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Pakistan als Atommacht

 

 

Aus gutem Grund herrscht in vielen Ländern große Besorgnis über die pakistanischen Atomwaffen, auch wenn das iranische Atomprogramm in der Diskussion weit mehr Aufmerksamkeit erfährt. Dabei ist nicht immer klar, warum dies nicht in gleichem Maß für die indischen, israelischen, nordkoreanischen Atomwaffen oder die der "offiziellen" Atommächte gilt. Möglicherweise spielt eine Rolle, daß es sich um eine "islamische Bombe" handelt. Dazu kommt, daß Pakistan in einer höchst instabilen Region liegt und selbst durch politische Gewalt erschüttert wird. Die pakistanischen Atomwaffen werden im Land von einem breiten Konsens in der Bevölkerung getragen, stellen aber international aus zumindest drei Gründen ein ernstes Problem dar: Wegen der immer wieder höchst gespannten Beziehungen zum Nachbarland Indien, was zuletzt 1999 und 2002 bis an den Rand eines großen Krieges führte. Zweitens wird immer wieder die Gefahr diskutiert, daß die pakistanischen Atomwaffen "in die falschen Hände fallen" könnten - entweder durch einen internen Umsturz bzw. die Machtergreifung religiöser Extremisten, oder durch Proliferation an Drittstaaten oder gar substaatliche, möglicherweise terroristische Gruppen. Ein zentrales Problem besteht also in einem möglichen kriegerischen Einsatz der Waffen, ein anderes in ihrer mangenden Sicherheit und Kontrolle sowie der Gefahr der Weiterverbreitung. Insbesondere dieser Aspekt ist wissenschaftlicher Analyse nur teilweise zugänglich, da eine verlässliche Daten- und Informationsbasis nur rudimentär existiert.

Der historische und strategische Rahmen

Nach eher bescheidenen Anfängen Mitte der 1960er Jahre begann die Arbeit am pakistanischen Atomwaffenprogramm in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, direkt nach der Niederlage im Krieg gegen Indien und dem Verlust seiner damaligen östlichen Landeshälfte, des heutigen Bangla Desh. Nachdem Indien bereits 1974 einen Atomsprengkopf testete, wurde das pakistanische Programm mit verstärktem Nachdruck verfolgt. Es ist wahrscheinlich, daß Pakistan bereits seit Mitte der 1980er Jahre über erste Sprengköpfe verfügte, auch wenn dies offiziell weder bestätigt noch dementiert wurde. Erst als Indien im Mai 1998 erneut fünf Atomsprengköpfe zu Testzwecken detonierte, zog Pakistan am 28. und 30. Mai mit sechs eigenen Atomwaffentests nach, die 5 bzw. 10 Kilotonnen stark gewesen sein sollen. Damit wurde international bekannt, daß Pakistan über funktionierende Sprengköpfe verfügt und zur Atommacht geworden war. Die USA verschärften bereits zuvor aufgrund des Pressler-Amendments verhängte Sanktionen, die allerdings nach dem 11. September 2001 aufgehoben wurden, als man Pakistan im "Krieg gegen den Terrorismus" bzw. als Verbündete im Kampf gegen al Qaida und die Taliban benötigte. Seitdem unterstützten die USA Pakistan trotz seiner Atomwaffen mit rund 13 Mrd. Dollar an überwiegend militärischer, aber auch ziviler Hilfe.

