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Jochen Hippler

Nationalstaaten aus der Retorte? -
Nation-Building zwischen Entwicklungspolitik, militärischer Intervention und Krisenprävention
 

 

Gewaltkonflikte und Nation-Building

Nation-Building in Gewaltkonflikten oder Post-Konflikt-Situationen wird demgegenüber in den meisten EU-Ländern häufig als Mittel gegen Chaos und Fragmentierung betrachtet, als Instrument zur Konfliktbearbeitung und Prävention. Der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, formulierte dies exemplarisch im Juni 2002:

„Um die neuen Herausforderungen zu bewältigen, braucht es mehr als den Einsatz von Polizei und Militär. Es braucht eine langfristig angelegte politische und wirtschaftliche Strategie, die sich gerade mit den vergessenen Konflikten, fehlgeschlagenen Staaten, den failing states, schwarzen Löchern der Ordnungslosigkeit auf unserem Planeten befasst. Einen Staat neu aufzubauen, Nation-Building, wird für uns zu einer strategischen Aufgabe werden. Hierzu hat Europa, hat auch Deutschland einen wichtigen Beitrag zu leisten.“ (Volmer 2002)

Die stabilisierende und Ordnungsfunktion von Nation-Building soll krisenpräventiv und gewaltmindern wirken. Dies mag unter Umständen durchaus zutreffen, aber es sollte nicht übersehen werden, dass manche Gewaltkonflikte gerade aus aggressiven Nation-Building Projekten resultieren: ethnische Vertreibungen und Massaker sollen häufig ja gerade dazu dienen, eine bestimmte, ethnisch „reine“ Version von „Nation“ durchzusetzen oder den Widerstand gegen eine nationalstaatliche Regierung zu brechen. Andere Gewaltkonflikte entspringen dem Widerspruch zweier (oder mehrerer) konkurrierender Nation-Building Projekte: etwa einer Politik, den „Nationalstaat“ in einem multi-ethnischen Kontext auch mit Zwang aufrecht zu erhalten oder dem Versuch, eine Nation gewaltsam zu schaffen oder zu homogenisieren, der von einer oder mehreren Ethnien oder Nationalitäten durch Unabhängigkeitsbestrebungen in Frage gestellt wird. Während etwa ein groß-serbisches Projekt von Nation-Building nicht nur Serbien (inklusive der ungarischen Minderheit), die serbisch besiedelten Teile Bosniens und den Kosovo einbeziehen soll, und jeder Verzicht oder Verlust einer dieser Regionen als Niederlage des Nation-Building Projektes bedeuten würde, impliziert ein kosovo-albanisches Nation-Building selbstverständlich die Unabhängigkeit von Serbien, und – je nach politischem Geschmack – die staatliche Selbständigkeit oder einen Zusammenschluss mit Albanien. In der politischen Realität besteht die Alternative zu Nation-Building nicht unbedingt in dessen Abwesenheit, sondern häufig in einem konkurrierenden Modell. In ähnlicher Weise stehen externe Versuche von Nation-Building nicht selten im Gegensatz zu internen Varianten, anstatt immer zu einer Situation der Fragmentierung, Auflösung und Herrschaftslosigkeit. So haben in Afghanistan auch die Taliban oder der Extremistenführer Hekmatyar ihre speziellen Formen von Nation-Building durchsetzen wollen, wenn auch auf besonders brutale Weise. Und in vielen Situationen setzt der konstruktive Aspekt von Nation-Building – also die Schaffung von Nation und Nationalstaat – zuerst einmal die Auflösung oder Zerstörung früherer politischer Einheiten voraus: der türkische Nationalstaat beruhte auf der Auflösung des Osmanischen Reiches, der kroatische auf der Zerstörung Jugoslawiens, oder die baltischen oder zentralasiatischen Staaten setzten das Auseinanderbrechen der Sowjetunion voraus.

Die entwicklungs- und friedenspolitische Diskussion von Nation-Building muss den Prozess also einmal zur Auflösung und Zersetzung von Gesellschaften und Staaten als im Gegensatz begreifen, darf aber nicht vergessen, dass in vielen Gewaltsituationen gerade der Konflikt mehrerer Nation-Building Prozesse den Kern des Problems ausmacht, und dass nicht selten Nation-Building zuerst die Fragmentierung größerer Gesellschaften und Staaten voraussetzt. Es geht also nicht immer um die Frage, ob Nation-Building stattfindet oder stattfinden sollte, sondern darum, welches der konkurrierenden Projekte wünschbar ist, und wie ein solcher Prozess gestaltet werden soll. Im friedens- und entwicklungspolitischen Kontext sind also die konkrete Ausgestaltung gesellschaftlicher Konstruktions- und Dekonstruktionsprozesse, die spezifische Dynamik der auf Nation-Building bezogenen Ideologie-Produktion (z.B. gemeinsame Staatsbürgerschaftskonzepte versus ethnische Konfrontationsideologien), und die Politik des Staatsapparates gegenüber der Gesellschaft und den unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen bedeutsam. Wer von außen Nation-Building betreiben oder unterstützen möchte, kommt um eine ernsthafte und präzise Analyse der Ausgangslage nicht herum, um die hohe Wahrscheinlichkeit von Fehlern und Scheitern in Grenzen zu halten.

Insgesamt ist Nation-Building nicht a priori friedensfördernd. Im Gegenteil: in der Anfangsphase kann es sogar ausgesprochen konfliktverschärfend wirken, da ihm oft eine Phase der Desintegration vorgeschaltet ist, da seine Integrationsversuche von einigen Sektoren der Gesellschaft zurückgewiesen werden oder diese ausgeschlossen bleiben sollen, da seine Methoden Widerstand hervorrufen oder die unvermeidbaren Machtverschiebungen von den Verlierern bekämpft werden können. Auch wenn dabei die Gewaltschwelle nicht unbedingt überschritten wird, werden politische und gesellschaftliche Konflikte eine Zeit lang zunehmen und mit Zuckerbrot, Peitsche und Geduld unter Kontrolle gehalten. Erst wenn das spezifische Nation-Building Projekt erkennbar erfolgreich und einigermaßen konsolidiert ist, kann mit einer konfliktvermindernden und friedensfördernden Wirkung gerechnet werden, da das Gewaltmonopol eines von der Gesellschaft akzeptierten Staates und die Verminderung oder das bessere Management innergesellschaftlicher Grenzlinien das interne Gewaltniveau senken können. Dieser positive Effekt von Nation-Building der zweiten Stufe muss nicht davon abhängen, ob es kooperativ oder repressiv betrieben wurde, auch wenn nicht-repressive Methoden natürlich weitaus vorzuziehen sind – aber auch gewaltsames Nation-Building kann langfristig zu Gewaltverminderung führen, wenn es dauerhaft erfolgreich ist. Dabei muss allerdings noch sichergestellt sein, dass die internen Gewaltpotentiale nicht einfach nach außen umgelenkt werden.

