jochen Hippler                                                                                                                   als pdf-Datei
 

Ende in Sicht?

Das sinkende Gewaltniveau im Irakkrieg
und die Chancen einer dauerhaften Stabilisierung



Die Zahl der militärischen Angriffe, terroristischen Anschläge und der zivilen wie militärischen Opfer der Gewalt im Irak ist deutlich gesunken. Auf dem Höhepunkt der Welle der Gewalt starben monatlich etwa siebenmal so viele Zivilisten wie heute. Die Opferzahlen sind weiter hoch, aber ein deutlicher Trend zur Verminderung der Gewalt ist unverkennbar. Die Bush-Administration begründete diese Tendenz mit dem Erfolg ihrer Politik, insbesondere dem surge, also der Aufstockung der US-Truppenpräsenz im Irak im Verlauf des Jahres 2007, eine Perspektive, die von vielen politischen Beobachtern übernommen wurde. Implizit stimmt auch die Regierung Obama dieser Sichtweise zu, indem sie nach der teilweisen Beruhigung der Sicherheitslage im Irak zunehmend Truppen von dort nach Afghanistan verlegt. Die dahinterstehende Annahme, dass mehr Soldaten zu mehr Sicherheit und damit schließlich zu einer Dämpfung und Beendigung des Krieges führen, scheint durch die Irak-Erfahrung belegt zu werden. Sie wird hier einer Überprüfung unterzogen. Daneben stellt sich die Frage, ob andere, politische Entwicklungen (etwa die erfolgreiche Wahl zu den Provinzparlamenten) die Tür zu einem Ende des Krieges geöffnet haben.


Das Gewaltniveau sinkt
In der Tat ist der Gewaltpegel im Irak deutlich gesunken. Während im Herbst 2006 monatlich bis zu 3700 Zivilisten im Irak getötet wurden, lagen die Opferzahlen zur Jahreswende 2008/2009 bei unter 500. Damit liegen sie noch unter dem Niveau vom Herbst/Winter 2003, als die Eskalation noch bevorstand. Auch die Todesopfer bei irakischen Soldaten und Polizisten gingen von monatlich zwischen 150-300 (in den Jahren von 2003-2007) auf nur noch 20-80 zur Jahreswende 2008/2009 zurück. Die Zahl der im Irak getöteten US-Soldaten ging von monatlich mehr als 100 (Spitzenwert: 137) auf unter 20 zurück (Mindestwert: 8 im Februar 2009) zurück. Die Zahl der getöteten Journalisten fiel von 2007 auf 2008 von 32 auf 11. Ähnliches gilt für die Zahl der Anschläge auf wirtschaftliche Ziele: Die Anschlagszahl auf den Erdölsektor lag lange bei monatlich zwischen 10 und 20 (Spitzenwert: 30), inzwischen liegt sie nur noch bei 1 oder 2.
Auch wenn diese Zahlen direkt oder indirekt alle von einer Kriegspartei stammen – nämlich den US-Behörden – kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass der Umfang der Gewalt im Irak dramatisch zurückgegangen ist. Damit stellt sich die Frage nach den Ursachen dieses Tatbestandes in besonderer Schärfe – nicht allein in Hinblick auf den Irak selbst, sondern auch wegen der Frage einer Übertragbarkeit auf andere Kriegssituationen.


