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Jochen Hippler

Wissen, Kultur und Identitäten: 
Trends und Interdependenzen

 


Globalisierung ist nicht allein ein wirtschaftlicher Prozeß, sondern umfaßt auch politische, soziale und kulturelle Faktoren. Zwar sind weder kultureller Austausch über Grenzen hinweg noch die Veränderung von Kulturen durch externe Einflüsse neue Phänomene, sondern Teil jedes offenen Kulturbegriffs - trotzdem haben die verschiedenen Globalisierungsprozesse diese Tendenzen nicht nur dramatisch beschleunigt, sondern ihnen auch eine andere Form gegeben.
Der Austausch zwischen auch räumlich weit entfernten Gesellschaften ist wesentlich intensiver als jemals zuvor, kulturelle Veränderungen laufen aufgrund moderner Massen- und Kommunikationsmedien weit schneller und zum Teil homogener ab als in früheren Jahrhunderten.
Die Wirkungen der Globalisierung auf die Kultur speisen sich aus sehr unterschiedlichen Quellen: aus direkt ökonomischen Verhältnissen und Mechanismen, aus sozialen Umbrüchen und Verunsicherungen, die oft - aber nicht immer - aus den wirtschaftlichen Umstrukturierungen resultieren, aus der schnellen Veränderung bei der Produktion, der Menge und der Aneignung von Wissen, aus dem Austausch und der wechselseitigen Beeinflussung verschiedener Kulturen und der Vereinheitlichung von Konsum- und Kulturmustern.
Die Folgen und Ergebnisse sind ebenfalls auf sehr verschiedenen Ebenen angesiedelt: sie betreffen die Frage kultureller und politischer Identitäten, die Reform oder Stagnation der Systeme von Medien, Bildung und Wissenschaft, die Zuspitzung oder Dämpfung politischer oder gar gewaltsamer Konflikte und die Herausbildung einer "Weltkultur".
Wissen und Kultur in Zeiten der Globalisierung stehen unter stetem Homogenisierungsdruck. Zugleich sind sie allerdings so komplex und dynamisch, daß sie auf diesen Druck nicht einfach passiv reagieren und sich schlicht global gleichschalten ließen, sondern Mechanismen selektiver Anpassung, des Ausweichens und des ebenso selektiven Widerstandes herausbilden, ohne den Druck der Vereinheitlichung dadurch aufheben zu können.

Kultureller Wandel
Kultur und Kulturen sind niemals statisch, sondern befinden sich immer in einem Prozeß der Veränderung. Dieser mag schneller oder langsamer verlaufen, er mag graduell und fast unmerklich oder unter eher krisenhaften Brüchen vor sich gehen, aber der dauernde Wandlungsprozeß von Kultur muß ein Ausgangspunkt zu ihrem Verständnis sein. Diese ständige Fortentwicklung von Kultur resultiert einerseits aus den ihr jeweils innewohnenden Dynamiken und Widersprüchen, da ja keine Kultur homogen und widerspruchsfrei ist oder sein kann. Andererseits wird ihre Weiterentwicklung und Veränderung auch durch externe Faktoren stimuliert oder erzwungen. Beide Quellen der Veränderung wirken wieder aufeinander zurück.
Der Begriff "Kultur" im hier benutzten Sinne ist eng mit dem der (kulturellen und politischen) "Identität" bestimmter sozialer Einheiten verknüpft, er kann von den Verhaltensmustern und Selbstinterpretationen einer kleinen "Subkultur" bis zur umfassenden "abendländischen Kultur" reichen, und enthält zumindest drei unterschiedliche Ebenen:
Einmal ist "Kultur" in einem engeren, traditionellen Sinne gemeint, also der Bereich, der die "Hochkultur" und die "Volkskultur" einer Gesellschaft umfaßt und sozusagen von Goethe und Pina Bausch bis zu Kunsthandwerk und Volkstanz reicht. Dieser Kulturbegriff ist meist mit denen der Kunst, der Wissenschaft und Religion im weiteren Sinne verknüpft. Zweitens können mit dem Kulturbegriff die "Sitten und Gebräuche" gemeint sein, also etwa Höflichkeits- und Umgangsformen, Werte, Traditionen, insbesondere im persönlichen Umgang der Menschen. Und drittens dürfen wir die "politische Kultur" nicht übersehen, also den Bereich, in dem die Gebräuche und Mentalitäten in die Organisation des Politischen hineinragen und sie oft prägen. Dies beinhaltet beispielsweise die Fragen, ob eine Gesellschaft stärker auf Konsens oder Konflikt orientiert ist, ob sie zu autoritären Verhaltensweisen neigt, stärker mythische oder rationalistische Handlungsorientierungen bevorzugt, oder eher nach innen oder außen gerichtet ist.