Es ist offensichtlich, daß die pakistanischen Atomwaffen dazu dienen sollen, die spätestens seit 1970/71 bestehende strategische Unterlegenheit gegen Indien auszugleichen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Pakistan unter großen Schwierigkeiten und mit sinkendem Erfolg versucht, eine notdürftige strategische Parität mit dem weit größeren Nachbarn aufrechtzuerhalten. Die aus der blutigen Teilung des britisch-indischen Kolonialreiches in die beiden neuen Staaten Indien und Pakistan resultierende Feindschaft hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt in drei Kriegen niedergeschlagen. Nach dem letzten allerdings war der pakistanische Anspruch auf Gleichrangigkeit und Parität nicht mehr zu halten: Man hatte mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung und einen großen Teil des Staatsgebietes verloren und sah sich zukünftig zwischen einem unfreundlichen Afghanistan (u.a. Streit um den Grenzverlauf, die koloniale Durand-Linie) und einem übermächtigen Indien eingeklemmt, dazu war die strategische Tiefe des Landes im Falle zukünftiger Kriege gegen Indien zu gering, von der deutlichen zahlenmäßigen Unterlegenheit der eigenen Streitkräfte einmal abgesehen. Deshalb erschienen Atomwaffen - über die Indien zusätzlich noch verfügte - als Ausweg, nicht in eine hoffnungslose Unterlegenheit zu geraten, sondern ihr Abschreckungspotential als Schutzschild vor der konventionellen Überlegenheit Indiens zu nutzen. Die gegenseitige Abschreckung scheint funktioniert zu haben. Vor den bereits erwähnten Beinahe-Kriegen von 1999 und 2001/2002 hatte es bereits 1986/87 und 1990 schwere krisenhafte Zuspitzungen gegeben, in denen Kriege nicht ausgeschlossen werden konnten. In allen diesen Fällen konnte diese Gefahr vermieden werden, wozu möglicherweise das Risiko eines Atomkrieges - und internationale, insbesondere US-amerikanische Warnungen beitrugen. Zugleich zeigte sich allerdings, daß die wechselseitige atomare Abschreckung zwar einen großen Krieg verhindern mochte, allerdings Grenzscharmützel oder sogar ernsthafte taktische Gewaltkonflikte (insbesondere an der kaschmirischen Waffenstillstandslinie) möglich bleiben oder gar vom nuklearen Schutzschirm erleichtert wurden. Der unsinnige Kleinkrieg von Kargil unterstrich 1999 diesen Punkt, da er kaum zufällig einige Monate nach den Atomtests beider Länder begann.

Sprengköpfe und Trägersysteme

Die pakistanischen Streitkräfte verfügen über schätzungsweise 60-80 Atomsprengköpfe aus jeweils 15-20 kg hochangereichertem Uran. Dieses wird im Forschungsreaktor von Kahuta (in der Nähe von Islamabad, mit Unterstützung Kanadas, Chinas und Frankreichs gebaut) produziert. Gegenwärtig dürfte jährlich mit mindestens 100 kg an zusätzlichem waffenfähig angereichertem Uran zu rechnen sein. Daneben wird seit 1998 in einem Schwerwasserreaktor in Khushab (im Punjab, 40-50 Megawatt) auch Plutonium produziert. Dort befindet sich allerdings mindestens ein zweiter Reaktor im Bau (evtl. bereits ein dritter), der deutlich mehr waffenfähiges Plutonium produzieren wird. Darüber hinaus verfügt Pakistan über eine Anreicherungsanlage, eine oder zwei weitere scheinen sich in der Bauphase zu befinden. Daraus läßt sich insgesamt schließen, daß Pakistan einerseits an einer deutlichen Vergrößerung seines Atompotentials arbeitet und die Zahl der verfügbaren Sprengköpfe zu erhöhen trachtet, daß es gleichzeitig ein großes Interesse besitzt, neben Sprengköpfen aus hochangereichertem Uran auch solche aus Plutonium zu entwickeln bzw. einsatzfähig zu machen. Die pakistanische Regierung hat ihre Bestrebungen der nuklearen Aufrüstung mehrfach damit begründet, so auf die konventionelle und atomare Aufrüstung Indiens reagieren zu müssen. Dabei geht es allerdings nicht allein oder primär um die quantitative Zunahme des indischen Potentials an Sprengköpfen, sondern den strategischen Gesamtrahmen: Etwa die seit 2008 vertraglich gefaßte nukleare Zusammenarbeit Indiens mit den USA, die Pakistan benachteilige, die Indienststellung nuklear angetriebener U-Boote mit Atomschlagkapazität durch Indien, oder verbesserte Aufklärungs- und Spionagefähigkeiten und präzisere Ziel- und Steuerungssysteme Indiens, die die eigene Verwundbarkeit erhöhen.

