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Jochen Hippler                                                                                                                       als pdf-Datei

 

Der Nahe und Mittlere Osten
– Grundprobleme einer konfliktträchtigen Region

 

 

Die Wahrnehmung des Nahen und Mittleren Ostens in der europäischen Öffentlichkeit wird meist von den dortigen Gewaltkonflikten, also den Kriegen, Aufständen, Bürgerkriegen, Terrorismus und von religiösem Fanatismus bestimmt – zwei Aspekten, die meist noch in einen engen Zusammenhang gebracht werden. Nun ist kaum zu bestreiten, dass in der Region in den letzten ein oder zwei Generationen ein hohes Gewaltniveau herrscht und dass dort religiöse Engstirnigkeit keine Seltenheit darstellt. Wir sollten aber vorsichtig sein, diese Erscheinungen pauschal als grundlegend für die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens zu halten oder „dem Islam“ als Wesensmerkmal anzulasten: Einmal würde so leicht übersehen, dass die europäische Geschichte – gerade des 20. Jahrhunderts – deutlich gewaltsamer als die der nah- und mittelöstlichen Länder verlaufen ist, ohne dass man dies aus dem Charakter der Europäer, aus dem des Christentums oder der Säkularität ableiten sollte. Ebenso darf nicht vergessen werden, dass Gewalt und religiöser Fanatismus in der Geschichte der Region keine Konstanten waren, sondern – wie in anderen Teilen der Welt – in ihrer Intensität stark schwankten. Beides legt nahe, dass das Problem der Gewalt nicht dem Nahen und Mittleren Osten spezifisch, sondern den verschiedenen Kulturkreisen gemeinsam ist.  Schließlich sollte auch daran gedacht werden, dass weder Gewalt noch religiöser Extremismus in der gesamten Region im gleichen Maße auftreten – obwohl diese überall stark vom Islam geprägt wurde – sondern in manchen Ländern und Gesellschaften zu bestimmten Zeitpunkten dramatisch ausgeprägt, aber in der Nachbarschaft kaum vorhanden sind. Dieser Aspekt lenkt bereits das Augenmerk auf die Frage, ob der Nahe und Mittlere Osten eigentlich eine einheitliche Region darstellt oder eher von Heterogenität sehr unterschiedlicher Länder bestimmt wird.

 

Wirtschaftliche und soziale Widersprüche

Der Begriff des „Nahen und Mittleren Ostens“ ist wenig präzise. Er lässt offen, ob Länder wie Marokko oder Tunesien dazugehören, da diese im geographischen Sinne außerhalb der Region liegen, ähnliches gilt für den Iran oder Afghanistan. Andererseits werden diese Länder oft einbezogen, da man entweder von ihrer Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen – islamisch geprägten – Kulturkreis ausgeht oder die Gesamtregion politisch als Einheit betrachtet. Andere Begriffe – wie der „Vordere Orient“ oder der „Islamisch geprägte Nahe Osten“, etc. – lösen das Problem der Unbestimmtheit nicht. In diesem Buch wird aus pragmatischen Gründen (und in Aufnahme der öffentlichen Debatten) ein weiter Begriff der Region verwandt, der den angelsächsischen Terminus „Middle East and North Afrika“ (MENA)   zugrunde gelegt, aber noch um Afghanistan erweitert, auch wenn dies geographisch etwas zweifelhaft bleiben muß (Afghanistan lässt sich mit guten Gründen zu Zentralasien oder Südasien rechnen). Dies erscheint aber politisch-kulturell vertretbar.

In dieser Gesamtregion lebten 2005 etwa 330 Millionen Menschen, rund zehn Prozent mehr als in den USA. Ihr Bruttosozialprodukt (BSP) liegt bei etwa 690 Mrd. Dollar, also etwa einem zwanzigstel der USA. Das BSP pro Kopf der Bevölkerung betrug 2005 etwas mehr als 2200 US-Dollar (zum Vergleich: in Deutschland rund 34.500 Dollar), was allerdings bei Berücksichtigung der Kaufkraft einen falschen Eindruck erweckt: Diese liegt pro Person liegt in der Region bei etwas mehr als einem Fünftel der deutschen. Ein Drittel der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre, und die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 68 Jahren für Männer, 71 für Frauen.   Die Analphabetenrate beträgt 28 Prozent. 13 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt. 

Solche Daten verhüllen allerdings mehr als sie erhellen, denn die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern sind extrem stark ausgeprägt. So gibt es bevölkerungsreiche Länder mit mäßiger Wirtschaftskraft (wie Ägypten), Länder oder Gebiete mit sehr geringem Stand wirtschaftlicher Entwicklung (wie etwa der Jemen), solche in Kriegs-, Bürgerkriegs oder Besatzungssituationen (Irak, Palästina) und andererseits bevölkerungsschwache Länder mit riesigen Ölvorkommen und entsprechend hohem Einkommen (z.B. Kuwait, Vereinigte Arabische Emirate). Es liegt auf der Hand, dass die jeweiligen innergesellschaftlichen und Lebensbedingungen entsprechend auseinanderklaffen.

Der Jemen kommt mit seinen 21 Millionen Einwohnern beispielsweise nur auf 600 US-Dollar an Bruttosozialprodukt pro Kopf und Jahr (2005), Palästina auf 1120 und Syrien auf 1380 Dollar, Ägypten liegt zwischen beiden. Andererseits beträgt das BSP pro Kopf im Oman über 9000 Dollar, in Saudi Arabien bei rund 11.800 und Kuwait über 24.000 Dollar pro Person und Jahr.  Israel liegt mit 26.200 Dollar noch darüber. Im Jemen lebten Ende der 1990er Jahre rund 45 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar pro Tag, 46 Prozent der Kinder unter fünf Jahren waren noch nach der Jahrhundertwende unterernährt – Zustände, die in den Ölstaaten am Persischen Golf kaum vorstellbar sind. 