Nation-Building von außen?

In einer Reihe von Ländern in Post-Konflikt-Situationen spielen heute externe Akteure die entscheidende Rolle in Staat und Verwaltung: etwa im Kosovo, wo eine offizielle UNO-Verwaltung regiert, in Bosnien, wo einem von außen dekretierten, komplexen internen Regierungssystem ein Vertreter der internationalen Gemeinschaft übergeordnet ist, in Kabul, wo der nach der US-Militärintervention eingesetzte Präsident Karzai inzwischen von einem NATO-Militärkontingent unterstützt wird, oder im Irak, wo eine US-Militärverwaltung (mit nomineller britischer Beteiligung) faktisch herrscht, auch wenn irakische Politiker zunehmend beteiligt werden sollen. In anderen Ländern spielten externe Akteure ebenfalls eine maßgebliche Rolle bei der Gestaltung der politischen Verhältnisse: die USA nach ihrer Intervention in Haiti (1994/95), die UNO bei der Organisation von Wahlen in Kambodscha (1993) oder der Vorbereitung der Unabhängigkeit Ost-Timors (1999-2002), um nur drei Beispiele zu nennen. Für diese und andere Operationen wurde oder wird der Begriff Nation-Building benutzt. In den meisten Fällen kann festgestellt werden, dass nicht die externen Akteure mit Nation-Building begannen, sondern nur eine andere Art erzwangen oder organisierten. Die Interventionsgründe externer Akteure sind höchst unterschiedlich: etwa die Reaktion auf eine humanitäre Notlage, die zur Übernahme bestimmter Verwaltungs- und Sicherheitsfunktionen führt; das Interesse an regionaler Stabilität; innenpolitische Interessen, etwa das Bedürfnis, angesichts einer in den Medien beachteten Krise nicht als „hilflos“ oder untätig zu erscheinen; strategische und Machtinteressen.

In den weitestgehenden Fällen – Kosovo, Afghanistan, Irak – haben die externen Akteure ein bestehendes Macht- oder Regierungssystem (und deren spezifischen Nation-Building Konzepte) zuerst gewaltsam zerschlagen, um dann einen Prozess des materiellen und politischen Wiederaufbaus zu beginnen. Dabei war Nation-Building nie das eigentliche Ziel des jeweiligen Engagements, sondern ein Mittel: die NATO führte nicht Krieg gegen Serbien, um im Kosovo Nation-Building zu betreiben, sondern aus einem komplexen Bündel außenpolitischer, humanitärer und innenpolitischer Interessen. Nach dem Krieg blieb allerdings keine andere Option, als selbst die Verwaltung zu übernehmen bzw. sie der UNO zu übertragen. Dabei ging die Clinton-Administration den Weg, aus der Situation heraus widerwillig Nation-Building zu akzeptieren, aber den UNO und den EU-Ländern bei der Umsetzung den Vortritt zu lassen. In Afghanistan bestanden die Politik- und Kriegsziele der USA und ihrer Verbündeten nicht in der Schaffung eines afghanischen Nationalstaates, sondern in der Zerschlagung des Terrornetzwerkes al-Qaida, dem Sturz der Taliban, der Stärkung der eigenen Position in Zentralasien und der Demonstration der eigenen Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit nach dem 11. September 2001. Nach dem schnellen Sieg mussten dann Wege gefunden werden, Einfluss und regionale Stabilität zu sichern und ein international vorzeigbares Herrschaftsmodell zu präsentieren. Die schlechte Nachkriegsplanung und ihre inkompetente Umsetzung nach der Eroberung des Iraks durch die US- und britischen Truppen waren ein Indiz dafür, dass Washington sich sehr auf die militärische Vorbereitung, aber nur sehr oberflächlich auf die Nachkriegsgestaltung vorbereitet hatte (Washington Post 2003a). Im Irak ging es primär um strategische Positionsgewinne am Persisch-Arabischen Golf, den Sturz eines regionalen Rivalen und die politische Neuordnung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens unter US-Führung, nebenbei um die Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen. Nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins und der Auflösung oder Zerschlagung der Kernbereiche seines Staatsapparates wurde die Rekonstituierung des Irak als Gesellschaft und Staat zur Notwendigkeit, um ein politisches Vakuum zu vermeiden, Stabilität zu sichern, und zugleich die eigenen Interessen zu fördern. Der erste US-Verwalter des Irak, Jay Garner, hatte noch davon gesprochen, dass seine Aufgabe in drei Monaten erledigt sein und die US-Truppen dann bald abgezogen werden könnten (Washington Post, 2003b)  – ein deutliches Zeichen, dass Nation-Building nicht das Ziel des Krieges war. Selbst danach ging Washington noch eine Zeit lang davon aus, dass die Zahl der US-Besatzungstruppen bis zum Sommer 2003 auf rund 70.000 reduziert werden könnte. Erst dann stellte man fest, dass selbst 160.000 Soldaten nicht ausreichen würden, den Irak zu kontrollieren, Wiederauszubauen und ein neues politisches System zu etablieren.

Externes Nation-Building ist also oft Folge oder Instrument anderer Interventionszwecke, selten das Ziel – was in vielen Fällen die Improvisationen, Inkonsistenzen und mangelnde Vorbereitung erklärt. Es stellt nicht allein einen schweren Eingriff in die lokalen Machtbeziehungen dar, sondern ebenfalls eine machtpolitische Auseinandersetzung zwischen internen und externen Akteuren. Wer fremde Nation-Building Projekte zum Scheitern bringt und eigene an deren Stelle setzt, hat zugleich seine eigene Macht gegen die anderer durchgesetzt. In diesem Sinn hat Nation-Building auch imperiale Züge, wie Ignatieff (2003) schon im Titel seines Buches pointiert zuspitzt: „Empire Lite – Nation-Building in Bosnia, Kosovo and Afghanistan“.