Politische Identitäten
Die Identität sozialer Einheiten wird in unterschiedlichem Maß von diesen drei Kulturebenen geprägt, wobei neben dieser positiven Identitätsbestimmung noch eine negative der Abgrenzung zu anderen Gruppen tritt - die wiederum häufig unter kulturellen Kriterien vorgenommen wird. Sobald es also um Identitätsproduktion geht, rücken kulturelle Unterschiede ins Zentrum einer Ingroup-Outgroup Bestimmung. Wer "Wir" und wer "die Anderen" sind, das ist meist eine kontextabhängige kulturelle Definition, in der geographische, wirtschaftliche und andere Kriterien eine wichtige Rolle spielen, aber nicht entscheiden.
Fragen der kollektiven Identität sind nicht in allen Situationen genauso wichtig. In einer Gesellschaft beispielsweise, die sprachlich, religiös und in anderer Hinsicht relativ homogen, wirtschaftlich und politisch stabil und von außen nicht bedroht ist, spielt die Frage ethnischer, nationaler oder religiöser Identität aller Wahrscheinlichkeit nach kaum eine herausgehobene Rolle, da der Anreiz zur Abgrenzung gering ist. In einer fragmentierten Gesellschaft dagegen, die unter innerem sozioökonomischen oder extern bedingten Streß steht, können Fragen der politisch-kulturellen Identität ganz zentral werden. Auch in historischen Phasen großer gesellschaftlicher Mobilisierung, wie in revolutionären Situationen oder Kriegen, gerät die Identität leicht ins Zentrum der Politik, da sie ein homogenisierender und mobilisierender Faktor von hoher Wirksamkeit sein kann.
Bedeutsam beim Verständnis kultureller, politischer und religiöser Identitäten ist, die verschiedenen Identitätspotentiale nicht automatisch als sich ausschließend, sondern als überlappend zu verstehen. Man ist nicht unbedingt entweder Christ oder Araber, sondern kann beides zugleich sein. Unter anderen politischen Umständen mögen in einem bestimmten Kontext die jeweiligen Identitäten dagegen so polarisiert worden sein, daß sie sich ausschließen - zumindest politisch. Individuen und Gruppen haben praktisch nie nur eine Identitätsebene, sondern zahlreiche. Eine Person identifiziert sich über ihre Vater- oder Mutterrolle, ihre Verwandschafts- oder Stammesbeziehungen, ihre Muttersprache, ihren Dialekt, Religion und/oder Konfession, regionale Herkunft, sozialen und wirtschaftlichen Status, Hautfarbe, ethnische und/oder nationale Zugehörigkeit, ihr Bildungsniveau, ihren Beruf und zahlreiche andere Faktoren. Die spezifische "Kultur" dieser Person besteht dabei nicht darin, sich eine dieser Identitätsaspekte herauszusuchen und die anderen zu ignorieren, sondern in der Integration zahlreicher Ebenen in eine personale "Identität". Die Kulturleistung besteht eben in der gelungenen Integration der höchst unterschiedlichen Aspekte und der Synthese zu einer funktionierenden Einheit. Soziale Gruppen, ethnische Einheiten oder ganze Gesellschaften verfügen über noch komplexere Identitätsstrukturen. Sie sind nicht einfach nur christlich oder muslimisch, nicht einfach "deutsch" oder "pakistanisch", sondern zugleich bayerisch, paschtunisch, atheistisch, schiitisch, arm, von Industrie oder Landwirtschaft geprägt, mit ihren Nachbarländern befreundet oder verfeindet, selbstbewußt oder fragil, und so weiter. Noch viel stärker als Individuen verfügen Gruppen und Gesellschaften nicht nur über zahlreiche sich überlappende und ergänzende Identitätsebenen, sondern auch über eine so große interne Heterogenität an Subgruppen mit ihren jeweils wieder komplexen Identitätsbündeln, daß eine gemeinsame Gesamtidentität sich oft nur unter Schwierigkeiten, und manchmal überhaupt nicht herstellen läßt. In sogenannten "Vielvölkerstaaten" ist dieses Problem am offensichtlichsten, aber auch sonst durchaus vorhanden. Der Versuch, sich durch eine "Leitkultur" einen Pfad durch den Dschungel der Identitäten zu schlagen und die Anderen auf den gleichen Pfad zu bringen, liegt als mentaler Ausweg der Komplexitätsreduzierung nahe. Daß ein solcher Vorschlag zwar der Eigenberuhigung, nicht aber der tatsächlichen Lösung der sich überlappenden und miteinander konkurrierenden Identitätsoptionen dient, muß uns hier nicht interessieren.