Vor diesem Hintergrund ist die Region wirtschaftlich und sozialpolitisch sicher keine Einheit. Politisch ist die Region ebenfalls hochgradig heterogen, obwohl in dieser Beziehung auch Gemeinsamkeiten bestehen. Republiken wie Tunesien, Ägypten, Syrien oder dem Jemen stehen Monarchien gegenüber, wie in Marokko, Jordanien oder Saudi Arabien. In manchen Ländern werden periodisch Wahlen abgehalten, die aber politisch bedeutungslos sind (Syrien, Libyen) oder manipuliert werden (Ägypten, früher Algerien), manchmal aber durchaus auch politische Bedeutung haben und relativ oder weitgehend fair sind (Palästina, Irak, Jemen, Kuwait, inzwischen Algerien, teilweise Ägypten oder der Libanon).  In Saudi Arabien und den Vereinten Arabischen Emiraten sind Wahlen immer noch undenkbar (zumindest im nationalen Rahmen; in Saudi Arabien gab es erste Wahlexperimente auf kommunaler Ebene) immer noch undenkbar. In manchen Ländern gibt es starke und entwicklungsfähige Zivilgesellschaften (Palästina, Libanon, Marokko), während in anderen vom Staat unabhängige Organisationen verfolgt oder unterdrückt werden (Libyen, Syrien, Saudi Arabien). Manche Länder sind in ihrer Außenpolitik ausgesprochen pro-westlich orientiert, so etwa Israel, Tunesien, Jordanien oder Ägypten, andere gelten in Washington als „Achse des Bösen“ oder „Schurkenstaaten“ (Iran, Syrien, bis vor einiger Zeit noch der Irak und Libyen), in anderen sind US-amerikanische, israelische oder internationale Kampftruppen stationiert, die von der Bevölkerung - oder zumindest größeren Teilen - als Besatzungstruppen empfunden werden (Irak, Palästina, Afghanistan). In manchen Ländern ist die innenpolitische Situation seit langem friedlich (Tunesien, Marokko, Katar, Bahrain, Jordanien), während andere nach Kriegen oder Bürgerkriegen inzwischen die Gewalt überwunden haben (Algerien, Jemen, Iran, Kuwait), wieder andere sind oder waren noch vor kurzem immer noch Schauplätze blutiger Konflikte (Sudan, Libanon, Palästina, Irak, Afghanistan).

Manche Länder sind ethnisch (Tunesien, Jemen) oder religiös/konfessionell (Tunesien) relativ homogen, während die meisten ethnisch und sprachlich (Irak, Afghanistan, Sudan) oder religiös ausgesprochen heterogen sind (Irak, Libanon, erneut Sudan). Mal sind Stammesstrukturen von großer Bedeutung für die Innenpolitik und gesellschaftliche Machtverteilung (Libyen, Saudi Arabien), mal sind sie kaum oder wenig wichtig (Ägypten, Libanon, Palästina).

Insgesamt ist unübersehbar, dass die Region Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens ausgesprochen vielfältig ist. Dazu kommt, dass dies auch für die inneren Verhältnisse vieler der dortigen Länder gilt: Dies gilt nicht allein für die erwähnten ethnischen oder religiösen Unterschiede, sondern auch für einen oft scharf ausgeprägten Stadt-Land-Gegensatz und große wirtschaftliche Entwicklungsunterschiede verschiedener Regionen.

 

Westliche Sichtweisen auf die Region

Trotzdem wird die Region häufig als Einheit wahrgenommen, zumindest politisch-kulturell. Dafür gibt es gute und schlechte Gründe.

Von außen betrachtet – etwa aus der Sicht Washingtons oder einiger europäischer Hauptstädte – geraten die großen Unterschiede häufig aus dem Blick, weil man die Gesamtregion vor allem aus einer Perspektive des strategischen oder wirtschaftlichen Eigeninteresses wahrnimmt. Danach steht das westliche Interesse an einer stabilen und sicheren Energieversorgung (zunehmend auch in Konkurrenz zu China, Indien und anderen Ländern) im Vordergrund. Fast zwei Drittel der nachgewiesenen Ölvorkommen der Welt liegen allein am Persischen Golf (Saudi Arabien, Irak, Kuwait, Iran, dazu die kleineren Scheichtümer und Emirate), dazu kommen wichtige Vorkommen (Öl und Gas) in Algerien und Libyen. Die hochgradige Abhängigkeit Europas von Energieimporten, die wachsende Importabhängigkeit der USA, und letztlich die Abhängigkeit der gesamten Weltwirtschaft vom Öl und Gas der Region sind Faktoren, die die Wahrnehmung der Region stärker prägen als ihre innere Vielfalt.

Zweitens betrachtet man den Nahen und Mittleren Osten häufig unter dem Gesichtspunkt seiner politischen Stabilität, was offensichtlich mit der Bedeutung der Energieressourcen verknüpft ist. Westlicher Politik sind die internen Widersprüche und Unterschiede der Region relativ gleichgültig, solange die regionale Stabilität gesichert ist – und zwar in einem politischen Rahmen, der die wirtschaftliche Zugänglichkeit und den eigenen Einfluss gewährleistet.

Drittens wird die Region des Nahen und Mittleren Ostens inzwischen auch als Problem der externen Sicherheit des Westens betrachtet, also als reale oder potentielle Bedrohung. Im Zentrum stehen hierbei die Fragen des islamistischen Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die beide vor dem Hintergrund der Sicherung pro-westlicher Stabilität gesehen werden – so sind Massenvernichtungswaffen nicht automatisch und immer ein Problem (siehe die „akzeptablen“ israelischen Atomwaffen, oder die pakistanischen, die je nach Kontext mal bekämpft oder toleriert werden), sondern vor allem dann, wenn potentielle Atommächte sich durch ihre Bewaffnung der westlichen Dominanz zu entziehen trachten (Iran, Irak unter Saddam Hussein, früher Libyen). Die Wahrnehmung des Nahen und Mittleren Ostens als Bedrohung (trotz der ja mehr als eindeutigen Machtverhältnisse zugunsten der westlichen Länder) hat seit den Terrorangriffen des 11. September 2001 verständlicherweise zugenommen und an Plausibilität gewonnen. Dazu kommt in Europa die Sorge vor einer Ausweitung der Migration aus dem Nahen und Mittleren Osten.

Viertens wird die Region – vor dem Hintergrund der beiden letzten Punkte – als religiös-kulturelle Einheit wahrgenommen, die durch den Islam geprägt ist. Auch wenn dort auch andere bedeutsame kulturelle Einflüsse – jüdische, christliche, nationalistische, säkulare – existieren, so wird er doch nicht selten mit der eigenen, westlich säkularen oder christlichen Identität kontrastiert, indem sie als primär islamisch wahrgenommen wird, wodurch sie nicht nur „anders“ als die eigene, westliche Kultur erscheint, sondern auch in dieser Hinsicht als Einheit. Sehen wir aber Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten primär als Region des Islam, verschwinden die internen Unterschiede der Politik, wirtschaftlichen Entwicklungsstände, Kulturen und religiösen Identitäten schnell aus dem Blickfeld. Dass „der Islam“ in der Region aber ein höchst umstrittenes Konzept und keine einheitliche Erscheinung darstellt wird auf diese Weise leicht übersehen – wie auch die christlichen Minderheiten in Ägypten (zehn Prozent Kopten und andere Christen), dem Libanon (39 Prozent Christen unterschiedlicher Konfessionen) oder der Westbank (acht Prozent Christen, mehr als doppelt so viele israelisch-jüdische „Siedler“), oder in Syrien (zehn Prozent Christen unterschiedlicher Konfessionen).  Andere Religionsgemeinschaften, deren Zugehörigkeit zum Islam oft umstritten oder nicht gegeben ist (Aleviten, Drusen, Ahmadis, Bahai, Yeziden) werden so ausgeblendet. Auch diejenigen, die sich in der Region nicht primär religiös definieren (sondern z.B. als Araber oder Perser, Iraner, Ägypter oder Palästinenser, oder aufgrund anderer säkularer Kategorien) geraten aus dem Blickfeld – womit eine solche Sichtweise auf die Region den dortigen kulturellen Homogenisierungsdruck in Richtung religiöser Identitäten noch verstärkt.