Solche imperialen Unternehmungen sind eng mit einer Verschiebung internationaler Diskurse verknüpft – etwa den Diskussionen um die Zulässigkeit humanitärer Interventionen trotz der Einschränkungen der UNO-Charta (Gewaltverbot, Gebote der Nichteinmischung und der Respektierung der Souveränität anderer Staaten), einer Neudefinition (praktisch der Einschränkung oder Konditionierung) der staatlichen Souveränität bestimmter Länder oder einer Relativierung des Völkerrechts und der Rolle der UNO allgemein (Hippler 2003).

 

Ausgewählte Dimensionen externen Nation-Buildings

    Ausgangspunkte 

    • Fragmentierte Staaten und/oder Gesellschaften
    • Failing states
    • Post-Konflikt Situationen

    Ziele

    • Gewinnung, Ausbau oder Sicherung einer Macht- oder Dominanzposition
    • Stabilisierung einer Gesellschaft oder eines Staates, einer Regierung oder Region
    • Humanitäres: Abwendung, Reduzierung oder Überwindung einer humanitären Katastrophe
    • Schaffung von Voraussetzungen für ökonomische und politische Entwicklung

    Funktionen  humanitäre Hilfe

    • Wiederherstellung/Bereitstellung technischer Infrastruktur
    • Wiederherstellung/Bereitstellung sozialer Infrastruktur
    • Wirtschaftliche Entwicklung
    • Gewährleistung von Sicherheit
    • Durchsetzung oder Absicherung des staatlichen Gewaltmonopols

    Notwendige oder sinnvolle Mechanismen und Strukturen, bzw. deren Einführung oder Stärkung

    • capacity building: Stärkung von Fähigkeiten und Abläufen wirksamer Problemlösung in einer Gesellschaft
    • state-building: die Anwendung von capacity-building auf staatliche Strukturen, Verwaltungen und Regierungen
    • good governance: die Verpflichtung von Regierungsinstitutionen auf Prinzipien wie Transparenz, Korruptionsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit
    • Soziale Integration verschiedener sozioökonomischer, ethno-religiöser und sonstiger Gruppen durch eingespielte Mechanismen der Kommunikation und Kooperation
    • Stärkung der Zivilgesellschaft, soweit nicht im Konflikt zum Nation-Building Projekt
    • Verknüpfung und Integration partialer mit Gesamtinteressen
    • Demokratisierung und Wahlen, Schaffung trans- oder interethnischer Partizipationsmechanismen
    • peace keeping
    • militärische Besetzung und Verwaltung

Imperiale Varianten von externem Nation-Building sollten nicht mit positiven Anstrengungen verwechselt werden, interne Prozesse von Nationen-Bildung von außen politisch, ökonomisch, entwicklungs- oder sicherheitspolitisch zu unterstützen. Für externe Akteure kann Nation-Building die Versuchung bedeuten, sich sein Gegenüber nach dem eigenen Bilde zu schaffen. Die sowjetische Intervention in Afghanistan (1979-1989) war ein Beispiel dafür. Aber sie können bei anderer politischer Einbettung und stärker entwicklungs- und friedenspolitischer Akzentuierung durchaus positive Beiträge zu Nation-Building in Drittstaaten und damit langfristig auch zu sozialer und politischer Stabilisierung leisten.

Allerdings: auch dabei bewegt sich die externe Unterstützung von Nation-Building in einem Spannungsfeld der Förderung – oft widersprüchlicher – interner Prozesse und den eigenen politischen Zielen und Interessen, die nur selten völlig übereinstimmen werden. Auch internes Nation-Building zielt nur in Ausnahmefällen primär auf eine Förderung der Menschenrechte, auf sozialen Ausgleich, good governance und partizipative Demokratie. Es will in der Regel – und das ist weder überraschend noch an sich verwerflich – die Machtsicherung oder -Ausdehnung bestimmter sozialer und politischer Gruppen, von denen die erwähnten positiven Politikziele je nach Umständen als hilfreich oder hinderlich wahrgenommen werden können. Auch ein nicht-imperiales Nation-Building durch Externe wird das interne Projekt nur in Ausnahmefällen als Gesamtpaket unterstützen können, wenn es die eigenen entwicklungspolitischen Ziele nicht kompromittieren möchte, sondern sorgfältig deren Komponenten auf die Vereinbarkeit mit den eigenen Politikzielen prüfen müssen. Externes Nation-Building zur Förderung strategischer Interessen – auch des Interesses an Stabilität – mag dieses Dilemma außer Acht lassen und beispielsweise Stabilität höher gewichten als Demokratie. Unter entwicklungspolitischen Gesichtpunkten macht dies keinen Sinn: eine Förderung der Nation-Building Politik einer repressiven Regierung mag manchem außen- oder sicherheitspolitisch attraktiv erscheinen (z.B. die deutsche Unterstützung Somalias unter Siad Barre als Folge der RAF-Flugzeugentführung nach Mogadischu; die jahrzehntelange Unterstützung Saudi Arabiens durch die USA), entwicklungspolitisch sind sie fragwürdig. Dieses Spannungsverhältnis imperialen (oder, höflicher ausgedrückt: sicherheitspolitisch dominierten) Nation-Buildings und seiner entwicklungspolitischen Variante kann auch innerhalb einzelner Nation-Building Projekte beobachtet werden: in Afghanistan beispielsweise besteht ein nicht auflösbarer Widerspruch zwischen den Versuchen, in Kabul eine funktionierende nationalstaatliche Regierung zu installieren und zu festigen, während das US-Militär in den Provinzen eng mit lokalen Warlords zusammenarbeitet und diese unterstützt, um sie als Hilfstruppen gegen die Reste der Taliban oder al-Qaidas nutzen zu können. So wird Nationalstaatsbildung untergraben (Spanta, in diesem Band). Auch im Irak besteht ein solcher Widerspruch: einerseits sollen eine neues politisches, gesellschaftliches System, ein neuer Staatsapparat und gar eine Demokratie unter irakischer Verantwortung aufgebaut werden, zugleich möchten die US-Behörden zentrale irakische Akteure (etwa die schiitischen Parteien und Organisationen) unter Kontrolle halten, um die eigenen Interessen nicht zu gefährden.

Eine entscheidende Grundfrage bei externen Anstrengungen zu Nation-Building ist, wer den Gesamtprozess steuert. Sind die fragliche interne Regierung oder Sektoren der internen Gesellschaft (zwei bereits sehr unterschiedliche Möglichkeiten), sind internationale Organisationen (etwa die UNO) oder einzelne externe Regierungen (z.B. die US-Regierung) die Schlüsselakteure?