Kulturelle Widersprüche
In der öffentlichen Diskussion werden verschiedene Kulturen einander häufig gegenübergestellt, als seien sie fest umrissene und kaum wandelbare Gegenstände, häufig sogar in einer polarisierten Form. Seine konsequente Endform hat dieses Verfahren in der bekannten Formel von Samuel Huntington gefunden, der eine "westliche Kultur" allen anderen gegenüberstellt: "The West against the rest" (siehe dazu den Beitrag von Dieter Kramer in den Globalen Trends 1998). So eingängig und plausibel solche Verdinglichung kultureller Großsysteme auch erscheinen mag, so leidet sie an drei miteinander verknüpften Mängeln:

1. der pauschalisierenden Summierung heterogener und divergierender Elemente innerhalb einer oder beider Pole - so, als ob etwa "der Westen" eine homogene kulturelle Einheit darstellte. Wer nur einmal quer durch New York City, London oder Berlin fährt, sollte hier seine Zweifel haben.

2. Ein solches Verfahren der Identitätsproduktion übersieht, daß auch zuerst "fremd" erscheinende Kulturen meist über große kulturelle Schnittmengen verfügen, daß Kulturen sich häufig in wichtigen Bereichen überlappen. Judentum, Christentum und Islam einfach gegeneinanderzustellen würde beispielsweise übersehen, daß diese nicht nur aus einer Quelle entsprangen, sondern sich in vielem weiterhin sehr ähneln. Aber selbst theologisch weiter entfernte Systeme haben oft in der Lebensrealität (und sogar ihren zugrundeliegenden Philosophien) mehr gemeinsam, als sich dem ersten Blick erschließt. Die Verehrung von Hindus und Muslimen für nicht selten die gleichen Sufi-Heiligen auf dem indischen Subkontinent oder die bruchlos mögliche Integration von Buddha oder Jesus in den hinduistischen Götterkanon deuten an, daß auch Großkulturen nicht einfach nur Gegensätze manifestieren. Und sobald man vom Olymp religiöser Ausprägung von Kultur in die Niederungen des menschlichen Alltags niedersteigt, wird man beliebig viele Beispiele kultureller Überlappungen entdecken können.

3. Das bequeme Gegenüberstellen kultureller Systeme als fest geschnürter Pakete ist auch deshalb irreführend, weil es den dauernden, inneren Wandel dieser Systeme systematisch ignoriert. Wer die heutigen kulturellen Systeme des Nahen und Mittleren Ostens mit denen der Zeit des islamischen Religionsgründers oder der Epoche des islamischen Großreiches des Mittelalters vergleicht und seinen Blick nicht auf die religiösen Grundlagentexte verengt, wird vorsichtiger werden, "den Islam" für ein fertiges Kultursystem zu halten. Auch in Europa würde kein vernünftiger Mensch auf die Idee kommen, "den Westen" primär durch den Verweis auf die Bibel oder die Philosophen der Aufklärung begreifen zu wollen.

Kulturen unterscheiden und überschneiden sich. Alle kulturellen Systeme müssen sich auf bestimmte Grundfragen des menschlichen Lebens beziehen, wenn sie nicht schnell irrelevant werden wollen: auf das allgemeine Zusammenleben in Gesellschaften, auf die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach Fortpflanzung, Nahrung, Wohnung, auf die Sinnstiftung in einem nicht automatisch sinnvoll erscheinenden Leben, auf die Frage nach dem Selbst und der eigenen Identität, auf die Frage nach grundlegenden Orientierungen und Werten. Und so sehr auf diese und andere Fragen in vielen Fällen sehr unterschiedliche Antworten gegeben werden können und werden, so sehr können sie sich auf einer allgemeineren Ebene auch ähneln. Ob sie dies tun hängt oft - außer von Traditionen und kulturellen Denkmustern - von ganz praktischen Dingen des Lebensalltags ab. So spricht vieles dafür, daß noch bis in die jüngere Zeit die Bewohner landwirtschaftlich geprägter Dörfer in den verschiedenen Kulturkreisen "kulturell" mehr miteinander gemeinsam hatten, als mit vielen Bewohnern der städtischen Zentren des eigenen Kulturkreises - weil sich die Lebenswirklichkeiten eben stärker ähnelten.

