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Gewaltkonflikte und autoritäre Staatlichkeit in Pakistan
 


Pakistan wird seit 2002/2003 von zunehmender politischer Gewalt geplagt. Vor allem die blutige Erstürmung der „Roten Moschee“ in Islamabad, eine Reihe darauf folgender Bombenanschläge, das Attentat auf die ehemalige Ministerpräsidentin Benazir Bhutto und die Kämpfe an der afghanischen Grenze ließen dies 2007 verstärkt ins Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit dringen. Tatsächlich werfen die Welle der Gewalt, die Verhängung des Ausnahmezustandes Ende 2007 und der politische Neubeginn nach den Wahlen vom Februar 2008 Fragen nach der Stabilität Pakistans auf.  Diese ist umso bedeutsamer, als das Land seit 1998 über Atomwaffen verfügt und ein Schlüsselverbündeter der USA im „Krieg gegen den Terrorismus“ ist.

Die Gewalt in Pakistan besteht nicht aus einem einzigen, alles prägenden Grundkonflikt, sondern aus unterschiedlichen, die nicht immer etwas miteinander zu tun haben. Wenn wir hier von der staatlichen Gewalt in der Form von Menschenrechtsverletzungen (Folter, Misshandlung von Oppositionellen, etc.) und der Verwicklung Pakistans in Gewaltkonflikte jenseits seiner Grenzen (Afghanistan, Kaschmir) einmal absehen, lassen sich in den letzten zwei Jahrzehnten die folgenden, sehr unterschiedlichen Konfliktlinien identifizieren:

(a) überregionale, interkonfessionelle Gewalt zwischen sunnitischen und schiitischen Extremisten;
(b) eine latente Bürgerkriegssituation in Karachi, die sich allerdings im letzten Jahrzehnt deutlich entspannt hat;
(c) Aufstände und Aufstandsbekämpfung in Belutschistan; sowie
(d) eine mit Afghanistan und dem „Krieg gegen den Terror“ verknüpfte Situation des Terrorismus und Bürgerkrieges in der Nordwestprovinz, die sich auf andere Regionen auszudehnen droht.

So unterschiedlich diese Konflikte sind, so lassen sich doch alle zumindest in Teilen auf die Kombination der strukturellen Schwäche des politischen Systems mit autoritären Verhaltensweisen des Staates oder des Militärs zurückführen, insbesondere das Schwanken Pakistans zwischen einer halbherzigen, schwachen und oft inkompetent geführten Demokratie und verschiedenen Formen der Militärherrschaft. Insofern ist die Tradition autoritärer Herrschaft – entweder in der Form direkter Militärherrschaft oder in gemäßigter Form während der Perioden der Demokratie – ein entscheidender Faktor der politischen Gewalt.


Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten
Seit Mitte der 1980er und verstärkt in den 1990er Jahren kam es in verschiedenen Landesteilen (schwerpunktmäßig im Punjab) zu konfessioneller Gewalt, vor allem zu Attentaten und Massakern sunnitischer und schiitischer Extremistengruppen. Ihre Wurzeln reichen in die Zeit der Diktatur General Zia ul-Haqs (1977-1988) zurück, als dessen Regime aufgrund der Islamischen Revolution im Iran befürchtete, der schiitische Radikalismus könnte auf Pakistan übergreifen. Die Diktatur förderte sunnitische Extremisten, die zum Teil gewaltsam gegen Schiiten vorgingen, was zu Gegengewalt schiitischer Extremisten gegen Sunniten führte. Der Ausgangspunkt dieses Konflikts lag im zentralen Punjab (vor allem dem Bezirk Jhang), wo die „feudalen“ Großgrundbesitzer  meist schiitisch, die abhängige Landbevölkerung dagegen sunnitisch war, weshalb auch soziale Konflikte die Form konfessioneller Auseinandersetzungen annahmen. Von dort weitete sich die Gewalt auf andere Regionen aus.
Der sunnitisch-schiitische Grundkonflikt bleibt auch heute latent vorhanden. Zwar führt er nur in Ausnahmefällen zu Gewalt, er kann allerdings aufgrund lokaler Konflikte immer wieder instrumentalisiert werden, um Eskalationen herbeizuführen, wie etwa 2005 in Gilgit oder bei einzelnen Anschlägen im Punjab, in Karachi oder der Nordwestprovinz. Der Höhepunkt der Welle dieser konfessionellen Gewalt zwischen sunnitischen und schiitischen Extremisten wurde Mitte der 1990er Jahre errreicht, seitdem ist sie für fast ein Jahrzehnt wesentlich abgeflaut, ohne allerdings zu verschwinden. In den letzten Jahren hat sie wieder deutlich zugenommen: Fielen ihr 2003 noch 102 Menschen zum Opfer, so waren es 2007 bereits 441.