Imperiales und entwicklungspolitisches Nation-Building unterscheiden sich nicht nur graduell, sondern strukturell. Es sind gegensätzliche Projekte, die unterschiedliche Grundansätze, unterschiedliche Instrumentarien und unterschiedlichen Personal- und Mitteleinsatz erfordern. Imperiales Nation-Building muss im Prinzip einen Nationalstaat neu schaffen, und dazu häufig auch die entsprechende Gesellschaft, auch wenn für beides Bausteine vorhanden sein mögen. Dies durch externe Akteure zustande bringen zu wollen (gleichgültig, ob durch unilaterale oder im UNO-Rahmen erfolgende Politik organisiert) ist kein Zeichen politischer Bescheidenheit, sondern ein Schöpfungsakt ungeheuren Ausmaßes, der – je nach Größe und Komplexität des Landes und seiner Ausgangslage - beträchtliche Finanzmittel (leicht in zwei- oder dreistelliger Milliarden-Euro-Größe) und ein oder zwei Generationen Geduld erfordern kann. Er ist ausgesprochen personalintensiv und mit beträchtlichem Risiko behaftet: nicht unmöglich, aber häufig politisch oder rechtlich zweifelhaft und so komplex, mit so hohem Anspruch an Ressourcen, politischen Willen und Durchhaltevermögen versehen, dass sein Scheitern auf Dauer (also nicht unbedingt in wenigen Jahren) eine realistische Möglichkeit darstellt.

 

Grundprobleme imperialen Nation-Buildings

Imperiales Nation-Building ist nicht prinzipiell unmöglich, wird aber im 21. Jahrhundert nur in seltenen Ausnahmefällen gelingen.

Dafür lassen sich folgende Gründe identifizieren.

 Das Sicherheitsproblem: bei Konfliktsituationen in fragmentierten Gesellschaften ist die Gewalt oft selbst fragmentiert. Externe Besatzungstruppen haben oft große Schwierigkeiten, Zivilisten von Kämpfern zu unterscheiden, und da der mögliche Widerstand nicht in größeren militärischen Formationen erfolgt (und dann relativ leicht bekämpft werden könnte) und selten zentral kontrolliert wird, ist die Herstellung von Sicherheit eine schwierige Angelegenheit, für die das Militär oft wenig geeignet ist. Häufig bleiben die Ziele, gegen die die Besatzer vorgehen könnten, im Dunkeln, oder sie sind so eng mit Zivilisten oder zivilen Zielen verknüpft, dass sie nur bekämpft werden können, wenn zivile Opfer in größerer Zahl in Kauf genommen werden. Dies ist nicht nur ethisch und völkerrechtlich problematisch, sondern oft auch politisch: zivile Opfer bringen die Bevölkerung gegen die Besatzungstruppen auf und legitimieren den Widerstand. Und in Fällen, in denen in einer multi-ethnischen Gesellschaft manche Gruppen stärker unter zivilen Opfern leiden als andere, werden die ethnischen Grenzen vertieft und ethnische Identitäten zugespitzt und radikalisiert.

 Das politische Problem lokaler Machthaber und Warlords: Da bei imperialem Nation-Building die Priorität auf die militärische Sicherheit (auch der eigenen Truppen) gelegt werden muss und man auf funktionierende Partner im Land angewiesen ist, besteht ein großer Anreiz, lokale Machtstrukturen, Milizen, Kriegsherren, selbst Verbrecherbanden als Hilfstruppen zu nutzen. So arbeitete die UNO-Verwaltung im Kosovo lange mit der UCK-Miliz zusammen, obwohl diese in zahlreiche kriminelle Aktivitäten, in Einschüchterung der Bevölkerung, die Vertreibung der serbischen und Roma-Minderheiten und andere Aktivitäten verwickelt war – zum Teil, weil man einen militärischen Widerstand der UCK, etwa Anschläge auf KFOR-Einheiten, befürchtete. In Afghanistan führt das Paktieren mit lokalen Warlords durch Lieferung von Waffen und Geld dazu, diese gegen die Zentralregierung zu stärken und auf diese Weise Nation-Building zu untergraben. Das Schlüsselziel eines staatlichen Gewaltmonopols rückt so in immer weitere Ferne. Alternativen zum Paktieren mit lokalen Gewaltstrukturen sind begrenzt: Versuche, sie zu entwaffnen oder aufzulösen, sind oft  hoch riskant und setzen einen Umfang an Zeit und Ressourcen voraus, der in der Regel unrealistisch ist. Letztlich besteht die Achillesverse darin, verlässliche, effektive und politisch akzeptable Partner mit Gewicht im Zielland zu benötigen, auf die man sich stützen kann – dass es solche Partner aber oft nicht gibt. Externes Nation-Building hängt dann in der Luft, oder es erfordert ein noch größeres eigenes Engagement, das wiederum leicht Ablehnung und Widerstand provoziert, gerade wenn man die internen Machtfaktoren umgeht.

 Die Frage der Ressourcen: Angesichts enger haushaltspolitischer Rahmenbedingungen und begrenzter militärischer Kapazitäten müssen militärische Einsätze zeitlich begrenzt und mit möglichst geringem personellem und finanziellem Aufwand durchgeführt werden. Dies ist nicht immer einfach: so erwiesen sich die Besatzungskosten der USA im Irak mit monatlich rund 4 Mrd. Dollar als doppelt so hoch wie zuerst kalkuliert (Washington Post 2003c). Aber genau dieses Erfordernis eines minimalen Mitteleinsatzes und möglichst begrenzten Zeitrahmens blockiert die Erfolgschancen imperialen Nation-Buildings: in wenigen Jahren mögen konkrete militärische Ziele zu erreichen und Projekte zu verwirklichen sein, aber kaum jemals die Neukonstituierung eines Staatsapparates und einer funktionierenden Gesellschaft durch „Außenseiter“ in einer fremden Umgebung.