„Surge“
Die als surge bezeichnete Truppenverstärkung der USA im Irak – die mit einigen Änderungen der Einsatztaktiken verbunden war – erfolgte im Frühjahr und Sommer 2007. Zwischen Januar und März wurde die Truppenanzahl (damals 132.000) um 10.000 erhöht, bis zum Oktober 2007 um weitere 29.000. In diesem Monat wurde mit 171.000 Soldaten der Höchststand an US-Militärpräsenz erreicht. Danach sank die Zahl wieder – ein halbes Jahr später lag sie noch bei 153.000, im Januar 2009 bei 142.000. Zur Einordnung dieser Zahlen ist darauf hinzuweisen, daß die US-Truppenpräsenz bereits zuvor schon in ähnlichen Größenordnungen gelegen hatte: Zum Jahresbeginn 2005 waren schon bis zu 155.000 US-Soldaten im Einsatz gewesen, Ende 2005 sogar 160.000.  Die damals hohen Truppenstände hatten allerdings keinerlei Auswirkungen auf das Gewaltniveau – bzw. sie fielen sogar in Phasen der deutlichen Gewaltzunahme. Der surge bedeutete keine dramatische Verstärkung der US-Militärpräsenz. Und so wenig überzeugend es wäre, die hohen Truppenstände frühere Perioden als zentralen Grund für eine Zunahme der Gewalt im Irak verantwortlich zu machen, so wenig tragfähig wäre es, eine erneute Truppenverstärkung nun für die Ursache der Abnahme der Gewalt zu halten. Als geringfügig plausibler mag erscheinen, diese auf eine Veränderung der militärischen Taktik im Irak für die Ursache zurückzuführen (vor allem eine aktivere und sichtbarere Präsenz von US-Truppen in Bagdad). Aber auch dieser Faktor kann die Gewaltabnahme nicht wirklich erklären: So erfolgte die Verbesserung der Sicherheitslage häufig zuerst in Gebieten, die von dieser neuen Taktik nicht betroffen waren. Darüber hinaus hatte die Verminderung der Gewalt insgesamt bereits vor dem surge begonnen– so dass dieser als Ursache kaum in Betracht kommt.
Der Höhepunkt der Gewaltwelle im Irak wurde im Herbst 2006 und Winter 2006/2007 erreicht), also deutlich vor dem Beginn und noch deutlicher vor der möglichen Wirkung des surge, die kaum vor April/Mai 2007 eingetreten sein dürfte. Erst im Juni überschritt die Zahl der US-Truppen die Grenze von 150.000, die ja vor dem surge bereits früher zweimal übertroffen worden war, ohne Wirkung zu erzielen. Noch im April 2007 standen erst 146.000 US-Soldaten im Irak, also kaum mehr als im Herbst und Winter 2006, als die Gewalt bereits zurückzugehen begann.
Es ist wenig überraschend, dass die damalige US-Regierung die Verbesserung der Sicherheitslage auf ihre Politik im Allgemeinen und die Verstärkung der Truppen im Besonderen zurückführte – tatsächlich aber spricht nichts für, aber viel gegen eine solche Annahme. Ein direkter, kausaler Zusammenhang zwischen der mäßigen Erhöhung der Truppenstärke und dem Rückgang der Gewalt im Irak kann aufgrund der Faktenlage ausgeschlossen werden. Damit ist nicht gesagt, dass die Erhöhung der Truppenstärke wirkungslos war. Denn bei aus anderen Gründen sinkendem Gewaltniveau waren die Aufgaben des US-Militärs leichter zu bewältigen – und in einem solchen Kontext sind bei fast 40.000 zusätzlichen Soldaten und einer wirksameren Einsatzweise durchaus Effekte denkbar. Trotzdem bleibt die ursächliche  Rolle der Truppenerhöhung für die Gewaltverminderung auszuschließen.


Gründe für den Rückgang der Gewalt
In den Jahren 2006 bis 2008 wirkten sich im Irak drei politische Faktoren positiv auf die Sicherheitslage aus. Zu deren Einschätzung ist allerdings kurz an die Struktur des Krieges im Irak zu erinnern. Dieser erfolgt nämlich nicht entlang einer einzigen Konfliktlinie, sondern in der Verschränkung unterschiedlicher Gewaltkonflikte. Betrachten wir als Bezugszeitraum die Jahre 2004-2006, lassen sich folgende Kriegsdimensionen identifizieren: Zum einen führten sunnitische, dann auch schiitische Gruppen Krieg gegen ausländische Besatzungstruppen und die mit ihnen kooperierende Regierung. Zweitens gab es einen Bürgerkrieg zwischen sunnitischen und schiitischen Gruppen und Milizen, der sich auch gegen die Zivilbevölkerung der jeweils anderen Seite richtete. Drittens führten aus dem Ausland eingesickerte religiöse Extremisten einen Jihad mit regionaler Perspektive. Viertens und fünftens schließlich wurden innerhalb der sunnitischen und der schiitischen Bevölkerungsgruppen gewaltsame Machtkämpfe ausgetragen. Diese unterschiedlichen Kriegsdimensionen waren eng miteinander verknüpft, da viele Akteure an mehreren dieser Gewaltkonflikte beteiligt waren. So beteiligten sich einige sunnitische Gruppen am Jihad, bekämpften die US-Truppen und schiitische wie konkurrierende sunnitische Gruppen. Der Krieg war deshalb in den Jahren 2005 und 2006 besonders blutig und kaum zu beenden (weder gewaltsam noch politisch), da er eben nicht allein zwischen zwei disziplinierten Kriegsparteien ausgetragen wurde, sondern eigentlich eine Verknüpfung fünf unterschiedlicher Kriege darstellte. In einem so komplexen Umfeld war die bloße Steigerung der Zahl ausländischer Soldaten wenig erfolgversprechend.