Identitätslücken nach Ende des Kalten Krieges
Im letzten Jahrzehnt hat die Politik der Identitäten - also auch der Kultur - einen deutlichen Aufschwung genommen, nicht nur bei politischen Beobachtern und in der Wissenschaft, sondern auch in den gesellschaftlichen Realitäten. Nach dem und durch das Ende des Ost-West-Konfliktes wurden nicht allein in Europa Identitäten entleert, die sich ein halbes Jahrhundert vor allem aus der sinnstiftenden Konkurrenz zwischen den kapitalistischen und realsozialistischen Weltsystemen speisten. Dieser Konflikt war nicht allein einer um Macht, sondern wurde immer auch als ein "moralischer" betrieben, bei dem die gegensätzlichen "Werte" beider Seiten betont wurden. Er war immer auch eine Auseinandersetzung zwischen Individualismus und Kollektivismus, zwischen Gut und Böse, Demokratie und Diktatur, Freiheit und Unfreiheit, "uns" und "den Anderen" - zumindest im Bewußtsein der Akteure und meisten Beobachter. Aus dieser Abgrenzung entstanden Bedeutung, Sinn und Identität. Die eigene Seite bildete einen kulturellen Gegenpol zum Gegenüber, und was das Eigene war, bestimmte sich zum Teil durch die Abgrenzung von ihm.
Mit dem Wegfall des Ostblocks und seines ideologischen Angebots entstanden beträchtliche Identitätsdefizite, nicht nur in Osteuropa. Dort waren sie nur am offensichtlichsten: früher das Lager des "Fortschritts", das die Weltgeschichte auf seiner Seite wußte, ein Teil des sozialistischen Weltsystems, das den westlichen Imperialismus in die Schranken weisen und langfristig überwinden würde - nun eine disparate Gruppe von Ländern, die fast alle dramatische Wirtschaftskrisen und oft schwere politische Erschütterungen auszuhalten hatten. Worin sollte die eigene Rolle in der Welt zukünftig bestehen, was und wer wollte man zukünftig sein? Diese Fragen berühren nicht allein und nicht einmal in erster Linie direkt politische Entscheidungen wie die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einem anderen Bündnis oder Staatenzusammenschluß, sondern auch Fragen einer neuen politischen Kultur, der eigenen Identität. Sollen wir so werden wie unser früherer Gegner? Oder stärker unsere nationalen Besonderheiten betonen? Sollen wir weiter in einem Staatsverband zusammenleben, oder besser getrennte Wege gehen? Wie stark sollen wir uns von unseren alten und ggf. neuen Nachbarn abgrenzen, um uns unserer staatlichen und nationalen Identität zu versichern? Diese und andere Fragen stellten sich in allen Staaten des früheren Ostblocks, am kompliziertesten vermutlich in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawien.
Aber auch der Westen geriet in Identitätsprobleme. Der Wegfall des alten Feindes stellte die Grundlagen des Bündnisses infrage, das man gegen ihn gegründet hatte. Wenn man vorher anti-kommunistisch gewesen war, was sollte man nach dem Ende des Kommunismus sein? Wenn man zuvor die Freiheit gegen die totalitäre Bedrohung verteidigt hatte - was war nun der Sinn der eigenen Rolle in der Welt? Die identitätsstiftende Funktion der Bipolarität machte einer gewissen Unsicherheit Platz, die erst allmählich und schrittweise überwunden wird (etwa durch die neue NATO-Strategie, den Golf- und Kosovokrieg, die EU-Erweiterung, die Entwicklung neuer, wenn auch unübersichtlicher Bedrohungsvorstellungen, etc.).