Bürgerkrieg in Karachi
Auch in der Wirtschaftsmetropole Karachi (ca. 14 Mill. Einwohner) reichen die Ursprünge der Gewalt in die Zeit der Militärdiktatur Zia ul-Haqs zurück. Der Hintergrund dieser Auseinandersetzung ist mit der demographischen Entwicklung in der Provinz Sindh und ihrer Hauptstadt Karachi verknüpft. Der Anteil der Sindhi-sprachigen Bevölkerung in Karachi sank auf kaum mehr als 10 Prozent, während die Muhajir (urdu-sprachige Einwanderer und Flüchtlinge aus der Zeit der Teilung Indiens und Pakistans) bereits seit der Staatsgründung die Mehrheit stellten. Die wirtschaftlich bedingte Zuwanderung einer großen Zahl von Paschtunen aus der Nordwestprovinz (und von Punjabis, Belutschen, sowie von Afghanen und Iranern) trug zur Verschiebung der demographischen Struktur der Stadt bei. Damit ergab sich im Sindh eine Situation, in der die Sindhi (vorwiegend ländlich geprägt, oft unter noch „feudalen“ Bedingungen und mit geringem Bildungsgrad) zwar die Mehrheit in der Provinz stellen, aber in der ökonomisch dominierenden Riesenstadt Karachi nur noch eine kleine Minderheit ausmachen. Die Muhajir sind rein städtisch geprägt und werden politisch von einer erstarkenden – und überwiegend säkularen – Mittelschicht mit relativ hohem Bildungsgrad geführt. Sie blieben in der Provinz in der Minderheit, während sie in Karachi die große Mehrheit der Bevölkerung darstellen.

Die Muhajir hatten sich nach der Staatsgründung vor allem als Pakistaner betrachtet, also als außerhalb der ethnischen und konfessionellen Strukturen des Landes stehend. Seit Ende der 1970er Jahre bildete sich bei ihnen zunehmend eine eigene „ethnische“ Identität heraus, die aus dem wachsenden Gefühl einer Benachteiligung entsprang, insbesondere im Bildungswesen und öffentlichen Dienst des Sindh. 1984 wurde die säkulare Partei MQM gegründet (Muhajir Qaumi Movement, später umbenannt in Muttahida Qaumi Movement). Bis Anfang der 1990er Jahre errang sie eine dominierende Position in den Großstädten des Sindh, insbesondere in Karachi und Hyderabad. Dieser Aufstieg richtete sich auch gegen die starke Stellung der – ebenfalls säkularen – Pakistan People’s Party (PPP), die im ländlichen Sindh sehr stark bleibt. Da das Regime Zia ul-Haqs die PPP als die größte Bedrohung ihrer Macht wahrnahm, unterstützte es trotz aller ideologischen Unterschiede den Aufstieg der MQM durch den Militärgeheimdienst ISI. Ohne Wohlwollen der Regierung wäre es unter dem damals geltenden Kriegsrecht nicht möglich gewesen, eine solche Partei zu gründen und in wenigen Jahren zur stärksten in Karachi und Hyderabad werden zu lassen.

Die MQM bemühte sich mit allen Mitteln, auch durch politische Morde, Massaker und Folter politischer Gegner, ihre Kontrolle Karachis zu festigen, was die Wirtschaftsmetropole in eine Phase der Unsicherheit und Instabilität stürzte. Viele Kritiker werfen der MQM bis heute einen „faschistischen“ Charakter vor.  Mitte der 1990er Jahre kam es in der Stadt zu einem faktischen Bürgerkrieg, in dem bis zu 2000 Menschen pro Jahr aus politischen Gründen getötet wurden. Als Teil dieser Auseinandersetzungen unterstützten staatliche Stellen auch die Spaltung der MQM, was zu massiver Gewalt beider Fraktionen gegeneinander führte. Eine Politik der harten Repression, die auch vor Morden durch die Polizei nicht zurückschreckte, vermochte das Gewaltniveau in Karachi zwar deutlich zu senken, die politische Dominanz der MQM in den Großstädten des Sindh blieb allerdings erhalten.