In den Jahren 2006 und 2007 kam es zu politischen Entwicklungen, die die komplexe Grundstruktur des Krieges deutlich änderten.
Erstens: Die ausländischen Jihadisten um die Kämpfer von al Qaida hatten sich in einigen Regionen nicht auf den Kampf gegen die Regierung und ausländische Truppen beschränkt, sondern mit lokalen Verbündeten eigene quasi-staatliche Strukturen aufgebaut, die schließlich zu einem jihadistischen „Emirat“ zusammengeführt werden sollten. Im Zuge der Bildung solcher Gegenstaatlichkeit begangen die Extremisten eine Reihe von Fehlern, die ihre Unterstützung reduzierten: Zum einen wurden terroristische Anschläge und Massaker an schiitische Zivilisten von den meisten Sunniten abgelehnt, ebenso wie die Enthauptungen von entführten Irakern und Ausländern, die teilweise gefilmt und im Internet präsentiert wurden. Solche und ähnliche Praktiken untergruben die Legitimität des jihadistischen Kampfes in den Augen der sunnitischen Bevölkerung. Zugleich neigten die ausländischen Extremisten und ihre irakischen Partner dazu, in den von ihnen dominierten Gebieten mit großer Brutalität auch gegen die einheimische Bevölkerung vorzugehen, wenn diese sie nicht unterstützte. Auch viele Sunniten empfanden die Präsenz der Jihadisten zunehmend als Fremdherrschaft, die ihre Interessen ignorierte, ihre Autonomie bedrohte und die Sicherheitslage so verschärfte, dass ein normales Leben kaum noch möglich war. Immer öfter kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen sunnitischen Stämmen und den ausländischen Jihadisten, bei denen sich auch regierungs- und US-feindliche Teile der Bevölkerung gegen die Extremisten stellten und diese zunehmend für das größere Übel hielten. Vor diesem Hintergrund gerieten die eingesickerten Jihadisten in eine politische und gesellschaftliche Isolation, die den Druck auf die Regierung und die US-Truppen verminderte und diesen zugleich die Möglichkeit bot, Kooperationspartner in der sunnitischen Bevölkerung zu finden. Ein interner Bericht der US-Regierung formulierte:
„A realignment of Sunni tribes in Anbar was underway, and their loyalty was up for grabs. Ambassador Khalilzad had been quietly talking to them for months—Marine Corps officers had been doing so for years—and now it looked as if popular dissatisfaction with al Qaeda’s brutal tactics, along with its infringement on traditional tribal prerogatives, might drive them into the arms of the Coalition.“

Die US-Truppen verhielten sich in dieser Situation pragmatisch, indem sie sunnitische Stämme und Freiwillige finanziell und anderweitig beim Kampf gegen die Jihadisten unterstützten, zum Teil sogar monatliche Gehälter bezahlten. Diese anti-jihadistischen Milizen operieren unter sehr unterschiedlichen Namen, zusammengenommen werden sie oft als „Söhne Iraks“ oder „Erweckungsbewegung“, „Räte des Erwachens“ oder „Besorgte lokale Bürger“ genannt. Zur Jahresmitte 2008 waren rund 103.000 dieser Milizionäre offiziell bei den US-Streitkräften registriert. Ihr monatliches Gehalt variierte regional, lag aber im Durchschnitt bei knapp 300 US-Dollar.  Inzwischen werden viele dieser Kräfte von der irakischen Regierung bezahlt, in Bagdad bereits 95 Prozent – und künftig soll ein Fünftel von ihnen ins irakische Militär integriert werden.

Zweitens: Diese Politik der Kooptierung sunnitischer Stämme und Freiwilliger (insbesondere in der Problemprovinz Anbar und in Bagdad) erfolgte im Rahmen einer breiteren Politik der „Versöhnung“ mit den sunnitischen Bevölkerungssektoren, die nach dem Sturz Saddam Husseins politisch marginalisiert worden waren. Hier erfolgte eine schrittweise Trendwende, die einige der radikalsten Ent-Baathisierungsmaßnahmen rückgängig machte oder milderte. Das „Gesetz zu Recht und Verantwortlichkeit“ beispielsweise gestattete es früheren Mitgliedern mittlerer und niedriger Ränge der Baath-Partei, Pensionen zu beantragen oder in den Staatsdienst zurückzukehren. Bereits zuvor hatte man begonnen, frühere Polizisten, Soldaten und Offiziere aus der sunnitisch-arabischen Bevölkerung in die neuen Sicherheits- und Militärkräfte zu reintegrieren. Auch diese Politik trug dazu bei, die Entfremdung der sunnitischen Bevölkerung von der neuen, schiitisch-kurdisch dominierten Regierung und den politischen Spielraum der Aufständischen zu reduzieren.