An Trägersystemen für Atomwaffen verfügt Pakistan über eine Serie von Raketensystemen mit unterschiedlicher Reichweite sowie über Flugzeuge. Über nukleare Artillerie scheint Pakistan bisher nicht zu verfügen. Bei den Flugzeugen sind amerikanische Kampfflugzeuge des Typs F-16 (1600 km Reichweite) zentral, die allerdings für ihre nukleare Einsatzfähigkeit in Pakistan technisch modifiziert werden müssen. Nachdem es jahrelang Streit um von Pakistan bereits bezahlte, aber von den USA nicht gelieferte F-16 gab, wurde diese Hürde nach dem 11. September 2001 überwunden: 2006 schloß Pakistan mit Washington einen Vertrag über die Lieferung von 36 zusätzlichen F-16 und die Modernisierung bereits gelieferter älterer Modelle. Die F-16 können damit als Kern der luftgestützten Atomschlagskapazität Pakistan betrachtet werden. Zusätzlich allerdings spricht einiges dafür, daß die pakistanische Luftwaffe auch französische Mirage III und V und chinesische A-5 Flugzeuge für nukleare Einsätze modifizierte, als der Streit mit den USA um die F-16 noch nicht gelöst war.

Atomare Trägersysteme

Aircraft / Missile

Range

Source

Status

F-16 A/B

925 km

United States

35 planes in inventory

Mirage 5 PA

1,300 km

France

50 planes in inventory

Hatf 1

80—100 km

Indigenous

In service since mid-1990s

Hatf 2 (Abdali)

180 km

Indigenous/China

Tested in May 2002, in service

Hatf 3 (Ghaznavi)

300 km

Indigenous/China

M-11, tested May 2002, in service

Hatf 4 (Shaheen 1)

600—800 km

Indigenous /China

First tested October 2002, in service

Hatf 5 (Ghauri 1)

1,300—1,500 km

Indigenous/DPRK

No Dong, tested May 2002, in service

Hatf 5 (Ghauri 2)

2,000 km

Indigenous/DPRK

No Dong, tested April 2002, in development

Hatf 6 (Shaheen 2)

2,000—2,500 km

Indigenous/China

First tested March 2004, in development

Hatf 7 (Babur)

500 km GLCM

Indigenous/China?

First tested August 2005, in development

Darüber hinaus verfügt das pakistanische Heer über Raketen als Trägersystem für Nuklearwaffen im Kurz- und Mittelstreckenbereich. Die Raketen vom Typ Ghaznavi und Shaheen verfügen über Reichweiten von 400 - 450 km, die Ghauri von bis zu 1300 km. Und die Shaheen-2 dürfte bald stationierungsfähig sein und über eine Reichweite von 2000 km verfügen. Darüber hinaus werden boden- und luftgestützte, nuklearfähige cruise missiles mit einer Reichweite von jeweils über 300 km entwickelt.

Kommandostruktur

Die Kommandostruktur oberhalb der drei Waffengattungen besteht aus der National Command Authority (NCA) und der Strategic Plans Division (SPD). Die NCA leitet und koordiniert alle Aspekte des militärischen Nuklearprogramms, einschließlich der Forschung, Entwicklung, Stationierung und möglichen militärischen Einsatzes. Sie wird vom Präsidenten bzw. Ministerpräsidenten geleitet, ihr gehören die einschlägigen Minister und die militärische Führung an. Ein Einsatz atomarer Waffen setzt einen Konsens in der NCA voraus. Es besteht aus zwei Ausschüssen, dem Employment Control Committee (ECC), das die Aufsicht über alle Atomwaffen verfügt, und dem Development Control Committee (DCC), das allen pakistanischen Forschungs- und Entwicklungsorganisationen übergeordnet ist, die mit dem militärischen Atomprogramm zu tun haben und diese organisatorisch und finanziell kontrolliert und anleitet.