Die Lage in Karachi bleibt angespannt: Einzelne Gewaltausbrüche (Bombenanschläge, Attentate) kommen immer wieder vor, auch im Rahmen konfessioneller Zusammenstöße. Besonders blutig war etwa der Mai 2004, als in Karachi 62 Menschen durch politische Gewalt starben und über 200 verletzt wurden. Die MQM bemüht sich seit 1997 um ein gemäßigteres Image und zugleich um die Ausweitung ihrer sozialen/ethnischen Basis über die Mujahir hinaus. Inzwischen sind „Pragmatismus“ und „Realismus“ Schlüsselbegriffe des MQM-Programms. Nach den Wahlen von 2002 trat die Partei als Juniorpartner in die Regierung ein und wurde damit zu einer wichtigen Stütze des 1998 an die Macht geputschten Präsidenten und Generals Musharraf. Die Wende der MQM zur Mäßigung ist nicht bruchlos: So spricht vieles dafür, dass die Gewaltexzesse in Karachi im Mai 2007 (über 40 Tote) anlässlich eines Besuchs des abgesetzten Verfassungsrichters Iftikhar Chaudhry von der MQM organisiert waren.

Sowohl bezüglich der inter-konfessionellen Gewalt als auch beim Konflikt in Karachi spielten staatliche Stellen bei der Konfliktgenese eine Schlüsselrolle. In beiden Fällen setzte der Militärgeheimdienst durch seine Versuche die zivile Politik aus taktischen Gründen zu manipulieren eine Dynamik der Gewalt in Gang, die sich später nur schwer kontrollieren ließ und zu politischer Instabilität führte. In diesen Fällen war nicht die Schwäche der Staatlichkeit das Ausgangsproblem, sondern ihr dominierender und gesellschaftlich manipulativer Charakter.


Aufstand in Belutschistan
Die Provinz Belutschistan hatte bereits in den 1970er Jahren (in der Regierungszeit Zulfikar Ali Bhuttos) einen Aufstand gegen die Zentralregierung erlebt, den diese aber mit großer Härte durch die Armee niederschlagen ließ. Zu Beginn der 2000er Jahre begann ein neuer Aufstand. Nach Zahlen der Polizei  kam es seitdem zunehmend zu terroristischen Anschlägen:

                              Jahr          Zahl der Anschläge     Zahl der Todesopfer

        2002                      5                                 3
        2003                    35                                61
        2004                  127                                98
        2005                  225                              106
        2006                  415                              158
         

In diesen Zahlen sind die Opfer militärischer Operationen nicht enthalten.
Wie in den 1970er Jahren spielt Religion bei dieser Gewalt keine Rolle, vielmehr stehen die Missachtung und Benachteiligung der Provinz durch die Zentralregierung im Mittelpunkt, was sich insbesondere an verschiedenen Großprojekten entzündet. Im Zentrum des Konflikts steht vor allem der Bau des Tiefseehafens in Gwadar. Obwohl der Ort in Belutschistan liegt, haben weder die Provinzregierung noch die lokale Bevölkerung irgendwelche Mitsprachemöglichkeiten. Die Menschen von Gwadar und Umgebung wurden gegen ihren Willen umgesiedelt, können wegen des Hafens und des damit verbundenen Sperrgebietes nicht mehr fischen (ihr Haupterwerbszweig) und verloren ihr Land.
Ähnlich verhält es sich mit den Gasvorkommen Belutschistans. Die Provinz soll über 500 Milliarden Kubikmeter an Erdgasvorkommen und 6 Billionen barrel Erdöl verfügen. 
Das Gas trägt seit den 1950er Jahren zur Energieversorgung Pakistans bei, ohne dass es dabei der Provinz zugute kommt. Auch die Verkaufspreise für Erdgas betragen für Belutschistan nur einen Bruchteil dessen, was der Sindh und vor allem der Punjab für ihr Gas erhalten, was verständlicherweise als schwere Benachteiligung empfunden wird. Die Situation wurde zusätzlich dadurch angeheizt, dass die Armee in Belutschistan begann, ohne Rücksprache mit der Provinzregierung oder der Bevölkerung neue Kasernen anzulegen, die erkennbar auf die Kontrolle der Bevölkerung in sensiblen Regionen zielen, etwa in Gwadar und Dera Bugti oder Kohlu, wo traditionell regierungskritische Stämme siedeln, die bereits früher für die Autonomie und Rechte ihrer Provinz gekämpft hatten.