 Der innenpolitische Faktor: Gesellschaften in Europa und Nordamerika haben angesichts ferner Regionalkonflikte nur eine begrenzte Geduld und Engagementbereitschaft. Es ist zwar möglich, die Interventionsbereitschaft in nördlichen Industriegesellschaften insbesondere mit „moralischen“ (etwa humanitären oder menschenrechtlichen) Argumenten oder der Angst vor Massenvernichtungswaffen herzustellen und eine zeit lang aufrecht zu erhalten, aber ein größeres Engagement über 10, 20 oder mehr Jahre mit großem finanziellen und personellen Aufwand innenpolitisch durchzuhalten, dürfte in den meisten Fällen ausgeschlossen sein. Darüber hinaus besteht das offensichtliche Problem einer innenpolitischen Reaktion auf außenpolitische Überforderung: die Bundeswehr ist mit ihrer Präsenz auf dem Balkan und in Afghanistan am Rande ihrer Kapazitäten, und die US-Besatzung des Irak ist so personalintensiv, das selbst das US-Militär bereits seit dem Sommer 2003 an Engpässen leidet. Dass die Parlamente und Öffentlichkeit einer dauerhaften umfassenden Präsenz oder gar der Ausweitung auf andere Länder zustimmen könnten, wird mittelfristig fraglich.

 Schließlich bestehen beträchtliche Probleme, die aus Zielkonflikten und Ziel-Mittel-Konflikten resultieren. Bei imperialem Nation-Building besteht ein häufiger Konflikt zwischen dem Interesse an tatsächlichem Nation-Building und dem Interesse an Kontrolle. Beides erfordert allerdings sehr unterschiedliche Herangehensweise und Instrumente: Kontrolle muss den Sicherheitsaspekt ins Zentrum stellen, weil sie sonst leicht erodieren kann, gerade bei externen Akteuren, die im Zielland selbst ohnehin in einer prekären Lage sind. Nation-Building wird in diesem Kontext vor allem zum Mittel sozialer und politischer Kontrolle des Landes, ist also kein Ziel, sondern – wie erwähnt - Instrument anderer Zwecke. Diese Variante von Nation-Building wird entsprechend geprägt, was meist auf eine Betonung militärischer, polizeilicher und geheimdienstlicher Mittel (etwa entsprechende Unterstützung oder Ausbildung des lokalen Staatsapparates), entsprechende Infrastrukturmaßnahmen (etwa die Erschließung unzugänglicher Gegenden, um diese als Rückzugsmöglichkeiten schwerer nutzbar zu machen) und streng reglementierte Demokratisierungs- und Partizipationsmöglichkeiten hinausläuft (um zwar lokale Kräfte in die Verwaltung des Landes einzubeziehen und in der Öffentlichkeit besser akzeptiert zu werden, aber zugleich die Zügel nicht aus der Hand zu geben). Ein Beispiel dafür ist die plötzliche Absage der Kommunalwahlen im Irak, nachdem in einigen Städten bereits die Stimmzettel gedruckt waren – ein politisches Symbol an die irakische Bevölkerung, wie ernst die Versprechen von Demokratie durch die Militärbehörden gemeint waren (Washington Post 2003d). Auch die Versuchung, Taktiken des Teilens-und-Herrschens anzuwenden, ist vorhanden, was gesellschaftliche Integration erschwert.

Ziel-Mittel-Konflikte bestehen häufig darin, dass das primäre Instrument imperialen Nation-Buildings – das Militär – für viele zivile Aufgaben nationaler Integration und des State-Building ziemlich ungeeignet ist, andere Instrumente (etwa aus der Entwicklungspolitik) aber über weniger Handlungsspielraum und Mittel verfügen.

Insgesamt ist imperiales Nation-Building eine politisch und ethisch fragwürdige Angelegenheit, die meist an ihrem Geburtsfehler leidet, nämlich die Aufgaben der externen Kontrolle der Gesellschaft und ihre Funktion der Nationenbildung nicht miteinander vereinbaren zu können. So sprach die US-Regierung gern und viel von ihrem Ziel einer „Befreiung“ und Demokratisierung des Irak, während der US-Zivilverwalter in Bagdad, Paul Bremer nüchtern feststellte: „So lang wir hier sind, sind wir die Besatzungsmacht. Das ist ein hässliches Wort, aber es ist die Wahrheit.“ (Washington Post 2003e) Auch die feststellbare Tendenz, „Nation-Building“ im imperialen Kontext nur stückweise, widersprüchlich, improvisierend und bei Minimierung von Kosten und Personal erreichen zu wollen, bringt ein solches Projekt leicht an den Rand des Scheiterns.

 

Schwierigkeiten und Erfolgsbedingungen von Nation-Building

Nation-Building ist trotzdem möglich, dafür gibt es viele Beispiele. Und erfolgreiches Nation-Building vermag auch – nach einer möglichen Phase verstärkter Instabilität – durchaus positive Beiträge zur Stabilisierung und zur Verminderung der Gewaltpotentiale in vorher fragilen und fragmentierten Gesellschaften zu leisten. Allerdings ist es kein Allheilmittel in ausweglosen Situationen, sondern bedarf entsprechender Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, politischen Willen, Geduld, Konzeptionen und Ressourcen.

Ein Engagement externer Akteure bei entwicklungspolitischem Nation-Building im Sinne von Hopp/Kloke-Lesch (bei ihnen „Nationenbildung“ im Gegensatz zu „Nation-Building“ genannt; in diesem Band) stellt eine immer noch komplexe, aber doch bescheidenere und realistischere Politikvariante dar als die imperiale Herangehensweise: durch seinen Grundansatz der internen Unterstützung statt der externen Schaffung von Nation-Building hält es das Risiko und das eigene Engagement in Grenzen, wirft weniger politische und völkerrechtliche Probleme auf und vermeidet das Risiko der Selbstüberforderung und der Hybris. Ist imperiales Nation-Building prinzipiell ein dramatischer Schöpfungsakt von Nationen durch Ausländer, so stellt entwicklungspolitische Nationenbildung das selektive Bohren dicker Bretter dar. Zwar kann man immer noch die falschen Löcher bohren oder es mag bei der Arbeit der Bohrer abbrechen, aber die Gefahr ist doch gering, dass dem Handwerker das ganze Haus auf den Kopf stürzt.

Nation-Building wird kaum gute Erfolgschancen haben, wenn es – gleich ob von außen oder von innen – wie eine Blaupause einer Gesellschaft übergestülpt wird. Insbesondere, wenn man es als bloße Übertragung westlicher Vorbilder auf fragmentierte Gesellschaften der Dritten Welt zu betreiben versucht – etwa nach dem Muster: Marktwirtschaft, eine demokratische Verfassung, dann eine Wahl – wird man leicht in Schwierigkeiten geraten, wie das afghanische Beispiel nahe legt. Umgekehrt sind auch Versuche, sich ohne tragfähiges Konzept pragmatisch zu erfolgreichem Nation-Building vorzutasten, meist problematisch – etwa: erst externe Sicherheit und Kontrolle, dann eine scheibchenweise Machtübertragung an Einheimische. Die Erfahrungen im Irak deuten in diese Richtung.