Demgegenüber steht das der NCA untergeordnete SPD unter militärischer Führung und bildet das Scharnier zu den Strategischen Kommandos der drei Waffengattungen, die die Nuklearwaffen operationell kontrollieren. Unter ihrer Leitung werden die Nukleardoktrin und Einsatzplanung erarbeitet und mit den jeweiligen Strategischen Kommandos abgestimmt.

Proliferation

Eine führende Rolle bei der Entwicklung des militärischen Nuklearprogramms spielte seit Mitte der 1970er Jahre der in Deutschland, den Niederlanden und Belgien ausgebildete Atomwissenschaftler Abdul Qadeer Khan. Aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit zu Beginn der 1970er Jahre gelang es ihm, in den Niederlanden Pläne für die Anreicherung von Uran zu stehlen und Kontakte zu europäischen Firmen und Kollegen aufzubauen, die er ab 1974 nutze, um das pakistanische militärische Atomprogramm voranzutreiben. Darüber schuf er ein Netzwerk von Firmen in verschiedenen Ländern, darunter in Malaysia, Singapur, Dubai, der Türkei und anderswo. Dieses Netzwerk diente dem verdeckten Import nukleartechnologischer Komponenten und entsprechenden Know-hows. Später nutzte er es zugleich für den Export sensibler Nukleartechnologie in Drittländer, vor allen nach Libyen, in den Iran und nach Nordkorea. Darüber hinaus kam es zu Exportversuchen in arabische Länder wie möglicherweise den Irak, nach Syrien oder Saudi Arabien. In diesen Fällen scheint es allerdings zu keinen relevanten Verkäufen gekommen zu sein. 2001 wurde A.Q. Khan in Pakistan verhaftet und legte später ein Geständnis ab, illegal Atomkomponenten und Pläne exportiert zu haben. Interessanterweise kam es allerdings auch noch in den ersten Jahren nach seiner Verhaftung zu weiteren Exporten.

Der nukleare Technologieexport des Khan-Netzwerks war hochgradig besorgniserregend. Dies lag nicht an der Tatsache des atomaren Technologietransfers an Staaten wie Iran, Libyen und Nordkorea allein, sondern auch an zwei weiteren Aspekten. Einmal war es kaum vorstellbar, daß es A.Q. Khan über lange Jahre gelungen sein könnte, seine illegalen Aktivitäten in einem so sensiblen Bereich ohne Kenntnis und Rückendeckung durch die Geheimdienste, das Militär und die Regierung durchzuführen. Auch seine behutsame Behandlung durch die Behörden nach der Verhaftung und baldige Begnadigung deuten auf deren Verwicklung hin. Es gab immer wieder Gerüchte, er habe Unterlagen beiseitegeschafft, um deren Verwicklung belegen zu können. Zweitens aber handelt es sich beim Fall dieser nuklearen Weiterverbreitung nicht allein um ein pakistanisches Problem, sondern auch ein europäisches und internationales: Europäische Geschäftsleute haben sich bewußt und aktiv an den kriminellen Machenschaften beteiligt, europäische Wissenschaftler waren Teil dieses Netzwerkes, und europäische Regierungen haben mit erschreckender Nachläßigkeit auf jahrelang bestehende Verdachtsmomente reagiert. Manche Lieferung nuklearer oder nuklearfähiger Komponenten und Technologie erfolgten durchaus legal oder in einem Graubereich der Legalität, andere unter Brechung rechtlicher Vorschriften. Eine Reduzierung der politischen Verantwortung auf ein kriminelles Netzwerk und die pakistanische Regierung greift damit zu kurz.

Heute entspringt die Gefahr nuklearer Proliferation oder des tatsächlichen Einsatzes von Nuklearwaffen aus oder durch Pakistan aus folgenden möglichen Quellen:

 