Im Hintergrund des Konflikts steht auch die Befürchtung vieler Belutschen, in der eigenen Provinz zur Minderheit zu werden. In der Hauptstadt Quetta und entlang der afghanischen Grenzen bilden Paschtunen bereits die Mehrheit, und nun befürchtet man, dass durch Riesenprojekte wie den Hafen von Gwadar eine ganz neue Migrationsdynamik in Gang gesetzt wird. Belutschische Politiker weisen auf das Beispiel Karachis hin, wo durch dessen wirtschaftliche Dynamik – und den bis vor kurzem einzigen Hochseehafen des Landes – die ursprünglichen Einwohner des Sindh zu einer kleinen Minderheit in der Stadt wurden. In Belutschistan mit seinen nur 5-7 Millionen Einwohnern sei die Gefahr noch weit größer. Sollte Gwadar einmal die Größe Karachis annehmen, wäre die einheimische Bevölkerung nicht nur dort marginalisiert, sondern in der gesamten Provinz hoffnungslos in der Minderheit.
Die Regierung hätte den gegenwärtigen Aufstand sicher vermeiden können, wenn sie die Provinz an der Nutzung der Gasvorkommen beteiligt und einen angemessenen Preis – vergleichbar dem für den Punjab – gezahlt, die Provinz und ihre Bevölkerung am Hafenprojekt von Gwadar beteiligt hätte und vor allem Belutschistan insgesamt politisch ernst nehmen würde. Der Mangel an föderaler und demokratischer Mitsprache sowie der Streit um Ressourcen sind die Ursachen der Gewalt. Religiöser Extremismus spielt hier kaum eine Rolle, und wenn, dann höchstens provinzintern durch sunnitische Extremisten gegen Schiiten (oft durch Paschtunen verursacht). Der Aufstand gegen die Regierung erfolgt vor dem ideologischen Hintergrund ethnischer und nationaler Identität und Selbstbehauptung, nicht eines islamischen Radikalismus, der in der Provinz relativ gering ist und nur einen Teil der paschtunischen Bevölkerung erfasst hat.
Aber anstatt die säkulare belutschische Politik zum Partner des Kampfes gegen den religiösen Extremismus im benachbarten Afghanistan und der Nordwestprovinz zu machen, brachte Präsident Musharraf durch einen rücksichtslosen Zentralismus und quasi-koloniale Politik die gesamte Provinz gegen die Zentralregierung auf. Inzwischen stehen dort schätzungsweise 25.000 Soldaten und paramilitärische Truppen im Kampf gegen Aufständische, es werden Kampfhubschrauber und Flugzeuge eingesetzt. Die Regierung scheint sich auf einen militärischen Sieg zu verlassen. Präsident Musharraf erklärte im Mai 2007 zuversichtlich, dass die Armee bereits „65 terroristische Lager“ zerstört habe, die verbleibenden „drei oder vier“ würden „bald eliminiert“.


Bürgerkrieg in den Stammesgebieten der Nordwestprovinz
Zum blutigsten Konfliktherd Pakistans hat sich allerdings die Nordwestprovinz entwickelt, die im Wesentlichen von Paschtunen besiedelt ist und an Afghanistan grenzt. Nach dem Sturz der Taliban durch US-Truppen und ihre afghanischen Verbündeten im Herbst 2001 flohen viele der – paschtunischen – Taliban und 600-700 internationale Kämpfer von al-Qaida (nach anderen Angaben bis zu 2000)  in die Stammesgebiete der pakistanischen Nordwestprovinz. Dort wurden sie meist freundlich aufgenommen, da man sich ihnen seit der gemeinsamen Kampfzeit des anti-sowjetischen Jihad verbunden fühlte. Damals waren auch durch Eheschließungen familiäre Bindungen entstanden, die eine positive Wahrnehmung begünstigten. Schließlich bestanden auch ideologische Sympathien, da die jihadistische Umformung des deobandischen Islam in den Grenzgebieten seit dem Krieg gegen die Sowjetunion eine positive Grundwahrnehmung religiöser Kämpfer bewirkt hatte. Deshalb – und aufgrund finanzieller Zahlungen der ausländischen Jihadisten an die Stämme oder ihre maliks (Stammesführer) – wurden die Jihadisten nicht nur in den Stammesgebieten akzeptiert, sondern konnten die Region auch zur Vorbereitung von Überfällen und Anschlägen in Afghanistan nutzen.