Wie Demokratie wird auch Nation-Building dann am aussichtsreichsten sein, wenn es bestimmte Funktionen für die betroffene Gesellschaft erfüllt, was von den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Bevölkerung und ihrer sozio-ökonomischen und politischen Gruppen aus beurteilt werden muss. Erfolgreiches Nation-Building in Situationen akuter Notlagen, etwa wirtschaftlicher und sozialer Hoffnungslosigkeit oder nach einer Situation von ethnisch begründetem Völkermord hat weit schlechtere Erfolgsaussichten als bei wachsendem Verteilungsspielraum und vor dem völligen Zerfall inter-ethnischer Beziehungen durch Gewaltexzesse. Das gilt leider unabhängig davon, dass in zugespitzten Konflikt- oder Post-Konflikt-Situationen die Notwendigkeit sozialer und politischer Integration besonders ausgeprägt ist. Je fragmentierter eine Gesellschaft und je höher ihre aktuelle Gewalterfahrung sind, desto höher wird die Bedeutung von Zwang und militärischer und polizeilicher Sicherheit sein, um langfristig eine Gesellschaft zu re-integrieren. Und je desolater die sozio-ökonomische Situation ist und je stärker diese von der Bevölkerung als dauerhaft wahrgenommen wird, umso schwieriger sind die internen Bedingungen für Nation-Building. Hier stellt sich häufig die Frage, ob die Re-integration einer heterogenen Gesellschaft überhaupt noch möglich oder sinnvoll ist, oder ob entsprechende Versuche den Prozess der Desintegration nur schmerzhaft in die Länge ziehen. Politisch und ethisch können sich so in manchen Fällen furchtbare Fragen stellen: etwa, ob eine „ethnische Säuberung“ überhaupt rückgängig gemacht werden kann, ohne weiteres schweres Leiden zu verursachen, oder ob der Zerfall einer multiethnischen Gesellschaft ab einem bestimmten Punkt nicht hingenommen und zum Ausgangspunkt getrennter Nation-Building Prozesse genommen werden muss, anstatt die verschiedenen Seiten gegen ihrer Willen zu einer neuen Einheit zwingen zu wollen, wie zwei Skorpione in einer Flasche. Dieses ethische Dilemma wird oft nicht aufzulösen sein: brutale Gewaltexzesse und Vertreibungen nicht dadurch akzeptieren zu wollen, indem man ihre Ergebnisse zum Ausgangspunkt der politischen Entwicklung nimmt, umgekehrt sie aber nicht zurückdrehen zu können, ohne den Gewaltkonflikt latent oder akut zu verewigen. Aus verständlichen Gründen hat sich die internationale Gemeinschaft um diese Frage nicht selten gedrückt, etwa im Rahmen der Dayton-Abkommen für Bosnien und durch den Schwebezustand im Kosovo, wo eine Rückführung der geflohenen und vertriebenen serbischen und Roma-Bevölkerung eine neue Gewaltrunde eröffnen würde. Ein kosovo-albanisches Nation-Building widerspricht dem Völkerrecht (da Kosovo völkerrechtlich und aufgrund des Rambouillet -Abkommens weiter zu Serbien gehört), ein Verzicht darauf oder der Versuch, die Zugehörigkeit zu Serbien durchzusetzen, würde den Konflikt wieder über die Gewaltschwelle eskalieren.

 

Ansatzpunkte

Nation-Building ist ein schmerzhafter, widersprüchlicher und komplexer Prozess, der eher Erfolg verspricht, wenn die betroffene Bevölkerung in ihren konkreten Lebensumständen praktische Verbesserungen feststellt und diese implizit oder explizit mit ihm in Verbindung bringt. Wenn die Lebensumstände sich weiter verschlechtern oder auf sehr niedrigem Niveau stagnieren, leidet die Legitimität jedes politischen Projektes, das die Bevölkerung dafür als verantwortlich betrachtet. Fehlende Legitimität könnte theoretisch eine zeitlang durch Zwang ausgeglichen werden, was allerdings weder wünschbar noch auf Dauer durchzuhalten ist. Nation-Building wird akzeptiert oder zumindest toleriert, wenn es Hoffnung auf eine bessere Zukunft weckt, und wenn es dafür zumindest glaubwürdige Anzeichen gibt – sonst wird es leicht als etwas fremdes, aufgezwungenes, künstliches oder bedrohliches wahrgenommen. Eine Änderung politischer Strukturen, etwa im Sinne der Stärkung des Staatsapparates oder höherer Effizienz allein wird selten funktionieren, wenn sich die Lebensumstände der Menschen nicht zeitnah erkennbar bessern: die neue „Nation“ muss das Gefühl bekommen, dass „ihr“ neuer Nationalstaat die gesellschaftlichen Probleme im Sinne der Bevölkerung löst, sonst ist er kaum zu vermitteln. Eine solche bedürfnisorientierte Herangehensweise wird in der Regel ökonomische und sozialpolitische Komponenten enthalten (Nahrungssicherung, Wohnraum, Arbeitsplätze, Gesundheitsversorgung, etc.), sollte aber nicht darauf verengt werden: in vielen Gesellschaften sind Fragen der persönlichen Sicherheit (gerade in Post-Konflikt-Situationen oder nach der Überwindung einer repressiven Diktatur), der Korruption, der Infrastruktur (Energie- und Wasserversorgung), oder kulturelle Ausdruckformen oder Symbole von fast ebenso hoher Bedeutung. Zuerst einmal muss sich Nation-Building für die Mehrheit der Menschen einmal „lohnen“, um angenommen zu werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die Unzufriedenheit alternative Politikmodelle (sezessionistischer, ethnischer oder religiöser Art) auf Kosten des Integrationsprozesses stärkt.