  • Der Möglichkeit eines Krieges mit Indien, der unter Umständen auf nukleares Niveau eskalieren könnte. Auch wenn diese Gefahr aufgrund einer graduellen Verbesserung der bilateralen Beziehungen seit 2002 abgenommen hat, so ist sie aufgrund der Erfahrungen früherer Kriege und Beinahe-Kriege nicht von der Hand zu weisen. Zu ihrer Verminderung steht die internationale Gemeinschaft vor der Aufgabe, den Dauerkonflikt um Kaschmir endlich beilegen zu helfen. Da dieser Aspekt allerdings mit dem Proliferationsproblem wenig zu tun hat, wird er im folgenden nicht weiter verfolgt.
  • Die Gefahr einer Weiterverbreitung von nuklearem Know-how, nuklearer Komponenten oder Sprengköpfe an Dritte, entweder durch staatliche Stellen, oder private Netzwerke bzw. Einzelpersonen.
  • Die Sicherheit des pakistanischen Atompotentials vor Diebstahl oder terroristischen Anschlägen.
  • Die Auswirkungen der politischen Instabilität auf die Sicherheit und Kontrolle über die Atomwaffen, insbesondere die Gefahr eines Umsturzes und der Machtübernahme durch religiöse Extremisten.

Offensichtlich hängen die drei letzten Punkte eng zusammen. Wenn man eine geplante Weitergabe pakistanischer Atomwaffen oder einzelner Komponenten durch die Regierung oder das Militär einmal beiseite läßt - und dafür lassen sich zumindest in den letzten Jahren keinerlei Hinweise finden und würde unter den gegenwärtigen internationalen Rahmenbedingungen auch den eigenen Interessen widersprechen - dann hängen ein Diebstahl, die Proliferation durch Mitglieder des Nuklearpersonals und die Möglichkeit von Anschlägen auf atomare Einrichtungen alle vom Grad der Sicherung des Atomprogramms ab. Nur im Falle einer Übernahme staatlicher Macht durch Aufständische oder religiöse Extremisten wären die Mechanismen einer Sicherung der Atomwaffen gegen den Zugriff Privater wenig relevant, weil die Gefahr der Proliferation dann vom Staat selbst ausginge und die Sicherung von diesem selbst aufgehoben werden könnte.

Sicherheit der Atomwaffen

Im letzten Jahrzehnt sind auf dem Feld der Sicherung des pakistanischen Atomprogramm wichtige Fortschritte zu verzeichnen. Diese sind teilweise aus dem Land selbst erfolgt, etwa durch eine seit den Atomtests von 1998 erfolgte Umorganisation der Kontrolle über die Waffensysteme und ihre Bestandteile, aber auch um die Atomwaffen vor fremdem gewaltsamem Zugriff - etwa durch die USA - zu schützen. Zusätzlich wird die Sicherheit aufgrund des Terrorismus durch extremistische religiöse Gruppen seit den Anschlägen des 11. Septembers 2001 weit ernster genommen, auch der internationale Druck zur besseren Sicherung hat dazu beigetragen.

Die pakistanischen Atomwaffen werden in ihren Komponenten getrennt gelagert, also Sprengköpfe und Trägersysteme einzeln, möglicherweise sogar die Sprengköpfe getrennt von ihren konventionellen Zündern. Zugleich sind sie auf mindestens sechs, möglicherweise mehr militärische Einrichtungen verteilt, dazu kommt die Nutzung von "Dummies", also von nicht-nuklearen Nachbildungen, wodurch die tatsächlichen Lagerungsorte oft unklar bleiben. Dies stellt eine Art dar, einen Diebstahl oder Angriff auf die Atomwaffen zu erschweren, obwohl andererseits auch die Sicherung erschwert wird, da mehr Einrichtungen geschützt werden müssen, bzw. Personal, Infrastruktur und Ressourcen für den Schutz nicht relevanter Einrichtungen vorgehalten werden müssen.

Eine tatsächliche Verfügung über die Waffen - insbesondere für den Einsatz - muß von mindestens zwei, möglicherweise drei autorisierten Personen zugleich vorgenommen werden, was auch in anderen Ländern zum Sicherheitsstandard gehört. Der damalige SPD-Chef, General Khalid Kidwai, erklärte gegenüber einer italienischen Delegation, daß es eine strenge "Drei-Mann-Regel" gebe.