Daraus ergab sich eine Situation, bei der neben den Stämmen und den bedeutsamer gewordenen religiösen Führern nun auch Hunderte usbekischer, tschetschenischer und arabischer Kämpfer zu politischen Machtfaktoren in den Stammesgebieten wurden. Zwischen diesen Ausländern und den traditionellen Stammesstrukturen bildeten sich auch einheimische, paschtunische Gruppen jihadistischer Kämpfer, die sich zuerst Mujahedin (religiöse Krieger), bald aber Taliban nannten. Diese Gruppen bildeten einerseits eine Brücke der lokalen Gesellschaft zu den ausländischen Jihadisten, zugleich aber untergruben sie die Macht der bereits in den letzten Jahrzehnten geschwächten Stammestradition in einigen Regionen, da sie die Stammesführer nur noch akzeptierten, wenn diese ihren religiösen Vorstellungen entsprachen. Sie begannen bald, in bestimmten Gebieten selbst quasi-staatliche Strukturen aufzubauen, die die Macht der maliks ideologisch, aber auch durch Einschüchterung und Gewalt einschränkte. Auch der ohnehin geringe Einfluss der pakistanischen Behörden in der Region wurde so noch weiter zurückgedrängt.

Die lokalen Jihadisten begannen in einigen Regionen mit der Verfolgung und Hinrichtung Krimineller (Räuber, Vergewaltiger, etc.), was ein erneutes Indiz für die Untergrabung der Stämme darstellt, die ja eigentlich für Sicherheit zuständig waren. Ihre shuras (Ratsversammlungen der Führer) setzten Männer unter Druck, sich Bärte wachsen zu lassen und bedrohten Geschäftsleute, die CDs, DVDs oder Videos verkauften, da Musik und Filme die Moral untergrüben und durch den Islam verboten seien. Wurde diesen Anweisungen nicht gefolgt, sprengten sie entsprechende Geschäfte (selbst Friseurläden, die Männern die Bärte rasierten) nicht selten in die Luft. Nichtregierungsorganisationen – insbesondere solche mit ausländischer Unterstützung oder zur Förderung von Frauen – wurden bedroht und zum Teil angegriffen und vertrieben, da ihre Arbeit subversiv sei, westliche Werte propagiere und letztlich im Auftrag Washingtons erfolge.

Zugleich standen die Bewohner der FATA (Federally Administered Tribal Areas) nicht allein unter dem Druck jihadistischer Gruppen, sondern auch der Behörden und des Militärs. Diese nahmen oft ganze Dörfer oder Stämme in Haftung, um einzelner Verdächtiger oder extremistischer Gruppen habhaft zu werden. Wenn ein Stamm nicht bereit oder in der Lage war, Verdächtige oder Gewalttäter an die Regierung auszuliefern, wurde sein Siedlungsgebiet abgeriegelt oder Kollektivstrafen verhängt.

Solche Ultimaten mögen jenseits ihrer menschenrechtlichen Fragwürdigkeit in Fällen funktionieren, in denen lokale Autonomie- und Stammesstrukturen intakt sind und es sich um die Auslieferung Einzelner handelt. Wenn die betroffene Gemeinschaft aber nicht mehr handlungsfähig ist, weil etwa die Autorität einer Stammesführung nicht mehr allgemein akzeptiert wird, sich Einzelne ihrer Überstellung entziehen oder die auszuliefernde Gruppe groß und gut bewaffnet ist, dann können solche Androhungen von Kollektivstrafen ihr Ziel kaum erreichen und werden darüber hinaus die Sympathie der Bevölkerung für die Behörden und das Militär beschädigen – ohne die eine Aufstandsbekämpfung jedoch aussichtslos bleibt. Wenn dann noch bei Strafaktionen oder anderen militärischen Operationen lokale Zivilisten zu Schaden kommen, werden möglicherweise die Regierung und das Militär als das schlimmere zweier Übel wahrgenommen. Dann wird das Militär faktisch als Besatzungstruppe im eigenen Land aufgefasst und verliert jede realistische Chance, einen Keil zwischen die Bevölkerung und die Jihadisten zu treiben, und so zugleich die Aussicht auf einen militärischen Sieg.