Drittens: Parallel zu diesen Entwicklungen geriet die extremistische schiitische Bewegung des Predigers Muqtada Sadr, die in den Jahren zuvor immer mehr an Gewicht gewonnen hatte, in die politische Defensive. Dazu trug bei, daß die von ihm kontrollierte Mahdi-Miliz zunehmend disziplinlos und repressiv operierte und in konkurrierende Gruppen zerfiel, die von Sadr oft nicht mehr kontrolliert werden konnten.
In den Worten eines Miliz-Kommandanten:
„After we clashed with the occupation forces in Najaf, Karbala and Baghdad in 2004, Sayyid Muqtada al-Sadr noticed that our forces were weak even as membership was growing. Therefore, he started to reflect on how to control the militia. He formed courts and special units responsible for punishing law-breakers. Over time, the number of fighters who broke away from the leadership grew, and we discovered how difficult it had become to control them. This became particularly apparent in 2006. After the attacks against the Samarra’ shrine, we received clear orders not to attack Sunni mosques. We were told to protect Shiite districts from takfiriyin [Sunni extremists; literally, excommunicators] attacks. We sent many reports to our Najaf office explaining that numerous splinter groups had emerged and engaged in brutal retaliations and that fighters who joined them were completely out of control.“

Die Popularität der Bewegung in den ärmeren Stadtteilen von Bagdad und anderen Regionen wurde so stark beschädigt. Als Muqtada Sadr von Februar bis April 2007 nicht mehr in der Öffentlichkeit auftauchte, erodierte seine Macht weiter. Auch der bis 2006 gestiegene Einfluss seiner Bewegung in Regierung und Staatsapparat verminderte sich, unter anderem wegen zunehmender Konflikte zwischen ihr und den schiitischen Parteien Dawa und SCIIRI. Im April 2007 zog Muqtada Sadr seine Minister aus der Regierung zurück. Die Schwächung und teilweise Diskreditierung der Sadr-Bewegung im Winter 2006 und Frühjahr 2007 sowie ihre weitere Fragmentierung trugen dazu bei, dass Muqtada Sadr im folgenden August einen einseitigen Waffenstillstand verkündete. Seine in Najaf publizierte entsprechende Erklärung formulierte unter anderem:
"I direct the Mahdi army to suspend all its activities for six months until it is restructured in a way that helps honour the principles for which it is formed. … We call on all Sadrists to observe self-restraint, to help security forces control the situation and arrest the perpetrators and sedition mongers, and urge them to end all forms of armament in the sacred city. … We call on Sadrists not to target the offices of political parties all over Iraq and the SIIC's offices in Sadr city [Baghdad's large Shia district loyal to Sadr] in particular."
Die Ursache dieses später mehrfach verlängerten Gewaltverzichts eines der zentralen nichtstaatlichen Gewaltakteure dürfte insbesondere im – nur mäßig erfolgreichen – Versuch gelegen haben, seine teilweise außer Kontrolle geratene Miliz zu disziplinieren. Der Effekt lag aber in einer direkten Reduzierung des Gewaltniveaus gegen Sunniten, konkurrierende schiitische Organisationen und die US-Truppen.

Insgesamt dürften die wichtigsten Gründe für eine Verminderung der Gewalt also in politischen, nicht militärischen Faktoren liegen, insbesondere in der Isolierung der ausländischen Jihadisten von ihrem bisherigen Umfeld und der Bekämpfung dieser Gruppen durch sunnitische Stämme, ehemalige Aufständische und Freiwillige. Dazu kam der Waffenstillstand der sadristischen Milizen, die das US-Militär noch 2006 als gefährlichste gewaltsame Gruppe betrachtet hatte. Weitere politische Faktoren trugen zu einer Beruhigung bei, so die Politik der nationalen Versöhnung mit der arabisch-sunnitischen Bevölkerung, aber auch die erkennbare Stärkung und das wachsende Selbstbewusstsein des neuen irakischen Staatsapparates und der Regierung Maliki. Auf diesen Faktor wird zurückzukommen sein.