Das Atompersonal - insbesondere im militärischen Bereich - wird inzwischen mit großer Sorgfalt ausgewählt und intensiv überprüft, wobei Familienangehörige einbezogen sind. Daran sind drei Geheimdienste (das zivile Intelligence Bureau, das ISI und Military Intelligence) und die Sicherheitsabteilung des SPD beteiligt. Diese Überprüfung wird alle zwei Jahre wiederholt. Wie ernst das pakistanische Militär diese Aufgabe nimmt, läßt sich auch daran ablesen, daß paschtunische Offiziere kaum berücksichtigt werden - eine politisch und institutionell ausgesprochen heikle Entscheidung. So soll die Gefahr einer Unterwanderung durch religiöse Extremisten vermindert werden. Auch niedrige Dienstränge werden sorgfältig überprüft, einschließlich einer psychiatrischen Untersuchung. Nur 5 Prozent der Bewerber sollen akzeptiert werden.

Die Strategic Plans Division der NCA soll allein über eine Sicherheitsabteilung aus 8000 Personen bestehen, zu der heute eine eigene Abteilung für Gegenspionage gehört. Diese koordiniert die Aktivitäten aller Sicherheitseinrichtungen in Bezug auf das Atomprogramm, einschließlich die des Militärgeheimdienstes ISI (Interservice Intelligence Directorate).

Cotta-Ramusino und Martellini fassen ihre Einschätzung so zusammen:

"In conclusion it seemed to us that the risks of nuclear proliferation in Pakistan may be more significantly linked to the acquired nuclear expertise combined with pro-radical political attitudes, than with the actual risk of leakage of fissile material or of nuclear weapons (at least at the present quantitative level of material and weapons)."

Jenseits der Gefahren einer Proliferation durch externe Gruppen oder Insider des Nuklearprogramms wird in der Literatur immer wieder die Möglichkeit genannt, daß der instabile pakistanische Staat durch einen gewaltsamen Umsturz oder Putsch in die Hände religiöser Extremisten fallen, und daß dann die Atomwaffen an Drittstaaten oder gar terroristische Organisationen weitergegeben werden könnten. Diese Frage der Stabilität des pakistanischen Staates kann hier nicht ausführlich untersucht werden, dies ist auch an anderer Stelle bereits geschehen. Es kann aber festgestellt werden, daß der pakistanische Staat zwar in vieler Hinsicht instabil ist, es dem gegenwärtigen politischen System auch in vieler Hinsicht an Legitimität fehlt - daß eine Übernahme der Macht durch religiöse Aufständische allerdings in absehbarer Zeit ausgeschlossen werden kann. Diese verfügen zwar über ein beträchtliches Störungs- und Zerstörungspotential, aber weder über den Rückhalt, noch die Organisation oder die Machtmittel, selbst gewaltsam die Macht zu ergreifen. Der zivile Flügel der religiösen Radikalen wiederum, insbesondere die Parteien JUI und JI, ist völlig ins politische System integriert und selbst in der gegenwärtigen, säkularen Regierung vertreten. Diese Gruppen mögen eine radikale Rhetorik pflegen, sind bisher aber durch Gewaltakte nicht hervorgetreten und verfügen über eine größere Unterstützung in der Gesellschaft als ihre gewalttätige Konkurrenz. Bei Wahlen liegt ihr Potential allerdings trotzdem kaum höher als 5-10 Prozent, so daß auch eine Machtübernahme durch Wahlen in absehbarer Zeit ausgeschlossen werden kann.