Die skizzierten Entwicklungen beschränkten sich nicht allein auf die Stammesgebiete, auch wenn sie dort ihren Ursprung hatten und besonders intensiv auftraten. Die politische Gewalt dehnte sich selbst in größere Städte aus, wie nach D.I. Khan und Peshawar. Allerdings erreichte sie dort nicht das Niveau eines offenen Krieges, sondern nahm die Form von Attentaten und einzelnen Terrorakten an.

Die pakistanische Armee unternimmt seit 2002 – und verstärkt ab 2004, als etwa 80.000 Soldaten eingesetzt wurden – militärische Operationen gegen die Jihadisten in den Stammesgebieten. Diese Einsätze waren nur mäßig erfolgreich, auch weil die lokale Bevölkerung die Präsenz und die Gewaltanwendung von Soldaten in ihrer autonomen Region überwiegend ablehnte. Die pakistanische Armee erlitt teilweise schwere Verluste und reagierte mit einer Eskalation der Operationen, die nun auch massive Luftangriffe beinhalteten. Die resultierenden zivilen Opfer führten zu verstärktem Widerstand der betroffenen Stämme, was die ausländischen und insbesondere lokalen extremistischen Kämpfer politisch stärkte und ihre Zusammenarbeit förderte. Dazu kamen vereinzelte, aber politisch oft verheerende Angriffe durch US-Kräfte. Das wichtigste Beispiel war 2006 ein Raketenangriff auf eine Madrasse im Dorf Chingai (Bajaur Agency, Tribal Areas) durch – sehr wahrscheinlich – US-Truppen aus Afghanistan, bei dem 82 Menschen starben, darunter viele Frauen und Kinder. Einige Tage später kam es zu einem Vergeltungsangriff durch einen Selbstmordattentäter, bei dem 40 pakistanische Soldaten getötet wurden. Insgesamt starben bei den Kämpfen bis 2007 vermutlich mehr als 1000 Soldaten und eine unbekannte Zahl an jihadistischen Kämpfern und Zivilisten. Die militärischen Rückschläge, das Unbehagen gegen Teile der eigenen Bevölkerung und „gläubige Muslime“ vorgehen zu müssen, das Gefühl, eigentlich im Auftrag der USA Gewalt anzuwenden und die Opfer unter der Zivilbevölkerung beeinträchtigen außerdem die Kampfmoral vieler Soldaten. Ein Beispiel dafür stellte ein Zwischenfall im August 2007 dar, bei dem eine kleine Gruppe von örtlichen Taliban rund 250 Soldaten gefangen nahm, die sich nicht einmal verteidigten. 

Zugleich kam es immer wieder zu Versuchen, die Konflikte in den Stammesgebieten durch Gespräche, Verhandlungen und Vereinbarungen beizulegen, wobei häufig Politiker der – mit den Taliban sympathisierenden – JUI (Jamiat-Ulema-i-Islam) und Stammesversammlungen (Jirgas) zur Vermittlung genutzt wurden. Meist bestand der Ansatz darin, die Stämme zu verpflichten, lokale und internationale Kämpfer selbst zu disziplinieren oder terroristische Täter der Regierung auszuliefern oder an Angriffen zu hindern – im Gegenzug sollten das Militär sich zurückziehen und die zivilen Behörden finanzielle Zuwendungen leisten oder Entwicklungsprojekte durchführen. Da allerdings in einigen Regionen die lokalen Machtverhältnisse dies nicht mehr zuließen – die militanten Gruppen waren bereits so stark, dass sie durch die Stämme nicht mehr kontrolliert werden konnten – in anderen der politische Wille fehlte, kam es auch zu direkten Verhandlungen und Vereinbarungen der Behörden mit lokalen Taliban. In diesen Fällen legitimierte und stärkte sie dies offensichtlich gegenüber den nichtextremistischen Kräften. Lokale Abkommen brachen auch zusammen, weil häufig weder das Militär noch die Aufständischen sich daran hielten. Verhandlungsprozesse mit den lokalen Akteuren waren prinzipiell sinnvoll, erfolgten allerdings unter Umständen, die sie immer wieder zum Scheitern brachten. Teilweise wurden während laufender Verhandlungen größere Militäroperationen durchgeführt – so erfolgte auch das Raketenmassaker von Bajaur genau an dem Tag, als in der Region ein Friedensabkommen unterschrieben werden sollte. In solchen Fällen ist offensichtlich, dass die militärische Aufstandsbekämpfung Ansätze friedlicher Konfliktregelung zum Scheitern brachte.