 

Erbe des Kolonialismus und Diskurse des Widerstandes

Eine Gemeinsamkeit Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens besteht darin, seit der Periode des Niedergangs des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert von den europäischen (Kolonial)-Mächten als Einflusszone behandelt worden zu sein.  So wie Afrika im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Spielball der europäischen Kolonialmächte und deren Beute gewesen ist, so war auch die Region von Marokko bis Afghanistan ein Schauplatz formaler oder informeller Großmachtkonkurrenz und externer Kontrolle – mal auf direkte, koloniale Art (Algerien und Tunesien durch Frankreich, Libyen durch Italien ), mal im Rahmen von „Treuhandmandaten“ des Völkerbundes (Syrien und der Libanon durch Frankreich; Palästina, Jordanien und der Irak durch Großbritannien), mal durch eher indirekte Mittel, etwa durch Kreditvergabe, Wirtschaftshilfe oder „Berater“, später auch Waffenlieferungen (Osmanisches Reich, Ägypten, Iran). In diesem Sinne und wegen der asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen war das Verhältnis Europas zum Nahen und Mittleren Osten ein Teilaspekt des allgemeinen Nord-Süd-Konflikts. Allerdings: Die speziellen kulturellen Bedingungen der Region und später die Bedeutung des Rohöls führten dazu, diesen in einer besonderen Art auszuprägen. Während in anderen Regionen der Dritten Welt die Überwindung des Kolonialismus, Neo-Kolonialismus und informeller externer Dominanz häufig erforderte, aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen einen „nationalen“ Widerstand zu formen, bestanden in der Region Nordafrika/Naher und Mittlerer Osten unterschiedliche Optionen ideologischer Loslösung: einmal die einzelnationale (z.B. algerische, palästinensische oder ägyptische), zweitens eine regionale unter pan-arabischen Vorzeichen (Arabischer Nationalismus, Arabischer Sozialismus, vom ägyptischen Präsidenten Gamal Nasser verkörpert) und drittens ein Widerstand mit religiöser Begründung, nämlich islamischer. Auf diese Weise konnte – und kann – man sich mehrfach von westlicher Vorherrschaft abgrenzen: als Bewohner oder Bewegung eines fremdbeherrschten Landes, als Teil der arabischen Kultur und Geschichte, die von fremden Eindringlingen unterworfen wurde und als Teil der großen Gemeinschaft der Muslime, deren religiöse Identität und göttlich offenbarte Wahrheit von „Ungläubigen“ (bzw. Andersgläubigen: Christen, Juden oder Atheisten) in Frage gestellt oder bedroht wurden. Diese Optionen schlossen oder schließen sich nicht aus, sondern sind kombinationsfähig, sie können zugleich im Inneren koalitionsbildend gegen die Eindringlinge wirken. So können nationale oder pan-arabische Ideologien auch oder gerade für Christen und andere religiöse Minderheiten attraktiv sein (beispielsweise wurde die Baath-Partei in Syrien von einem Christen gegründet), zugleich können auch islamistische Parteien einen Diskurs der nationalen Befreiung integrieren, wie z.B. die Hamas oder Hisbollah dies in Palästina und dem Libanon demonstrierten. Auch ist es leicht möglich, (pan)-arabische Ideologien mit muslimischen zu verknüpfen, da der Islam leicht als wichtiger Teil der arabischen Kultur und Geschichte begriffen werden kann. Durch eine solche Verknüpfung von Machtfragen (nämlich der Zurückweisung externer Dominanz oder Fremdherrschaft) mit den Diskursen von nationaler Befreiung und religiöser Identität kann anti-kolonialer oder anti-imperialer Widerstand einen besonderen Nachdruck erhalten und kulturalistisch überhöht werden – auf beiden Seiten. Während allerdings ein nationalistischer Diskurs in westlichen Ländern aufgrund der eigenen Geschichte und Geistesgeschichte noch gut verständlich ist und sogar Solidaritätsbewegungen mit einem entsprechenden Widerstand erlaubt (etwa europäische Solidarität mit Algerien, Vietnam oder Lateinamerika gegen Frankreich oder die USA), betont ein islamisch geprägter Diskurs in der Regel allein die Unterschiede und erschwert eine entsprechende internationale Koalitionsbildung nach außen. Während also im Nahen und Mittleren Osten durchaus Sympathie und Solidarität mit den – meist auch religiös argumentierenden - Aufständischen im Irak besteht (durchaus auch durch säkulare Kräfte), ist dies im Westen selten, selbst bei politischen Strömungen, die die US-Politik grundsätzlich ablehnen. Dieser Tatbestand unterschiedlicher diskursiver Selbstverständlichkeiten stellt durchaus ein Argument dar, Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten als eine Region zu betrachten, die sich von anderen unterscheidet: Die interne politische Kommunikation geht von ähnlichen und wechselseitig leichter verständlichen Bezugspunkten aus als die zwischen den verschiedenen geographisch-kulturellen Regionen und erscheint deshalb plausibler und überzeugender. Das bedeutet nicht, dass der Nahe und Mittlere Osten allein „islamisch“ oder homogen und Europa primär christlich wären – sondern nur, dass bei aller internen Vielfalt sich doch insgesamt jeweils unterschiedliche Diskursweisen herausgebildet haben, die sich zwar überlappen, aber doch verschiedene ideologische Bezugssysteme zur Folge hatten. Diese erschließen sich im Nahen und Mittleren Osten durchaus den christlichen oder säkularen Bevölkerungsgruppen, können in Europa aber leicht missverstanden werden.