Darüber hinaus mag der pakistanische Staat in vielen Bereichen schwach entwickelt sein, aber dies trifft nicht für das gut organisierte und umfangreiche pakistanische Militär und paramilitärische Einheiten zu, die insgesamt über etwa 960.000 Mann unter Waffen (Berufsarmee) verfügen. Auch wenn das Militär unter der Diktatur Zia ul-Haqs teilweise islamisiert wurde, hat es seit der Staatsgründung seine institutionelle Integrität immer wahren können und muß heute noch stärker als vor einer Generation als eine eher technokratisch-nationalistische Truppe gelten, die sich zwar immer wieder in den politischen Prozeß einmischt, aber nicht von religiösem Extremismus geprägt ist. Dazu haben nicht nur mehrere Säuberungswellen nach dem Tod General Zia ul-Haqs beigetragen, sondern auch die hohen und schmerzhaften Verluste beim Kampf gegen die Extremisten der pakistanischen Taliban in der Nordwestprovinz und die Terroranschläge auf militärisches Personal und sogar das Hauptquartier des Heeres in Rawalpindi. Weder ein extremistischer Putsch, noch ein Zerbrechen der Streitkräfte stellen deshalb heute eine realistische Gefahr dar - weshalb auch auf diesem Wege die pakistanischen Atomwaffen kaum in die Hände von religiösen Fanatikern fallen werden. Dies gilt um so mehr, als trotz der formal zivilen Kontrolle der Atomwaffen (siehe oben) diese faktisch vom Militär ausgeübt wird.

Fazit

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die pakistanischen Atomwaffen zweifellos ein sicherheits- und friedenspolitisches Problem darstellen. Allerdings gilt dies nicht mehr als auch in Indien, Israel, Nordkorea und - in geringerem Maße - bezüglich der offiziellen Atommächte. Eine Proliferation durch Putsch oder Umsturz ist in hohem Maße unwahrscheinlich, und die im letzten Jahrzehnt aufgebauten Sicherungsmechanismen der Atomwaffen sind insgesamt zufriedenstellend, wenn man sie mit denen anderer Länder vergleicht. Dies bedeutet allerdings nicht, daß es kein Restrisiko gäbe. Dieses liegt insbesondere auf zwei Gebieten: Einmal der Bereitschaft ehemaliger oder - etwas unwahrscheinlicher - gegenwärtiger Experten oder Beamter, nukleares Know-how privat und auf eigene Faust an Dritte weiterzugeben. Dies könnte aus materiellen Gewinninteressen oder aus ideologischen Gründen geschehen - so hatten im Jahr 2000 zwei ehemalige Beamte der Pakistanischen Atomenergiebehörde persönlichen Kontakt zu Usama bin Ladin. Heute ist das Problembewußtsein an diesem Punkt wesentlich weiter entwickelt, aber Einzelfälle können nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Zweitens gab es 2007 und 2008 drei terroristische Anschläge auf Einrichtungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Teil des Nuklearprogramms sind. Es gibt allerdings keine Hinweise darauf, daß diese Explosionen die Atomwaffen oder ihre Komponenten selbst ernsthaft gefährdet hätten. Insofern scheinen die existierenden Sicherheitsmaßnahmen bisher ausreichend Schutz geboten zu haben. Allerdings wird es darauf ankommen, sich mit dem gegenwärtigen Stand der Sicherheit nicht zufrieden zu geben, sondern ihn fortzuentwickeln, da auch zukünftig terroristische Anschläge nicht auszuschließen sind. Insbesondere die prinzipielle Möglichkeit von Anschlägen durch Insider - durchaus auch durch untergeordnetes Personal - darf keinesfalls auf die leichte Schulter genommen werden.

Insgesamt sollte in Bezug auf Pakistan eine Politik der Non-Proliferation und des Schutzes der Atomwaffen auf drei Ebenen ansetzen: Einmal auf der technischen und direkt sicherheitsbezogenen, auf der man Pakistan wie in der Vergangenheit Hilfe gewähren sollte, wie dies insbesondere durch die USA geschieht. Zweitens wäre eine verstärkte präventive Politik angebracht, die auf die Stabilisierung Pakistans zielt, insbesondere bezüglich der Weiterentwicklung seines politischen Systems zur Gewinnung größerer Legitimität und der Festigung legitimer Staatlichkeit. Und drittens darf nicht vergessen werden, daß die pakistanischen Atomwaffen vor allem deshalb für nötig gehalten werden, weil man sich gegen den weit überlegenen indischen Gegner absichern möchte. Hier sind weitreichende internationale Initiativen zur Lösung des Kashmirkonfliktes überfällig, die die Tür zu Maßnahmen nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung eröffnen könnten.

 

 

Manuskript Duisburg 2010

copyright Jochen Hippler 2011

 

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