Auch in der Dritten Welt führte das Ende des Kalten Krieges zu politisch-kulturellen Umbrüchen. Obwohl nur selten direkt und formell in die Strukturen der östlichen und westlichen Lager einbezogen (Ausnahmen etwa Kuba und Vietnam mit ihren Mitgliedschaften im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, RGW), waren jedoch auch im Süden die Politik und das Denken weitgehend durch den Ost-West-Gegensatz definiert. Nicht nur die "Stellvertreterkriege" der Supermächte, sondern auch die wirtschaftliche oder politische Anlehnung an eines der Lager, Militärhilfe und Waffenlieferungen, kulturelle Bindungen an ehemalige Kolonialmächte oder ideologische Sympathien führten dazu, daß auch wirtschaftlich, ethnisch oder sonstwie geprägte Konflikte, innere Reformen und Revolutionen oder deren Niederwerfung immer vor allem in den Kategorien des Ost-West-Gegensatzes interpretiert wurden.
Mit dessen Ende entstand daher auch in großen Teilen der Dritten Welt ein Identitätsdefizit, beziehungsweise Verschiebungen in der Identitätsstruktur politischer Einheiten. Zum Teil mußten neue Legitimitäten für alte Herrscher und Regime gefunden, zum Teil neue Herrschaftsformen entwickelt werden, deren politische Kultur sich von ihren Vorgängern unterschieden oder unterscheiden sollte. Zum Teil brachen alte Konflikte wieder auf, die vom Korsett des Kalten Krieges nur gebändigt, aber nicht gelöst worden waren, an anderen Stellen zerbrachen Staaten und Gesellschaften völlig oder versanken in Bürgerkriegen. Diese im Kern politischen Prozesse (Kampf um Macht und/oder Ressourcen) nahmen oft eine "kulturelle" Verlaufsform an: Hutu versus Tutsi, Paschtunen versus Tadschiken, "wahrer" Glaube gegen "Abweichler", nationaler Eigenweg versus Zusammenleben in einem multi-ethnischen Staat.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint dieser Druck geringfügig nachzulassen. Die Ethnisierung und religiöse Überhöhung politischer Bewegungen, wirtschaftlicher Interessen und sozialer und politischer Konflikte ist und wird nicht enden, da eine solche Strategie in vieler Hinsicht viel zu verführerisch ist, um nicht immer wieder angewandt zu werden. Als Instrument der inneren und externen Neuordnung nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes hat sie allerdings ihre Rolle weitgehend abgeschlossen. Die mobilisierende und nach innen homogenisierende, nach außen ausgrenzende und in beide Richtungen kulturell Grenzen ziehende Politik der Identitäten pendelt sich im begonnenen Jahrzehnt auf ihr "Normalmaß" ein. Zukünftige neue Wellen ethnischer, nationalistischer oder ethno-religiöser Erregtheit dürften nun vor allem aus zwei Richtungen drohen: der opportunistischen Versuchung, in konkreten Krisen die "ethnische Karte" zu spielen, um sich politische Positionsvorteile zu verschaffen; und als Reaktion auf Aspekte sozioökonomischer Umstrukturierungen, wie sie vor allem durch die Globalisierung ausgelöst werden.

Kulturelle Weiterentwicklung
Politische Kultur und die mit ihnen verknüpften politischen Identitäten werden aber nicht nur in historischen Umbruchsituationen wie dem Ende des Kalten Krieges erschüttert, verändert und neu strukturiert. Auch in "normalen" Zeiten geht ein ständiger Prozeß kultureller Entwicklung und Modifikation vonstatten, der gerade einen der Kerne des Kulturbegriffs ausmacht. "Kultur" ist in diesem Sinne kein Zustand, sondern ein Prozeß. Sie ist nie statisch, sondern in permanenter Neudefinition, immer im Fluß. Die Quellen dieser ständigen Entwicklung liegen auf drei Ebenen:

*   Widersprüche, Auseinandersetzungen, Heterogenitäten innerhalb der Gesellschaften und sozialen Gruppen führen zu politischen, ideologischen und kulturellen Alternativen und Reibungen, die aus der Gesellschaft selbst heraus eine Weiterentwicklung ihrer Kultur bewirken.
*   Kontakt und Interaktion zwischen unterschiedlichen Gesellschaften oder Gruppen führt zu (meist asymmetrischer) wechselseitiger Beeinflussung und kulturellem Austausch, der stimulierend, modifizierend oder repressiv auf die jeweiligen Kulturen einwirkt und so deren Veränderung bewirkt.
*   Sind oder werden Kulturen Teil eines übergeordneten politisch-kulturellen Gesamtsystems, dann stehen sie auch mit diesem in einem asymmetrischem Austausch und werden von diesem mitgeprägt, also verändert. Da auch ein solches, übergeordnetes System selbst nie statisch, sondern in Bewegung ist, wird der Prozeß oft höchst kompliziert und nicht immer leicht nachvollziehbar. Beispiele dafür sind etwa das Verhältnis der Herausbildung "nationaler " europäischer Kulturen zu ihrer Einbettung in ein Gesamtsystem des "christlichen Abendlandes" oder die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft innerhalb der Türkei. Heute stellt sich vor allem die Frage, ob und wie die einzelnen Gesellschaften und Kulturen zum Bestandteil einer "Weltkultur" geworden sind.

Die ersten beiden Punkte gelten immer und praktisch überall, da es kaum Gesellschaften gibt, die politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell wirklich homogen sind, und ebenfalls kaum welche, die sich mit anderen nicht in irgendeiner Art von Austausch befinden. Diese beiden Quellen kultureller Entwicklung sind daher auch sehr alt. Das neue an ihnen sind nur die spezifischen Formen innerer Widersprüche und externer Beeinflussung, nicht die Tatsachen als solche. Diese Formen allerdings können eine extrem breite Variationsmöglichkeit annehmen: ob interne Widersprüche etwa auf einer Spaltung zwischen Adeligen, Klerikern, Bürgertum und Königtum, ob sie auf dem Gegensatz von Stadt und Land, von Bourgeoisie und Proletariat, ob sie im Rahmen einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" oder entlang sprachlich-religiöser Gegensätze erfolgen, wird zu völlig anderen politischen Verlaufsformen und sehr unterschiedlichen "Kulturen" führen. Und ob der Austausch zwischen Kulturen etwa zwischen denen des alten Rom und des Chinesischen Reiches über die historische Seidenstraße, oder zwischen den USA und einem karibischen Kleinstaat durch Massentourismus, Migration und TV-Satelliten erfolgt, sorgt für ganz entscheidende Unterschiede. Auch ob er durch kriegerische Eroberung und Unterwerfung, durch Pilger und wandernde Prediger oder durch Wirtschaftsaustausch erfolgt, kann zu völlig anderen Ergebnissen führen. Die Globalisierung und ihre allgemeine Beschleunigung und Kondensierung historischer Abläufe führte in den beiden letzten Jahrzehnten zu einer Intensivierung kulturellen Austauschs und kulturellen Wandels, also zu der Verstärkung eines ohnehin ablaufenden Prozesses.

Die Globalisierung hat allerdings auch zu neuen Tendenzen geführt, zumindest zu einer neuen Qualität kulturellen Wandels. Diese sind auf der dritten Ebene kultureller Beeinflussung entstanden, bei der Interaktion von lokalen oder nationalen Kulturen mit einem umfassenderen kulturellen Gesamtsystem, zu dem sie gehören. Es stellt sich nämlich zunehmend die Frage, ob sich oberhalb der Ebene kultureller und zivilisatorischer Großsysteme (wie der "westlichen" Kultur, der Islamischen etc.) eine zusätzliche Ebene gebildet hat und weiter bildet, nämlich eine "Weltkultur" - die wiederum auf lokale und regionale Kulturen und ihre Subsysteme einwirkt. Elemente und Tendenzen zu einer Weltkultur hat es schon länger gegeben, schon Goethe sprach von einer "Weltliteratur". Auch die Ausbreitung der verschiedenen "Weltreligionen" in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden unterstrich diese Tendenz. Neue Fragestellungen in diesem Zusammenhang ergeben sich nun im Prozeß der Globalisierung, die in Grad und Qualität internationaler Integration über frühere Vorläufer weit hinausreicht.