 

Bedingungen autoritärer Herrschaft

Eine in Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten trotz aller internen Unterschiede bestehende Gemeinsamkeit besteht weiterhin (wenn auch mit leicht abnehmender Tendenz) in den meist wenig demokratischen und oft diktatorischen Regierungsformen.  Nicht erst der Arab Human Development Report von 2004 hat die tief greifenden Demokratiedefizite in der Region betont. Er kennzeichnete die arabischen Staatsapparate so:

„Die allgemeinen Merkmale dieses arabischen Modells, das manche den ‚autoritären Staat’ genannt haben … wurden in einem kürzlichen Kommentar eines arabischen Journalisten und Aktivisten so zusammengefasst: Er beschreibt das Fehlen freier und transparenter Wahlen in seinem Land, was zu einem ‚einfarbigen’ Parlament führt. In diesem besonderen System sind auch die Pressefreiheit und Aktivitäten für politische und Menschenrechte eingeschränkt. Die Gerichte werden benutzt, um an Oppositionellen Exempel zu statuieren und die Verfassungen begründen ein Regime, das ‚zeitlich unbegrenzt und nicht der Kontrolle durch ein Parlament oder das Rechtswesen unterworfen ist.’ In einem solchen Regime wird selbst die regierende Partei zu einem bloßen Teil des Verwaltungsapparates, der von ‚Beamten geführt wird, die weder über Energie noch Effizienz’ verfügen. … Wir können dieses Modell mit einem ‚Schwarzen Loch’ vergleichen, also mit dem astronomischen Phänomen erloschener Sterne, die sich zu einem Materieball verdichten und zu gigantischen Magnetfeldern werden, aus denen nicht einmal Licht entkommt. Der moderne arabische Staat nähert sich in einem politischen Sinn diesem Modell, bei dem der Verwaltungsapparat einem Schwarzen Loch gleicht, das seine soziale Umgebung so umformt, dass sich nichts mehr bewegt und dem nichts entrinnen kann.“

Auch wenn es in der Region durchaus Unterschiede und Schattierungen des Autoritarismus und der bürokratischen Lähmung gibt und in den letzten Jahren erneut Reformansätze zu verzeichnen sind, bleibt diese Diagnose zutreffend. Diskussionen um Demokratisierung finden in einem Kontext lokaler und regionaler Bedingungen statt, die durch zumindest drei Aspekte gekennzeichnet sind:

1. Im Zusammenhang mit dem Palästinakonflikt entwickelte sich aus der fortgesetzten Erfahrung von Niederlagen und Besatzung ein politischer Diskurs, nationale Befreiung und die Zurückweisung kolonialer oder nachkolonialer externer Einflüsse als Voraussetzung interner Demokratisierung zu betrachten. Externe Bedrohung und Besatzung wurden als Gründe für ein Aufschieben interner Öffnung und Demokratisierung betrachtet: Häufig wurden sie von Regierungen zum Vorwand genommen, sich selbst an der Macht zu halten und dauerhaft diktatorisch zu etablieren. Diese Position ließe sich in der Formel „Erst nationale Befreiung (inklusive die Palästinas), dann Demokratisierung“ zusammenfassen. Das Gefühl der Schwäche und eines Quasi-Belagerungszustandes führt zu einer defensiven und konservativen Mentalität, die politischen Veränderungen gegenüber extrem zurückhaltend ist. In diesem Sinne stellt der Palästinakonflikt seit langem einen objektiven und subjektiven Faktor dar, eine Demokratisierung arabischer Länder dauerhaft aufzuschieben.

2. Der Aufschwung des Islamismus seit der Niederlage arabischer Länder im Sechs-Tage-Krieg von 1967 (die den politischen Bankrott der Ideologie und Politik des Arabischen Nationalismus symbolisierte) und der islamischen Revolution im Iran 1978/79 entwickelte sich zur Bedrohung der säkularen autoritären und diktatorischen Regime der Region. In diesem Kontext argumentieren diese, den Islamismus auch mit repressiven und diktatorischen Mitteln bekämpfen zu müssen, um dessen anti-demokratischen und repressiven Tendenzen entgegenzutreten. Dieses Argument wurde von Teilen der Gesellschaften, vor allem aber den westlichen Regierungen akzeptiert, obwohl es aufgrund des meist diktatorischen und menschenrechtsverletzenden Charakters der bedrohten Regime auf einem schwachem Fundament beruhte. Auf jeden Fall half – und hilft – das Argument einer islamistischen Bedrohung bei der Rechtfertigung repressiver und diktatorischer Regime. Nicht selten präsentieren sich die säkularen Diktaturen der Region offen oder diskret als das „kleinere Übel“.

3. In den letzten Jahren wuchs in einer Reihe von arabischen Ländern das Drängen auf ökonomische Reformen, aber auch nach Demokratisierung der Gesellschaften. Die wachsende Diskrepanz zwischen den ideologischen Ansprüchen der Regime und ihrer Repression, Korruption und Inkompetenz ließ das Bedürfnis nach Mitsprache, Rechtsstaatlichkeit und einer Rechenschaftspflicht der Regierenden wachsen. Dabei entstand das Problem, dass diese innergesellschaftliche Tendenz eines Strebens nach Demokratisierung auf einen außenpolitischen Kontext traf und weiter trifft, der von einer ideologischen und politischen Offensive der US-Regierung zugunsten von „Demokratisierung“ des Nahen und Mittleren Ostens und zugleich den Kriegen in und der wahrgenommenen Besetzung Afghanistans und des Irak gekennzeichnet ist. Beides tendiert dazu, jeden Demokratisierungsdiskurs im Nahen und Mittleren Osten zu schwächen oder zu diskreditieren, da der Demokratisierungsbegriff oft als US- (oder westliches) Exportprodukt zur Steigerung des eigenen Einflusses und zugleich als Demagogie wahrgenommen wird, die aufgrund der Irakpolitik (etwa den Folterskandalen von Abu Ghraib) und der traditionellen Unterstützung lokaler, pro-westlicher Diktaturen als solche erkennbar wird. Rechtsstaatlichkeit, Mitsprachemöglichkeiten und Transparenz wurden also zunehmend als wichtige Ziele vertreten, aber der Begriff der „Demokratisierung“ nicht selten als fremde „Verschwörung“ zurückgewiesen.