Gewalt und Autoritarismus in Pakistan
Die oben skizzierten Gewaltkonflikte sind alle, wenn auch auf unterschiedliche Art, mit der spezifischen Form von Staatlichkeit in Pakistan verknüpft. Zwar ist nicht diese allein für die Konflikte verantwortlich, aber sie hat oft einen auslösenden oder verschärfenden Einfluss. Dabei lässt sich das Paradoxon feststellen, dass in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion Pakistan häufig als failing state diskutiert wird, während bezüglich der oben behandelten Konflikte eine „starke“ oder robuste Politik staatlicher Stellen für die Gewalt zumindest mitverantwortlich ist. Bei ihnen fällt auf, dass Elemente defizitärer Staatlichkeit unvermittelt mit solchen einer „überentwickelten“ verknüpft sind. Hinweise auf geschwächte staatliche Handlungsfähigkeit finden sich im partiellen Verlust der Kontrolle über – wenn auch marginale – Teile des Territoriums (Waziristan, z.T. auch Swat, Dir, etc.) und in den Defiziten bei der sozio-politischen Integration der unterschiedlichen Provinzen und ethnischen und religiösen Gruppen. Dazu kommen die für unsere Beispiele weniger bedeutsame allgemeine Funktionsschwäche vieler staatlicher Behörden, die Schwäche des Parteiensystems und die Korruption. Vor dem Hintergrund dieser Probleme sah sich Pakistan seit der Staatsgründung schwierigen Aufgaben bezüglich seiner Sicherheit und gesellschaftlichen Integration gegenüber – insbesondere einer außenpolitischen Bedrohungssituation. Deren Ausdruck waren drei Kriege gegen Indien bis 1971, seitdem mehrere Beinahe-Kriege, die Nichtanerkennung der gemeinsamen Grenze durch Afghanistan und die später destabile Situation dort, die nach Pakistan ausstrahlt. Dazu kam im Inneren die beträchtliche ethnische Heterogenität der Bevölkerung, die 1971 bereits mit zur Abspaltung der früheren Ostprovinz (heute Bangladesh) geführt hatte. Die staatlichen Eliten reagierten auf diese Kombination struktureller Schwäche und komplexer Herausforderungen, indem sie die auf Kontrolle zielenden Teile der Staatlichkeit überentwickelten, was sich in einer zentralistischen und autoritären Kontrolle der Gesellschaft und der dominierenden Rolle des Militärs niederschlug. So wurden in den ersten zwölf Jahren seiner Existenz in Pakistan durchschnittlich rund 60 Prozent des Staatshaushalts für das Militär ausgegeben - und Pakistan mehr als die Hälfte seiner Geschichte vom Militär regiert. Der Staat geriet so in eine Schieflage, bei der manche seiner Teile leistungsschwach blieben (Sozialpolitik und soziale Dienste, Infrastruktur, politische Integration), während andere durch ihrer Stärke die Gesellschaft in ein stählernes Korsett zwängen wollten, um so Stabilität zu gewährleisten (Streitkräfte, repressiver Zentralismus, Beschränkung politischer Partizipation).