Erst vor dem Hintergrund dieser politischen Entwicklungen konnten sicherheitspolitische Maßnahmen den ihnen zugedachten Zweck erfüllen. Hier wäre zuerst einmal der Auf- und Ausbau des irakischen Sicherheitsapparates zu nennen, der nach dem Sturz Saddam Husseins durch die US-Besatzungsbehörden lange vernachlässigt worden war. Die Größe des irakischen Sicherheitsapparates (Polizei, Nationalgarde, Militär, Grenzpolizei) nahm dramatisch zu: Sein Umfang stieg von Januar 2007 bis Dezember 2008 von 323.000 auf 589.000 (bei einer Gesamtbevölkerung von 28 Millionen) – worin die erwähnten sunnitischen Milizen ebenso wenig enthalten sind wie die der regierungsnahen Parteien. Zugleich stieg der Anteil militärischer Einheiten, die tatsächlich für die Aufstandsbekämpfung einsatzfähig waren – in den ersten Jahren bestanden viele Truppenteile nur auf dem Papier oder waren von geringem Wert. Von April 2006 bis Januar 2009 stieg die Anzahl der allein oder mit Unterstützung ausländischer Truppen einsatzfähigen Bataillone von 52 auf etwa 140. 
Betrachten wir diese Faktoren im Zusammenhang, relativiert sich die Bedeutung des US-amerikanischen surge. Aber dennoch bedeutet dies nicht, dass er wirkungslos gewesen sei, im Gegenteil: Es ist offensichtlich, dass die Wirksamkeit US-amerikanischer Truppen angesichts ihrer sinkenden Überforderung gewachsen sein dürfte. Eine mäßig vergrößerte US-Truppe mit effektivierten Einsatztaktiken wird bei sinkender Bedrohung, einem günstigeren politischen Umfeld und deutlich geschwächten Aufständischen und einem massiv gewachsenen irakischen Sicherheitsapparat weit bessere Rahmenbedingungen und Einsatzmöglichkeiten vorfinden und deshalb auch wirksamer operieren können. Diese Veränderung war nicht so sehr der Aufstockung der US-Militärpräsenz geschuldet, sondern auf die erwähnten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zurückzuführen, in deren Rahmen sie stattfand. Dies ist sicher eine wichtige Lehre für Afghanistan und andere Aufstandssituationen. Eine bloße Verstärkung fremder Truppen ohne die nötigen politischen Voraussetzungen für ihren Erfolg wird wirkungslos bleiben oder Konflikte gar verschärfen, wie dies bei US-Truppenverstärkungen im Irak vor Jahresbeginn 2007 der Fall war.


Ausblick auf die Chancen zukünftiger Stabilisierung

Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen
Die langfristige Stabilisierung des Landes hängt mittelfristig maßgeblich davon ab, ob nicht nur die Gewalt weiter abnimmt, sondern sich auch das Leben der Bevölkerung insgesamt normalisiert. In dieser Hinsicht sind teilweise Fortschritte zu verzeichnen, während in manchen Bereichen die Lage weiterhin dramatisch bleibt. Insgesamt ist die Lebenssituation der Bevölkerung noch ausgesprochen schwierig, die Fortschritte sind fragil. Positiv entwickelt hat sich 2008 die Energieversorgung. Von Mai 2008 bis Februar 2009 stieg die Dauer der täglichen Stromversorgung von 7,2 auf 15,1 Stunden – ein Hinweis für eine immer noch dramatisch schlechte Lage, aber doch eine deutliche Verbesserung zu den letzten Jahren, auch wenn das Niveau der Vorkriegszeit damit immer noch nicht erreicht ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich in den letzten Jahren kaum verändert, sie liegt seit 2004 bei geschätzten 25-40 Prozent. Das Wirtschaftswachstum beträgt seit 2005 zwischen 3,7 und für das letzte Jahr erwarteten 7 Prozent – ausgehend von einem verheerend niedrigen Ausgangsniveau nach zwölf Jahren internationaler Sanktionen und dem Krieg von 2003. Die Zahl der Ärzte im Irak liegt gegenwärtig bei nur rund 16.000 – deutlich weniger als seit dem Sturz Saddams das Land verlassen haben. Die Ölproduktion schwankt seit Anfang 2007 zwischen 2 und 2,5 Mill. Fass pro Tag – wobei aufgrund des eingebrochenen Ölpreises die Einnahmen aus dem Ölexport von 7 Mrd. Dollar (Jahresmitte 2008) auf nur noch 1,8 Mrd. (Januar 2009) fielen. Insgesamt ergibt sich ein widersprüchliches Bild, in dem einige Fortschritte wichtigen Problembereichen gegenüberstehen. Ein Indikator dieser Situation ist die Zahl der internen Vertriebenen und ins Ausland Abgewanderten bzw. Geflüchteten. Die Zahl der im Land neu Vertriebenen sank von Anfang 2007 bis Mai 2008 von monatlich 90.000 auf nur noch 10.000 – sicher ein Hinweis auf eine Entspannung der Lage. Andererseits darf nicht vergessen werden, dass weiterhin (Jahresdurchschnitt 2008) fast 2,7 Millionen Menschen innerhalb des Iraks vertrieben sind (konstant zum Vorjahr), dazu kommen 2,2 bis 2,4 Millionen Iraker, die inzwischen im Ausland leben (August 2008). Damit haben fünf der 28 Millionen Iraker ihren Wohnsitz verloren.
Insgesamt bleibt die sozio-ökonomische Lage der Bevölkerung also höchst schwierig – und wenn diese Probleme nicht in absehbarer Zeit gelöst werden, dürfte die Gefahr bestehen, die Geduld der Bevölkerung zu überfordern und die Chancen der politischen Verbesserungen seit 2007/2007 aufs Spiel zu setzen.