 

Vom Kolonial- zum Rentierstaat

Das Problem autoritärer und repressiver politischer Systeme im Nahen und Mittleren Osten wird erst vor dem Hintergrund zweier regionaler Erfahrungen verständlich: Einmal muss daran erinnert werden, dass die Bildung von Staatsapparaten in der Region selten naturwüchsig von innen erfolgte, sondern meist durch oder in Reaktion auf koloniale und neo-koloniale Fremdherrschaft. Wie in anderen Teilen der Dritten Welt wurden moderne Formen der Staatlichkeit entweder direkt durch die Kolonialmächte eingeführt oder unter deren Aufsicht durch lokale Eliten oder als Reaktion auf die Expansion der fremden Mächte in der Nachbarschaft etabliert.  Das bedeutete, dass diese Staatsapparate häufig primär die Funktion hatten, die örtliche Bevölkerung zu kontrollieren und zu disziplinieren, nicht ihr Partizipationsmöglichkeiten zu bieten. Beim Rückzug der fremden Mächte von den direkteren Formen der Herrschaft nahmen die lokalen Eliten diese repressiven Staatsapparate einfach in Besitz, änderten ihren Charakter aber selten grundsätzlich. Gerade die Unsicherheit der neuen Eliten nach innen und außen und der zuerst prekäre Charakter lokaler Staatlichkeit verführten dazu, die autoritären und repressiven Elemente der Staatlichkeit aufrecht zu erhalten – eine Tendenz, die von den äußeren Mächten im Interesse der Stabilität meist noch unterstützt wurde.  Sobald einzelne Länder aus der weiteren Abhängigkeit ausbrechen wollten, stand während des Kalten Krieges die Sowjetunion als Hilfsquelle bereit, die aber selbst zu diktatorischen Herrschaftsformen neigte, in vielen Fällen auch lokale Despoten unterstütze, solange diese nur die sowjetische Außenpolitik förderten. Heute besteht die Tendenz, dass die westliche Politik zwar einerseits immer wieder eine Demokratisierung der Region verlangt, dies aber erstens als Ansatzpunkt nutzen möchte, ihren eigenen Einfluss zu erhöhen (was Misstrauen und Widerstand provoziert), andererseits aber solche Forderungen oft fallen lässt, wenn lokale Herrscher bei der Sicherung der Energieversorgung nützlich sind, als hilfreich bei einer Stabilisierung der Region empfunden werden oder im „Krieg gegen den Internationalen Terrorismus“ an der Seite der USA stehen (Saudi Arabien und die kleineren Golfstaaten, Ägypten, Jordanien, Pakistan).

Neben der Übernahme repressiver Staatsapparate durch die lokalen Machteliten prägt ein zweiter Aspekt die autoritären Regime in der Region: die Entwicklung der örtlichen Regime zu so genannten „Rentierstaaten“. Dieser Begriff meint Staatsapparate, die sich nicht primär durch Steuereinnahmen der eigenen Bevölkerung finanzieren, sondern durch finanzielle Leistungen aus dem Ausland. Im Nahen und Mittleren Osten ist dies zwar nicht überall im gleichen Maße der Fall, aber insgesamt von hoher Bedeutung: entweder stützen die Regierungen sich sehr stark auf Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport,  oder sie erhielten und erhalten aus politischen Gründen beträchtliche Zahlungen aus dem Ausland. Solche Leistungen konnten erfolgen, weil die Supermächte während des Kalten Krieges um Unterstützung in dieser wichtigen Region konkurrierten, weil ein Land in strategisch wichtiger Lage dazu bewegt werden sollte, in Bezug auf einen Regionalkonflikt zu kooperieren (Ägypten in Bezug auf den Palästinakonflikt; Pakistan wegen Afghanistan), weil man Krisenregionen direkt wirtschaftlich stabilisieren möchte (Palästina, Afghanistan), oder weil wichtige Ölländer aus Solidarität oder Opportunismus anderen Regimen großzügige Finanzhilfe gewährten (z.B. Saudi Arabien für Syrien). Insgesamt sollen solche finanziellen Leistungen entweder Einfluss oder Stabilität erkaufen, in der Regel beides.

Zusammengenommen bedeuten solche beträchtlichen Finanzzuflüsse aus dem Ausland – mögen sie aus dem Ölexport oder politisch intendierten Zahlungen bestehen – dass die Empfängerregierungen bezüglich ihrer Einnahmen in geringerem Maße von der eigenen Bevölkerung (und deren wirtschaftlichen Erfolg) abhängen als vom Ausland. Dies wiederum eröffnet die Möglichkeit einer Regierung, ihre Politik weniger an den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Bürger zu orientieren als an denen externer Akteure, mögen dies fremde Ölkonzerne oder Regierungen sein. Die Emanzipation eines Staatsapparates von der eigenen Bevölkerung durch externe Renteneinnahmen wird in aller Regel zu einer Beschneidung politischer Partizipationsmöglichkeiten und autoritären Herrschaftsformen führen: die finanzielle und damit politische Existenzfähigkeit eines Regimes hängt dann beispielsweise vor allem von einem effizienten Ölsektor oder guten Beziehungen zu den ausländischen Finanziers ab, nicht von einer florierenden Binnenwirtschaft und guten Beziehungen zur eigenen Gesellschaft. Fließen die Renteneinnahmen reichlich, können sich Herrschaftsmodelle bilden, bei denen die Bevölkerung an den Einnahmen beteiligt und durch wirtschaftliche oder sozialpolitische Wohltaten „bestochen“ wird: Wohlstand und eine gute Infrastruktur werden zur Entschädigung für fehlende politische Rechte, wie im Irak in den 1970er und teilweise noch 1980er Jahren oder in den Ölstaaten am Persischen Golf. Fallen die Renteneinnahmen etwas knapper aus, wird die geringere Verteilungsmasse leicht durch einen höheren Grad der Repression ausgeglichen, wie z.B. in Syrien. Anders ausgedrückt: in Rentierstaaten fehlt der Bevölkerung meist die Möglichkeit, ihren Regierung demokratische oder partizipative Rechte abzutrotzen – Demokratisierung hängt völlig vom Willen der Regierungen ab, und diese haben kaum einen Grund, durch eine politische Öffnung die eigene Macht zu schmälern.

 

Der Politische Islam

Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und ökonomischer Vielfalt und autoritärer Herrschaftsformen stellt sich die Frage, welche politische Rolle der Islam in der Region eigentlich spielt. Wenn wir hier auch die Analyse politischer, sozialer und wirtschaftlicher Fragen für das Verständnis des Nahen und Mittleren Ostens zum Ausgangspunkt nahmen und letztlich für entscheidend halten, muss das nicht bedeuten, dass die religiöse Identität bedeutungslos wäre.

Allerdings kommt es darauf an, die Wirkung des Islam in der Region nicht primär aus seiner Theologie abzuleiten (die ja so flexibel und wandelbar ist wie im Christentum oder Buddhismus), sondern als historisch gewachsen und Ausdruck sozio-politischer Prozesse zu verstehen. Schließlich sind die Texte der Bibel und des Koran seit Jahrhunderten unverändert, die Formen christlicher und muslimischer Religiosität und ihre politischen Ausprägungen in dieser Zeit aber sehr großen Wandlungen unterworfen gewesen.