Der pakistanische Staat insgesamt ist also weder stark noch schwach, sondern asymmetrisch beides zugleich, was sich immer wieder als krisenauslösend oder –verschärfend erweist. So führte die autoritäre Überzentralisierung – also der Versuch, einen starken und stabilen Zentralstaat auf Kosten der Provinzen und Minderheiten durchzusetzen – zur teilweisen Delegitimierung des Staates und Widerstand vor allem in Belutschistan, zum Teil auch im Sindh und Karachi, sowie der Nordwestprovinz. Manche Ethnonationalisten sprechen dort von einem durch den Punjab kontrollierten Staat, der eine „Versklavung“ der kleineren Provinzen bedeute.
Ein zweiter Faktor besteht in der weitgehenden Verhinderung politischer Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung, die angesichts der neuen, aufstrebenden Mittelschichten und gestärkten Bourgeoisie auf Dauer nicht durchzuhalten ist. Politische Partizipation und Aktivismus suchen sich wegen der staatlichen Blockade zunehmend außerhalb der etablierten politischen Strukturen andere, auch militante Ausdrucksformen – was sich nicht allein in Karachi und der krisengeschüttelten Nordwestprovinz zeigt. Der Autoritarismus des politischen Systems unter Präsident Musharraf brachte in den letzten Jahren fast die gesamte Bevölkerung gegen das Regime auf und wirkte so massiv auf die ohnehin bestehenden Konflikte in den Provinzen und die religiös geprägten Formen von Politik zurück.
Drittens schließlich erweisen sich die häufigen Versuche staatlicher, insbesondere militärischer Stellen zur Manipulation gesellschaftlicher und politischer Konflikte als mittel- und langfristig zentraler Faktor der Destabilisierung. Diese haben in Karachi (Aufstieg und Spaltung der MQM), in der Nordwestprovinz, und vor allem bei der taktischen Förderung religiöser und sogar jihadistischer Gruppen durch das im Kern säkulare Militär (aber auch durch säkulare zivile Parteien wie die PPP) eine entscheidende Rolle bei der Auslösung und Eskalation gewaltsamer Konflikte gespielt, die der Staat dann nicht mehr kontrollieren konnte.

Diese drei konfliktfördernden Faktoren des Autoritarismus sind eng miteinander verknüpft. Das zeigt sich unter anderem darin, dass der Kampf für Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Pakistan fast immer mit dem für die Rechte der Provinzen und Minderheiten verknüpft war. Umgekehrt bedeutete die Zentralisierung staatlicher Macht immer zugleich auch ihre Konzentration in den Händen einer schmalen gesellschaftlichen und politischen Elite. Eine Kultur des Autoritarismus dieser Eliten opferte immer wieder die Ansätze gesellschaftlicher und politischer Integration dem Interesse persönlichen Durchregierens bis auf die Provinz- und Kommunalebene. Auf diese Weise wurde einer hochgradig pluralistischen und heterogenen Gesellschaft ein zentralistischer Staat übergestülpt, der sich föderal maskiert. Zugleich allerdings erwies sich gerade dieser die Gesellschaft dominierende Staat als schwach, soweit es nicht um seine bloße Kontrollfunktion ging, sondern um die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen und politischer Integration.

Das staatliche Doppelgesicht von autoritärer Stärke und integrativer Schwäche stellt häufig einen Faktor in der Genese oder Verschärfung von Gewalt in Pakistan dar, allerdings nicht isoliert, sondern in Kombination mit weiteren Faktoren. Dazu gehören wirtschaftliche und soziale Probleme (Inflation, Versorgungsmängel, Stromausfälle, soziale Ungleichheit), vor allem aber außenpolitische Aspekte wie der „Krieg gegen den Terror“, die Afghanistanpolitik und das Verhältnis zu den USA. Eine Bearbeitung der Gewaltursachen müsste also synchron an diesen sehr unterschiedlichen Problemebenen ansetzen. Viel hängt allerdings davon ab, ob die neue Regierung säkularer Parteien nicht allein innere Stabilität gewinnt, sondern auch bereit ist, ihre in der Opposition gemachten Versprechen einzulösen. Sonst würde der hoffnungsvolle Beginn einer demokratischen Herrschaft nur eine neue Runde der Instabilität einläuten.

 

Fußnoten in der Druckfassung

Quelle:

Jochen Hippler
Gewaltkonflikte und autoritäre Staatlichkeit in Pakistan,
in: Andreas Heinemann-Grüder, Jochen Hippler, Bruno Schoch, Markus Weingardt und Reinhard Mutz (Hrsg.);
Friedensgutachten 2008,
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), u.a., Münster 2008, S. 258-269

 

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