Verknüpft mit der Verbesserung der Lebenssituation sollten die nötigen politisch-strukturellen Veränderungen umgesetzt werden, wobei die internen politischen und kulturellen Bedingungen zum Ausgangspunkt werden müssen. Dabei geht es nicht um eine schematische Einführung von Demokratie, sondern um die Schaffung deren Voraussetzungen: etwa ein funktionierendes, schnelles und kostengünstiges Rechtswesen, ein gerechtes und wirksames Steuersystem, das (gerade ethnische) Eliten nicht bevorzugt, und ein verantwortliches, über den politischen und sozialen Gruppen stehendes Polizeiwesen und Militär, sowie eine pluralistische Öffnung der Gesellschaft. Die gleiche Zugangsmöglichkeit zu einem Bildungswesen, das wirtschaftliche und Lebenschancen eröffnet, ist in vielen Gesellschaften ein wichtiger Aspekt. Rechtsstaatlichkeit, persönliche Sicherheit und die Gleichbehandlung aller gesellschaftlichen Sektoren und Gruppen stehen dabei im Mittelpunkt. All dies ist leichter postuliert als implementiert, denn manche bisher privilegierten Gruppen werden eine solche Gleichbehandlung als Machtverlust und Diskriminierung wahrnehmen.

Die dritte Ebene erfolgreichen Nation-Buildings liegt bei der nationalen Vernetzung des politischen Sektors. Die Reformen der Einzelbereiche müssen durch die Integration des Staatsapparates (und der Gesellschaft) zusammengeführt werden: funktionierende Politiksektoren sind eine wichtige Voraussetzung, aber nicht der Kern von Nation-Building. Erst wenn der Staatsapparat zu einer Gesamtheit verwächst und seine Bestandteile politisch und ideologisch integriert, zugleich politische Mechanismen der Integration der verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren hervorbringt oder mit ihnen kooperiert – Parlamente, Regierungen, Loyalitäten, und deren Voraussetzungen wie funktionierende Parteien, eine lebendige Zivilgesellschaft oder gesamtgesellschaftliche Politikdiskurse – erst dann kann tatsächlich von Nation-Building gesprochen werden. Zu diesem Aspekt gehört auch die juristische und faktische Durchsetzung des Gewaltmonopol des Staates.
 

Drei Ansatzpunkte für Nation-Building

  • Spürbare Verbesserung der konkreten Lebensumstände, 
    z.B. in den Bereichen Wirtschaft, soziales und persönliche Sicherheit
  • strukturelle Reformen in einzelnen Sektoren,
    z.B. Polizei, Rechtswesen, Gesundheits- und Bildungswesen, Infrastruktur, Steuerwesen
  • Integration des politischen Gesamtsystems;
    z.B. durch nationale Parteien, Stärkung der Zivilgesellschaft, gesamtgesellschaftliche Diskurse, Wahlen und Parlamente, eine Balance zwischen zentralen und föderalen Politikelementen


Dabei dürfen diese drei Ebenen nicht als Phasenmodell missverstanden werden, sondern sie stehen in einem dialektischen Verhältnis: ohne einen einigermaßen funktionierenden Staatsapparat sind die beiden ersten Ebenen kaum erfolgreich zu bewältigen; aber ohne einen gewissen Erfolg auf ihnen ist es schwierig, einen fragilen und ineffektiven Staat zu einem wirksamen auszubauen. Gerade darin besteht die strategische Kernschwierigkeit: dass der komplexe Nation-Building Prozess eben nicht systematisch und in klaren Stufen abgearbeitet werden kann, sondern unter Umständen in schwachen und geteilten Gesellschaften leicht eine Überforderung der politischen und ökonomischen Strukturen bedeutet. Selten gibt es einen archimedischen Punkt, von dem aus alle anderen Probleme leicht gelöst werden könnten. Und genau an dieser Stelle kann externe Unterstützung eine wichtige fördernde Rolle spielen, wenn sie der imperialen Versuchung nicht erliegt: auf einer oder mehrerer der drei Ebenen mit Problemlösungskapazitäten und Ressourcen einzugreifen – nicht, um Nation-Building von außen an die Stelle des internen zu setzen, sondern um den internen Akteuren größeren Spielraum zu verschaffen, damit sie nicht in einer Situation der Schwäche drei komplexe Problembündel zugleich bewältigen müssen. Dabei kann der Prozess selbst weiterhin nur von den internen Akteuren gemeistert werden, aber ihre Erfolgschancen lassen sich von außen erhöhen oder vermindern. Dieser Punkt kann kaum überbetont werden: erfolgreiches Nation-Building kann nur stattfinden, wenn im Land selbst dafür die nötigen Voraussetzungen bestehen und geeignete interne Akteure vorhanden sind. Pei/Kasper (2003: 5) betonen unter anderem die Bedeutung eines grundlegend funktionierenden Staatsapparates: „a strong, indigenous state capacity is almost always a requirement for success.“ Auch wenn dies fast tautologisch klingt – der Aufbau eines funktionierenden Nationalstaats setzt einen starken Staat voraus – ist es nicht falsch: ohne zumindest grundlegende politische und administrative Funktionsfähigkeit fehlen Nation-Building Prozessen wichtige Voraussetzungen. Pei/Kasper sind skeptisch, einen Staat von außen zu schaffen: „(B)uilding this capacity may be a challenge beyond the capacity of even the most well-intentioned and determined outsiders. Effective state institutions historically evolve organically out of a nation’s social structure, cultural norms, and distribution of political power. Therefore, political engineering by outsiders seldom succeeds in radically altering the underlying conditions responsible for the state’s ineffectiveness.” (Pei/Kasper 2003: 5)

Fehlen wichtige Voraussetzungen für Nation-Building oder sind fraglich – und dazu gehören auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle - werden externe Nation-Building Versuche häufig eher zusätzlich destruktiv und fragmentierend wirken. Ist beides aber gegeben, sind immer noch eine fundierte Analyse der internen Bedingungen und Akteure, ein realistisches Konzept, das ökonomische, soziale, politische, kulturelle, sicherheitspolitische und andere Aspekte und Instrumente integriert, Geld, Personal und große Geduld erforderlich, um eine solche Chance auch nutzen zu können.