Oben wurde bereits auf die Vielfalt islamischer Strömungen hingewiesen, etwa die Bedeutung der verschiedenen Konfessionen, Rechtsschulen und kleineren islamischen oder islam-nahen religiösen Gemeinschaften. Es ist offensichtlich, dass damit die Vielfalt „des Islam“ noch lange nicht erschöpft ist: So wenig in Europa „der Protestantismus“ homogen ist, so wenig gilt dies für die größeren oder kleineren theologischen Richtungen des Islam. Deren Ausdifferenzierungen nachzuvollziehen kann durchaus bedeutsam sein, wird aber nicht immer direkt zu einem wirklichen Verständnis der der politischen Dimension von Religiosität führen, da sie sich erst über viele Zwischenschritte und die Berücksichtigung der konkreten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen erschließt. Nützlicher für das Verständnis der politischen Rolle von Religion ist für uns das umgekehrte Verfahren: nämlich die Betrachtung der politisch relevanten Religiosität als gesellschaftliches und nicht primär theologisches Phänomen. Werfen wir aus einer solchen Perspektive einen Blick auf die politische Religiosität, dann lassen sich vereinfachend (und oft, aber nicht immer, quer zu den theologischen Einordnungen) drei große Strömungen identifizieren.

1. Ein „offizieller“ Islam, der in der Regel von theologisch (aus)gebildeten Persönlichkeiten getragen wird, sieht seine Aufgabe vor allem in der Bewahrung eines überkommenen Islamverständnisses. Man könnte diese Strömung als „orthodox“ bezeichnen, wenn man den Begriff von Assoziationen zum Christentum befreit. Sie ist sowohl theologisch als auch gesellschaftlich und politisch grundlegend konservativ, nicht revolutionär. Sie will die Religion von „Verunreinigungen“ durch neue Islaminterpretationen schützen, da der Koran direkt von Gott offenbart sei und jede menschliche Modifizierung sich damit dem Verdacht der Ketzerei aussetze. Diese Strömung lebt oft in einem gewissen Widerspruch zwischen ihrer Akzeptanz des (religiösen und politischen) Status Quo, die ja beide nicht göttlich offenbart sondern historisch gewachsen – und also veränderlich – sind und also von Menschen geprägt wurden und einer prinzipiell unveränderlichen Wahrheit. Sie ist meist politisch, gesellschaftlich und finanziell den jeweils herrschenden Regierungen eng verbunden und von ihnen ganz oder teilweise abhängig. Häufig gelingt es den Regierungen, diese Strömungen direkt oder indirekt politisch für sich zu nutzen.

2. Daneben besteht eine Strömung, die auf oft diskrete Weise für eine Modernisierung des Islam eintritt, ohne dies aber in der Regel offen formulieren zu können. Dabei geht es um eine Überwindung der theologischen und politischen Erstarrung des Islam, wie sie von der zuvor genannten Richtung vertreten wird, oft also um eine Anpassung der Theologie und Praxis an die historischen Entwicklungen und heutigen Realitäten. Ihr Problem besteht allerdings darin, sich so dem Verdacht auszusetzen, an der längst offenbarten göttlichen Wahrheit Modifikationen vornehmen zu wollen und sie damit zu verfälschen. In der Regel entzieht man sich dieser Kritik dadurch, dass man die Modernisierung in Formulierungen kleidet, nach denen man den Islam eigentlich nicht weiterentwickele, sondern von den Verfälschungen der letzten Jahrhunderte reinige und nur zu einem ursprünglichen, wahren Islam zurückkehre. Deshalb wird diese Strömung gerade im Westen oft missverstanden: Das modernisierende Projekt wird hinter einem Diskurs der Rückkehr zu früheren Wahrheiten verborgen und erscheint so leicht als rückwärtsgewandt, als „mittelalterlich“. Diese Strömung könnte man „islamistisch“ oder den „Politischen Islam“ nennen. Sie ist extrem heterogen und reicht von befreiungstheologischen Richtungen mit beträchtlichem Reformpotential über bürgerlich-liberale oder sozialkonservative bis zu gewalttätigen und totalitären Richtungen, die wenig miteinander gemein haben. Politisch können sie linke bis rechtsextreme Positionen einnehmen. Diese breite Strömung enthält zugleich positive, fortschrittliche Reformansätze  (wie sie bei der Spaltung der islamistischen Bewegung in der Türkei teilweise politisch wirksam wurden) als auch gefährliche und repressive Politikprojekte (bis hin zu Terrororganisationen wie Al-Qaida), die trotz einer gelegentlich ähnlichen Rhetorik nicht in einen Topf geworfen werden sollten. 

3. Darüber hinaus sind noch ideologische Strömungen von Bedeutung, die sich als „Volksislam“ bezeichnen ließen.  Diese sind in der Regel kaum theologisch systematisiert, und werden oft von Personen oder Gruppen getragen, die theologisch formal kaum gebildet sind. In den Volksislam fließen Elemente aus vorislamischer Zeit, Aberglaube (an Geister, den Bösen Blick, etc.), allgemeine moralische Grundsätze, lokale Vorlieben oder mystische Deutungen des Islam ein, es handelt sich letztlich um sehr unterschiedliche Ausprägungen einer Volksfrömmigkeit, die alles das für „islamisch“ hält, was im jeweiligen Land, einer Region, einem Dorfes, Stamm oder sozialen Gruppe für gut und richtig gehalten wird. Der Volksislam ist also regional höchst unterschiedlich ausgeprägt: Was in einer Region als „islamisch“ gilt, mag in einer Nachbarregion völlig befremdlich und sogar ketzerisch erscheinen. Der tatsächliche Glaube der wirklichen Menschen richtet sich selten nach theologischer Systematik, sondern es fließen lokale Traditionen, Erfahrungen, Werte und Sinnstiftungen in ihn ein, so dass man den Volksislam als regional sehr unterschiedliche eklektizistische Mischungen theologischer mit anderen kulturell-moralischen Elementen begreifen kann. Berührungspunkte dieser individualistischen Strömung zu stärker organisierten Formen der Religiosität finden sich in den Sufi-Orden islamischer Mystik oder bei den Aleviten.

Im Anschluss an Olivier Roy ließe sich noch eine vierte Strömung identifizieren, die sonst oft zu den „Islamisten“ gerechnet wird: die von ihm so bezeichneten „Neo-Fundamentalisten“. Deren Anhänger sind in den Gesellschaften der Region kaum verankert, sondern sozial entwurzelt, im modernen Sinne individualisiert und verfügen häufig über Auslandserfahrungen (meist in westlichen Ländern). Die zu dieser zahlenmäßig kleinen Strömung gehörenden betrachten den Islam nicht aus der Perspektive seiner Tradition oder als Bestandteil und Ausdruck sozialer Gruppenzugehörigkeit heraus (wie die anderen Strömungen), sondern kamen durch individuelle Bekehrungserlebnisse zur Religion, ähnlich wie amerikanische „wiedergeborene“ Christen. Sie neigen dazu, die Anhänger anderer Richtungen als keine wirklichen Muslime und die politischen Systeme im Nahen Osten als „unislamisch“ zu betrachten. Für sie ist eine individualistische Uminterpretation des Islam typisch, indem sie z.B. den Dschihad nicht als (prinzipiell defensive) Option der muslimischen Gemeinschaft bei Gefahr (also einen kollektiven Akt, der von autorisierten religiösen Führern proklamiert werden muss), sondern als individuelle Pflicht jedes Muslims ansehen.