Die Provinzwahlen von Januar 2009
Die Provinzwahlen des Jahres 2005 hatten unter schwierigen Bedingungen stattgefunden: Einerseits war die Sicherheitslage in großen Teilen des Landes – insbesondere in überwiegend von sunnitischen Arabern bewohnten Gebieten – höchst schwierig gewesen, darüber hinaus hatten die meisten Sunniten die Wahlen boykottiert. So hatten auf diese Weise in gemischt besiedelten Provinzen, zum Teil selbst in überwiegend sunnitischen, die kurdischen und schiitischen Parteien die Macht übernommen, so dass teilweise Provinzregierungen zustande kamen, die der ethno-religiösen Zusammensetzung der Provinzen kaum entsprachen. In den Jahren danach zeigte sich, dass die meisten Provinzregierungen sich darüber hinaus durch geringe Effizienz und hohe Korruption auszeichneten.
Die Wahlen im Januar 2009 verliefen demgegenüber unter relativ entspannten Sicherheitsbedingungen. Auch die sunnitischen Parteien nahmen diesmal teil. Die Wahlbeteiligung lag trotzdem mit 51 Prozent relativ niedrig. Im Vorfeld der Wahlen hatte es lange Auseinandersetzungen um das Wahlgesetz gegeben, insbesondere bezüglich der zwischen Kurden einerseits und Arabern und Turkmenen andererseits umstrittenen, ölreichen Provinz Kirkuk. Die Provinzwahlen fanden schließlich nur in 14 der 18 irakischen Provinzen statt – in Kirkuk und den drei kurdischen Provinzen sollen sie nach Lösung der Streitfragen nachgeholt werden.

Das Wahlergebnis markierte einen deutlichen Umbruch in der irakischen Politik. Die Partei des Ministerpräsidenten Maliki setzte sich deutlich durch, ohne allerdings klare eigene Mehrheiten zu erreichen. Die Partei des extremistischen Predigers Muqtada Sadr war an der Wahlteilnahme gehindert worden, da sie über eine Miliz verfügt (was bei regierungsnahen Parteien diskret übersehen worden war) – konnte aber trotzdem durch ihr nahestehende Kandidaten eine Anzahl von Mandaten gewinnen. Klarer Verlierer der Wahl war die Iran-nahe, schiitisch-islamistische ISCI (bis 2007 SCIRI), die nach dem Sturz Saddam Husseins die wichtigste Partei des Landes gewesen war und zusammen mit den säkularen kurdischen Parteien die Politik des Landes dominiert hatte. In einem gewissen Sinn stellt der Wahlsieg Malikis ein ermutigendes Zeichen dar: Auch wenn seine Dawa-Partei wie ISCI dem schiitisch-islamistischen Lager zuzurechnen ist, hatte er sich in den letzten Jahren vor allem als national argumentierender und handelnder Politiker profiliert, der öffentlich für Rechtsstaatlichkeit und die nationale Einheit über die Grenzen der religiösen und sprachlichen Unterschiede hinweg eintrat. Seine Konfrontation mit der Mahdi-Armee Muqtada Sadrs hatte ihm durchaus auch bei säkularen Schiiten und Sunniten Ansehen verschafft. Darüber hinaus hatte sich sein Image von einem eher schwachen Kompromisskandidaten zu einem „starken Mann“, der auch durchgreifen konnte, gewandelt. So wurde die Verbesserung der Sicherheitslage zum großen Teil ihm zugeschrieben. Die Stärkung Malikis war deshalb überwiegend darauf zurückzuführen, dass er als Gegenkraft zur ethno-religiösen Spaltung des Landes wahrgenommen wurde und zunehmend die Einheit des Iraks verkörperte. Insofern könnte die Provinzwahl ein Indiz dafür sein, dass die Fragmentierung der irakischen Gesellschaft zum Stillstand kommt. Ein weiterer positiver Aspekt der Wahl dürfte darin bestehen, dass durch sie eine ganze Reihe unfähiger und korrupter Provinzregierungen abgelöst wurde und in Provinzen mit signifikantem sunnitischen Bevölkerungsanteil nun repräsentativere Regierungen ins Amt gelangten. Auch die Integration der Sunniten ins politische System dürfte so einen Schritt weitergetrieben werden.