Die drei hier vorgeschlagenen Ansatzpunkte überlappen sich mit den am Beginn des Buches (Hippler, in diesem Band) präsentierten drei Kernbereichen von Nation-Building: Integration von Gesellschaft („Nation“), state-building und ideologische Integration, sind damit aber offensichtlich nicht identisch. Beides unterscheidet sich darin, einerseits die Kernbereiche vollzogenen Nation-Buildings, andererseits sinnvolle Ausgangspunkte einer nicht-imperialen Politik des Nation-Building zum Gegenstand zu haben. Deutlich wird dies etwa an der Rolle der Ideologie: während es tatsächlich so ist, dass auf Dauer eine erfolgreiche Nationalstaatsbildung ohne ideologische Absicherung und Legitimation fragil bleibt, so wäre Ideologiebildung aber nur in Ausnahmefällen ein geeigneter Startpunkt: ohne die stärker materiellen Aufgaben zu bewältigen würde sie schnell diskreditiert. Von außen ist solche Ideologiebildung nur selten und in geringem Maße zu fördern, und stünde Ideologiebildung am Anfang des Prozesses, bestünde sogar die Gefahr, dass sie leicht zu einer ethnische oder anderweitigen Exklusivität geraten würde, um die Mobilisierung für ein schwach fundiertes Projekt von Nation-Building durch Abgrenzung von Anderen zu erreichen. Das ist politisch allerdings meist keine gute Idee, wenn man das Ziel der Konfliktprävention nicht aufgeben möchte.

 

Fazit

„Nation-Building“ war und bleibt ein vielschichtiges Politikkonzept, und seine Diskussion pendelt zwischen einer eher willkürlichen Begriffsverwendung zur Bezeichnung eklektizistischer Politikelemente (in den Bereichen peace-keeping, state-building, Wiederaufbau, Besatzungspolitik, und der politischen Gestaltung fremder Gesellschaften), einer imperialen Variante von Interessenpolitik zur Kontrolle fremder Gesellschaften, und einem entwicklungs- und friedenspolitischen Ansatz zur Stabilisierung und Konfliktprävention in aktuellen und potentiellen Krisenländern. Letzterer bietet Chancen, schwierige und potentiell konfliktverschärfende Situationen konstruktiv zu bearbeiten, wenn die objektiven und subjektiven Bedingungen im Einzelfall dies zulassen. Nation-Building in diesem Zusammenhang ist kein Wundermittel, auch kein prinzipiell neuer oder origineller Ansatz der Entwicklungs-, Außen-, Sicherheits- oder Friedenspolitik, sondern eine Möglichkeit, unterschiedliche Politikinstrumente und Vorgehensweisen konzeptionell zu integrieren. Dabei werden alte und neue Instrumentarien und Politiken unter dem Gesichtspunkt der Stärkung politischer und gesellschaftlicher Integration neu gewichtet und miteinander verknüpft, um so die internen Entwicklungschancen und Potentiale zur Gewaltreduzierung zu stärken. Eine so verstandene Politik der externen Unterstützung interner, authentischer Nation-Building Prozesse kann auf diese Weise entwicklungs- und friedensfördernd wirken: sie will nicht das Rad neu erfinden oder eigene Modelle umstandslos auf fragmentierte Dritte-Welt-Länder übertragen – ein Defekt der entsprechenden Diskussionen der 1950er und 1960er Jahre – sondern das Bündel der bereits vorhandenen Politiken und Instrumentarien auf einen politisch zentralen Bereich zuspitzen und integrieren. Das ist lange nötig: in einer Zeit zahlreicher in sich schlüssiger „Sektoralpolitiken“ diese zusammenzuführen und Kriterien und Konzeptionen zu entwickeln, um deren Beziehung, Gewichtung und letztliches Gesamtziel zu bestimmen, ist eine dringende Aufgabe. Tatsächlich sind die Integration fragmentierter Gesellschaften und die Funktionsfähigkeit eines der Gesellschaft entsprechenden und ihr dienenden Staatsapparates zwei strategische Schlüsselansatzpunkte, die die Verfolgung vieler allgemeiner und oft etwas wolkiger Politikziele (Entwicklung, Frieden, Good Governance, etc.) systematisieren und erleichtern können. Bisher ist eine aktive, fördernde Politik des Nation-Building erst in Ansätzen zu erkennen und unter einem Berg von Rhetorik und Stückwerk kaum wahrnehmbar. Es lohnt sich aber, an diesem Ansatzpunkt weiterzuarbeiten und handhabbare, geschlossene Politikkonzepte auszuformulieren – wenn es vorher gelingt, die Instrumentalisierung von Nation-Building zu einer imperialen Herrschaftstechnik zurückzuweisen.

 

 

Literatur

 Ignatieff, Michael (2003), Empire Lite – Nation-Building in Bosnia, Kosovo and Afghanistan, London 2003

 Hippler, Jochen (2003b): US-Dominanz und Unilateralismus im internationalen System - Strategische Probleme und Grenzen von Global Governance, in: Jochen Hippler/Jeanette Schade, US-Unilateralismus als Problem von internationaler Politik und Global Governance, INEF-Report 70, Juli 2003, Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Duisburg, http://inef.uni-duisburg.de/page/documents/report70.pdf

 Kardas, Saban (2003), Regime Change, Nation-Building, and Democratization: American Discourse on Iraq Reconsidered, in: Turkish Daily News, 3, 5 and 6, May 2003; hier nach: http://www.foreignpolicy.org.tr/eng/articles/skardas_020603.htm

 Pei, Minxin / Kasper, Sara (2003), Lessons from the Past: The American Record on Nation Building, Carnegie Endowment for International Peace, Policy Brief 24, May 2003

 Volmer, Ludger (2002), "New International Security Situation" - Plenarbeitrag von Staatsminister Volmer beim 4. ASEM Außenministertreffen, Madrid, 7. Juni .2002; http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=3254

 Washington Post (2003a),Wolfowitz Concedes Iraq Errors, in: Washington Post, July 24, 2003, p. A01

 Washington Post (2003b), Reconstruction Planners Worry, Wait and Evaluate, in: Washington Post, April 2, 2003, p. A01

 Washington Post (2003c), Military Operations in Iraq Cost Nearly $4 Billion a Month, in: Washington Post, July 10, 2003, p. A24

 Washington Post (2003d), Occupation Forces Halt Elections Throughout Iraq, in: Washington Post, June 28, 2003, p. A20

 Washington Post (2003e), The Final Word on Iraq’s Future – Bremer Consults and Cajoles, but in the End, He’s the Boss, in: Washington Post, June 18, 2003, p. A01

 

 

Quelle:

Jochen Hippler,
Nationalstaaten aus der Retorte? - Nation-Building zwischen militärischer Intervention, Krisenprävention und Entwicklungspolitik,
in: Jochen Hippler (Hrsg.), Nation-Building – ein sinnvolles Instrument der Konfliktbearbeitung?,
Dietz Verlag (Bonn), Reihe Eine Welt der Stiftung für Entwicklung und Frieden, 2004, S. 245-270

 

 

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