Es ist offensichtlich, dass diese vier groben Strömungen (von denen insbesondere die zweite und dritte intern sehr heterogen sind) in einem Spannungsverhältnis zueinander existieren. Die „orthodoxe“ und „islamistische“ Strömung stehen in einem offenen Konkurrenzverhältnis zueinander, und beide sehen mit Skepsis und Misstrauen auf den „Volksislam“, den man für ungebildet, untheologisch und vom Aberglauben durchsetzt hält und gern durch die Verbreitung der eigenen Form der religiösen Wahrheit missionieren möchte. Solange der Islam allerdings eine kulturelle Selbstverständlichkeit darstellt und die beiden stärker theologisierten Richtungen sich durch ihre Konkurrenz in der Waage halten und so (oft gegen ihren Willen) einen Raum für religiösen Pluralismus öffnen, hat der Volksislam meist genug Selbstbewusstsein, um sich theologischer Missionierung zu entziehen. Wenn „der Islam“ allerdings von innen oder außen unter Druck gerät und bedroht erscheint, gelingt es den beiden ersten Strömungen leichter, Führungspersonal für „den Islam“ insgesamt glaubhaft werden zu lassen, wodurch dieses größeren Einfluss in der Gesellschaft gewinnt. Dies wird insgesamt am leichtesten gelingen, wenn die „Orthodoxen“ und die „Islamisten“ aufgrund einer gemeinsamen Bedrohung einen Burgfrieden schließen und mehr oder weniger geschlossen auftreten. Dann können islamische oder islamistische Diskurse eine große gesellschaftliche Macht darstellen, der sich kaum noch Bevölkerungskreise entziehen können. 

 

Fazit

Der Nahe und Mittlere Osten ist eine Region voller inner Widersprüche. Bevölkerungsschwachen Ländern, die sich aufgrund ihres Ölreichtums trotz fehlender Partizipation der Bevölkerung den gesellschaftlichen Frieden erkaufen können (wie die Vereinten Arabischen Emirate) stehen andere gegenüber, in denen sich durch eine Kombination schwerster wirtschaftlicher und sozialer Probleme, schwacher Regierungsleistungen und Repression ein beträchtliches Konfliktpotential angesammelt hat. Insgesamt aber kann festgestellt werden, dass die Region instabil ist, wozu die Verknüpfung innerer und internationaler Faktoren beiträgt. Häufig betrachtet die Bevölkerung ihre jeweiligen Regime mit guten Gründen mit Skepsis, Misstrauen oder Verachtung, und gerade in den meisten bevölkerungsreichen Ländern sind der Lebensstandard gering und die Lebenschancen der jungen Leute schlecht. Wenn das sich mit symbolträchtigen Gewaltkonflikten oder Besatzungssituationen in Schlüsselgebieten verknüpft – Palästina, Irak, von etwas geringerer regionaler Bedeutung Afghanistan – und die eigenen Herrscher häufig als bloße Marionetten westlicher Regierungen betrachtet werden, braucht man sich über ein insgesamt beträchtliches Konfliktpotential nicht zu wundern. Auch die Verknüpfung interner Probleme und Konflikte mit internationalen Akteuren – etwa die fast allgemeine Ablehnung der US-Politik und Israels, in geringerem Maße auch der ehemaligen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreichs – sollte niemanden überraschen, der die Geschichte der Region und der dortigen Politik der westlichen Mächte auch nur ansatzweise kennt.

Der Islam wird im Westen zunehmend als Schlüsselproblem der Region betrachtet und für viele der Konflikte verantwortlich gemacht. Dabei muss aber an zweierlei erinnert werden: Erstens sind die Konflikte und Probleme in vielen Ländern der Region sehr real und erwachsen aus sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen, nicht aus der Kultur oder Religion. Ein islamischer Diskurs bietet sich für den größten Teil der Bevölkerung an, die verbreitete Unzufriedenheit, Frustration und Wut auszudrücken und so noch legitimer erscheinen zu lassen. Aber die aufgestauten Probleme und Konflikte sind so schwerwiegend, dass sie sich auch unter ganz anderen religiös-kulturellen Rahmenbedingungen äußern würden. Es besteht ein beträchtliches Gewaltpotential in der Region, aber auch wenn dieses seit 20 oder 30 Jahren vorwiegend religiös artikuliert wird, so sind seine Ursachen doch fast immer säkular, nämlich durch den realen Problemdruck und Hoffnungslosigkeit verursacht.

Zweitens besteht ein schweres Demokratiedefizit, und manche islamischen und islamistischen Kräfte lehnen die Demokratie aus ideologischen Gründen ab. Aber auch hier gilt es, mit der Erklärung vorsichtig zu sein: Einerseits gibt es inzwischen Tendenzen, dass islamistische Gruppierungen sich gegenüber demokratischen Spielregeln öffnen.  Säkulare Akteure waren und sind im Nahen und Mittleren Osten selten prinzipiell demokratischer oder weniger repressiv als ihre religiöse Konkurrenz (denken wir beispielsweise an den Irak Saddam Husseins, Syrien, Libyen, Tunesien und andere Länder). Auch waren und sind manche der säkularen Herrscher der Region für ein solches Ausmaß an Gewalt, Folter, Krieg und Blutvergießen (bis hin zum Einsatz von Giftgas gegen Zivilisten) verantwortlich, dass es erstaunlich ist, wenn diese nur wegen ihrer Säkularität immer noch als friedliche oder bessere Alternative zu den religiösen Kräften betrachtet und deshalb unterstützt werden. Die säkularen und religiösen Eliten mögen sich in vielem unterscheiden – aber nicht unbedingt in ihrem Grad der Gewaltbereitschaft und Demokratiefähigkeit. Sowohl die Analyse als auch die Politik sollten deshalb ihre kulturalistische Brille absetzen, die den Blick häufig verzerrt: Nicht die Frömmigkeit oder Säkularität sollten das Kriterium für eine Unterstützung oder Gegnerschaft sein, sondern die Frage, welche Kräfte in einer bestimmten Situation und einem bestimmten Land dessen konkrete Probleme besser lösen können und die Rechte der eigenen Bevölkerung in größerem Maße respektieren. Dies müssen nicht immer und automatisch die pro-westlichen Kräfte sein, deren Bilanz in diesen Fragen verheerend ist. Natürlich kann es nicht darum gehen, nun umgekehrt religiöse Kräfte reflexartig für die besseren zu halten – häufig wäre dies absurd. Meist liegt der Unterschied zwischen den säkularen und religiösen Kräften in einer unterschiedlichen Schattierung der Grautöne, nicht in einem Schwarz-Weiß Kontrast – und eine säkulare Analyse sollte sich bemühen, ohne Vorurteile zu prüfen, welche Partei das kleinere Übel für eine Gesellschaft in einer bestimmten Situation darstellt. Und dabei ist auf eine Differenzierung innerhalb des religiösen Lagers zu achten. Die dort bestehenden Reformkräfte sollten nicht mit totalitären Gewalttätern in einen Topf geworfen werden, nur weil beide sich eines religiösen Diskurses verpflichtet fühlen.