Neue Probleme und die Möglichkeit einer Beendigung des Krieges
Die weitere Senkung des Gewaltniveaus und die Aussicht, dass der Krieg schließlich endet, hängen primär von politischen Faktoren ab, insbesondere der Entwicklung des Verhältnisses der wichtigsten ethno-religiösen Gruppen (sunnitische und schiitische Araber, Kurden) zueinander und davon, ob die machtpolitische Konkurrenz innerhalb dieser Gruppen im Rahmen staatlicher Institutionen geregelt werden kann. Nur wenn diese politischen und gesellschaftlichen Fragen konstruktiv bearbeitet werden, können sicherheitspolitische Maßnahmen flankierend zur Stabilisierung beitragen und schließlich die nicht-integrierbaren politischen Restgruppen repressiv marginalisieren. In dieser Hinsicht haben die beiden letzten Jahre Fortschritte erbracht, aber zugleich möglicherweise neue Konfliktlinien eröffnet. Die Integration der arabisch-sunnitischen Bevölkerungsgruppen ins politische System hat Fortschritte gemacht, ist aber noch nicht abschließend vollzogen und wird immer wieder verzögert oder unterbrochen. Die Schwierigkeiten und wiederholten Rückschläge bei der Reintegration nicht- oder geringbelasteter ehemaliger Baath-Parteimitglieder und die bisher unbefriedigende Umsetzung der entsprechenden Gesetze unterstreichen dies. Zweitens darf nicht übersehen werden, dass die Stärkung des national auftretenden Ministerpräsidenten Maliki und der Ausbau des Staatsapparats zur kurz und mittelfristigen Stabilisierung des Landes beigetragen haben, dass aber die Gefahr besteht, dass gerade dieser Erfolg neue Konflikte im arabisch-schiitischen Lager auslösen könnte: Sowohl die ISCI als auch die Sadr-Bewegung sind deutlich geschwächt – und es ist nicht auszuschließen, dass dies bei ihnen zu einer Politik der Konfrontation führen könnte. Ob beide schiitischen Strömungen ihrer weiteren Schwächung ohne Gegenwehr zusehen werden, ist durchaus zweifelhaft – und beide sind trotz ihres Verlustes an Einfluss durchaus noch relevante Machtfaktoren. Ähnliches gilt für das Verhältnis der Zentralregierung zu den kurdischen Parteien und der kurdischen Regionalregierung: Die nationale Einheitsrhetorik Malikis und sein Vorgehen gegen kurdische Interessen in der Provinz Diyala und in Kirkuk, sowie seine zunehmend kritischen Äußerungen zur Politik der kurdischen Regionalregierung könnten eine Konfrontation zwischen der Zentralregierung und den kurdischen Parteien in Gang setzen, deren Ausgang offen ist. Die kurdischen Politiker haben kein Interesse an einem starken irakischen Nationalstaat, der als eine Bedrohung der eigenen Autonomie aufgefasst wird. Deshalb wird die Stärkung der irakischen Regierung und des zentralen Staatsapparates Gegenkräfte auf den Plan rufen, möglicherweise auch im Südirak.