 

 

Anmerkungen

  1. Krieg, Repression, Terrorismus - Politische Gewalt und Zivilisation in westlichen und islamisch geprägten Gesellschaften, Eine Studie von Jochen Hippler, mit Kommentaren von Nasr Hamid Abu Zayd und Amr Hamzawy, Geschrieben für das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) im Rahmen des Sonderprogramms „Europäisch-Islamischer Kulturdialog“ des Auswärtigen Amtes, Stuttgart 2006, deutsch, englisch, arabisch
  2. einen guten Überblick über die Region und arabische Länder gibt: Volker Perthes, Geheime Gärten – Die neue arabische Welt, München 2004; siehe auch: Angel M. Rabasa/Cheryl Benard/Peter Chalk/C. Christine Fair/Theodore Karasik/Rollie Lal/Ian Lesser/Davis Thaler, The Muslim World After 9/11, RAND Corporation, Santa Monica 2004
  3. dazu gehören die Länder: Ägypten, Algerien, Bahrain, Djibouti, Irak, Iran, Israel, Jordanien, Kuwait, Libanon, Libyen, Malta, Marokko, Oman, Qatar, Saudi Arabien, Syrien, Tunesien, Vereinigte Arabische Emirate, West Bank und Gaza, Jemen
  4. World Bank, World Development Report 2007 - Development and the Next Generation, Washington 2006, S. 289; zu Afghanistan liegen in dieser Quelle keine Zahlen vor, sie sind geschätzt und zu denen der MENA addiert, fallen aber bezogen auf die Wirtschaftskraft ohnehin kaum ins Gewicht.
  5. ebenda, S. 293
  6. ebenda, S. 288 f
  7. ebenda, S. 293; siehe zu einigen Schlüsselvariablen der Lebensverhältnisse in der Region auch: United Nations, The Millennium Development Goals in the Arab Region 2005 – Summary, New York, 2005; und: Farrukh Iqbal, Sustaining Gains in Poverty Reduction and Human Development in the Middle East and North Africa, The World Bank, Washington, D.C. 2006
  8. Jochen Hippler, Die Macht der Eliten sichern: Wahlen im Nahen und Mittleren Osten, in: Thomas Heberer / Claudia Derichs (Hrsg.), Wahlsysteme und Wahltypen – Politische Systeme und regionale Kontexte im Vergleich, Wiesbaden 2006, S. 258-277
  9. Zahlen hier nach: CIA World Fact Book 2007, jeweilige Länderangaben, Washington 2007, online unter: www.cia.gov/cia/publications/factbook/
  10. für eine längerfristige historische Perspektive siehe u.a.: Gudrun Krämer, Geschichte des Islam, München 2005
  11. dazu u.a.: Lisa Anderson, The State and Social Transformation in Tunisia and Libya – 1830-1980, Princeton 1986
  12. siehe u.a.: Daniel Brumberg, Democratization Versus Liberalization in the Arab World – Dilemmas and Challenges for US Foreign Policy, Strategic Studies Institute, U.S. Army War College, Carlisle, PA July 2005
  13. United Nations Development Program (UNDP), Arab Human Development Report 2004, New York 2005, S. 126
  14. Fred Halliday, The Middle East in International Relations – Power, Politics and Ideology, Cambridge 2005, S. 75-96
  15. zum Staatsapparat in der Region allgemein siehe das Standardwerk: Nazih N. Ayubi, Over-stating the Arab State – Politics and Society in the Middle East, New York 1995
  16. Philippe Le Billon/Fuad El Khatib, From Free Oil to Freedom Oil? - Terrorism, War and US Geopolitics in the Persian Gulf, in: Geopolitics Vol. 9, No. 1, 2004, p. 1ff
  17. in dieser Hinsicht folge ich Azmi Bishara. Azmi Bishara, „Der Islam“ und die Demokratie im Nahen Osten, in: Jochen Hippler (Hrsg.), Demokratisierung der Machtlosigkeit – Politische Herrschaft in der Dritten Welt, Hamburg 1994, S. 169ff; und: derselbe, Religion und Politik im Nahen und Mittleren Osten, in: Jochen Hippler/Andrea Lueg (Hrsg.), Feinbild Islam – oder Dialog der Kulturen, Hamburg 2002, S. 116ff
  18. siehe u.a.: Nathan J. Brown/Amr Hamzawy/Marina Ottaway, Islamist Movements and the Democratic Process in the Arab World: Exploring the Gray Zones, Carnegie Papers - Middle East Series, No. 67, March 2006
  19. siehe dazu u.a.: Are Knudsen, Political Islam in the Middle East, Chr. Michelsen Institute - Development Studies and Human Rights, Bergen/Norway, 2003; oder: International Crisis Group, Islamism in North Africa I: The Legacies of History, ICG Middle East and North Africa Briefing, 20 April 2004
  20. Die hier beschriebenen Phänomene finden sich nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern auch in anderen muslimisch geprägten Regionen. Siehe z.B.: Mark Saroyan "Ambivalence, Authority, and the Problem of Popular Islam", in: Edward W. Walker (Ed.), Minorities, Mullahs and Modernity: Reshaping Community in the Former Soviet Union, University of California Press/University of California International and Area Studies Digital Collection, Edited Volume #95, pp. 104-124, 1997
  21. Olivier Roy, Der islamische Weg nach Westen – Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, München 2006, S. 229 ff, insbes. S. 243-245
  22. zu islamischen Bewegungen siehe u.a.: Emirates Center for Strategic Studies and Research, Islamic Movements – Impact on Political Stability and the Arab World, Abu Dhabi 2003; Dale F. Eikelman/James Piscatori, Muslim Politics, New Delhi 1997
  23. Amr Hamzawy, The Key to Arab Reform: Moderate Islamists, Carnegie Endowment for International Peace, Policy Brief 40, Washington, August 2005

 

 

Quelle:

Jochen Hippler (Hrsg.)
Von Marokko bis Afghanistan – Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten,
Hamburg 2007, S. 11-27
 

 

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