Darüber hinaus könnten sich auch die Erfolge bei der Aufstandsbekämpfung in den sunnitischen Siedlungsgebieten längerfristig als zwiespältig erweisen: Sie beruhen zum großen Teil auf einer Mobilisierung der Stämme gegen die ausländischen Jihadisten – und gehen damit das Risiko ein, die Bedrohungen durch religiösen Extremismus und eine ethno-konfessionelle Spaltung des Landes durch eine Stärkung der Stammesstrukturen zu bekämpfen. Dies allerdings kann mittel- und längerfristig mit dem Ziel des Aufbaus eines funktionierenden Staates kollidieren, da die Stämme dazu neigen könnten, ihre Autonomieansprüche nicht nur gegen die religiösen Extremisten, sondern auch gegen staatliche Stellen zu verteidigen.
Sollte es gelingen, diese vier politischen Kernaufgaben (Integration der Sunniten, Organisation einer friedlichen Machtkonkurrenz unter den Schiiten, Vermeidung eines ernsten Konflikte mit den kurdischen Parteien, Vermeidung einer „Tribalisierung“ der Politik) zu lösen, dürfte sich die Sicherheitslage im Irak schrittweise weiter verbessern, wobei kurzzeitige Rückschläge nicht ausbleiben werden. Es wird sicher nicht zu einem plötzlichen und formellen Friedensschluss kommen, aber der Krieg dürfte sich auf Dauer erschöpfen. In einem solchen Szenario können irakische und internationale Sicherheitskräfte flankierend zu einer Stabilisierung beitragen. Eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation könnte dies unterstützen.
Falls diese politischen Schlüsselaufgaben allerdings nicht bewältigt werden sollten, könnte sich die Lage im Irak erneut zuspitzen – und die Folgen würden davon abhängen, wie viele und ggf. welche dieser politischen Aufgaben ungelöst bleiben sollten. Im worst-case Szenario eines umfassenden Scheiterns wäre eine deutliche Zunahme der Gewalt und eine Verlängerung des Krieges – wenn auch mit veränderten Konfliktlinien – nicht auszuschließen. Und in einem solchen Fall sollte man sich keine Hoffnungen machen, durch ausländische Truppen den Irak stabilisieren zu können. Sie würden nur die Zahl der Konfliktparteien und der Bewaffneten vergrößern und im günstigsten Fall einen unhaltbaren Zustand zeitweilig einfrieren, gleichwohl aber den Krieg in die Länge ziehen und so die Opferzahl steigern. Im Irak hängt die Chance zu einem Austrocknen des Krieges an der Lösung der politischen Grundprobleme, nicht am Umfang der inländischen und noch weniger des ausländischen Militäreinheiten. Es wäre zu wünschen, dass diese Lehre aus dem Irakkrieg auch in Bezug auf Afghanistan gezogen würde.


Anmerkungen

(1)  Brookings Institution, Iraq Index - Tracking Variables of Reconstruction & Security in Post-Saddam Iraq, 19. Februar 2009, S. 4, 6, 14, 19; in: www.brookings.edu/saban/~/media/Files/Centers/Saban/Iraq Index/index.pdf.

(2)  Ebenda, S. 24.

(3)  Office of the Special Inspector General for Iraq Reconstruction, Hard Lessons: The Iraq Reconstruction Experience, Draft Report, 2008, S. 532.

(4)  Brookings Institution, Iraq Index - Tracking Variables of Reconstruction & Security in Post-Saddam Iraq, February 19, 2009, S. 11; in: www.brookings.edu/saban/~/media/Files/Centers/Saban/Iraq Index/index.pdf.

(5)  zitiert nach: International Crisis Group: Iraq’s Civil War, the Sadrists and the Surge, Crisis Group Middle East Report Nr. 72, 7. Februar 2008, S. 8.

(6)  Zitiert nach: Damien McElroy: Moqtada al-Sadr announces ceasefire in Iraq, in: The Telegraph (London), 30. August 2007, in: www.telegraph.co.uk/news/worldnews/1561731/Moqtada-al-Sadr-announces-ceasefire-in-Iraq.html.

(7)  Vg. Brookings Institution: Iraq Index - Tracking Variables of Reconstruction & Security in Post-Saddam Iraq, February 19, 2009, S. 33; in: www.brookings.edu/saban/~/media/Files/Centers/Saban/Iraq Index/index.pdf.



Quelle:

Jochen Hippler
Ende in Sicht? Das sinkende Gewaltniveau im Irakkrieg und die Chancen einer dauerhaften Stabilisierung;
in: Jochen Hippler, Christiane Fröhlich, Margret Johannsen, Bruno Schoch, Andreas Heinemann-Grüder (Hrsg.);
Friedensgutachten 2009,
Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), u.a., Münster 2009, S. 73-84

 

 

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