Auf dem Weg zu einer Weltkultur
Es ist zunehmend die Rede davon, daß wir inzwischen in einer "Weltgesellschaft" lebten, und die Frage wird immer häufiger gestellt, ob es bereits eine "Weltkultur" gebe oder bald geben werde (vergl. Dirk Messner, in: Globale Trends 2000). Der umstrittene Begriff der "Weltkultur" kann nicht bedeuten, daß die lokalen, regionalen oder nationalen Kulturen von einer globalen abgelöst würden, denn auch die Herausbildung "nationaler" Kulturen bedeutete ja nicht, daß damit lokale oder regionale Unterschiede verschwunden wären. Unterschiedliche Mentalitäten und Traditionen in Bayern und Mecklenburg, Köln und Düsseldorf oder in der Eifel und dem Ruhrgebiet bedeuten ja ebenfalls nicht, daß es eine "deutsche" Identität nicht gäbe, wie auch die Unterschiede zwischen Spanien, Skandinavien und den USA kaum jemanden daran hindern, "den Westen" - oder früher: das "Abendland" - als kulturelle Einheit zu betrachten. Der Begriff "Weltkultur" kann also nur zweierlei meinen: daß oberhalb der Ebene kultureller Unterschiede eine neue, zusätzliche globale Ebene kultureller Gemeinsamkeit entsteht oder bereits entstanden ist, und daß diese Ebene mit den Kulturen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene in einem Austausch steht, diese beeinflußt und von ihnen beeinflußt wird. In einem solchen Sinne ist die Existenz einer Weltkultur kaum noch zu bestreiten, wenn auch ihre genaue Ausgestaltung und Bedeutung umstritten bleiben mag. Die bekannten Symptome sind beispielsweise: die Vereinheitlichung der Konsummuster, etwa bezüglich bestimmter Erfrischungsgetränke, Fast Food, Moden; die Globalisierung der Massenkommunikation, etwa in Form weltumspannenden Satellitenfernsehens oder des Internet; die "Verwestlichung" von Musik und anderer Künste einerseits, bei gleichzeitiger Adaptierung fremder Kulturelemente in die westliche Kunst und Populärkultur. Die Tatsache, daß die Menschen in den verschiedensten Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen Traditionen heute zunehmend die gleichen Musiker hören, die gleichen Automarken fahren - oder zumindest gerne fahren würden -, die gleichen Soap Operas sehen, ist zugleich ein ökonomischer Tatbestand und ein kultureller. Schließlich sind Musik und TV auch Wirtschaftsgüter und Exportprodukte. Der breite Trend zur Homogenisierung bestimmter - nicht aller, und vor allem nicht aller zugleich - Kulturmuster wird nicht dadurch wiederlegt, daß nicht die gesamte Kultur einer Gesellschaft davon durchdrungen wird. Er wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß häufig die Homogenisierung der Kultur- und Konsummuster durch regionale Adaptierung gemäßigt oder verdaulicher gemacht wird: wenn etwa bei globalen Hamburgerbratereien das Angebot durch länderspezifisch abgewandelte Produkte komplettiert wird - wie vegetarische Burger in Sri Lanka, oder regional angepaßte Musiksendungen des Senders MTV.

Es bildet sich also trotz aller Relativierungen und Halbheiten jenseits der lokalen und nationalen Kulturen eine Weltkultur, wenn vielleicht auch noch in Keimform. Diese steht in einem komplexen Wechselverhältnis zu lokalen oder national geprägten Kulturen, und löst diese nicht einfach ab. Sie beeinflußt, prägt, retardiert oder stimuliert sie. Es stellt sich die Frage, was die spezifischen Charakteristika dieser Kultur sind, und ob es sich vielleicht nur um eine "Verwestlichung" anstatt Globalisierung der Kultur handelt. Wenn viele der oberflächlichen Symbole kultureller Globalisierung - McDonalds, CNN, Coca Cola, Microsoft, Hollywood und Popmusik, die englische Sprache und das Internet - aus den USA und den anderen Ländern des Nordens stammen: erleben wir also wirklich eine "Welt"- oder die allgemeine Durchsetzung der westlich-amerikanischen Kultur?
Um diese Frage zu beantworten ist es sinnvoll, zwischen dem Inhalt, der spezifischen Substanz dieses kulturellen Verallgemeinerungs- und Ausdehnungsprozesses einerseits und ihren Formen und Trägern zu unterscheiden. Die Tatsache als solche, daß fast überall auf der Welt die gleichen TV-Sender empfangen werden können, daß sich die Konsummuster - und damit bestimmte Wertesysteme - annähern, daß fast überall die gleiche Computersoftware benutzt und die gleiche Popmusik gehört wird, ist tatsächlich ein Indiz für die kulturelle Globalisierung, und für die Instrumente, Träger und Mechanismen einer entstehenden Weltkultur. Wenn diese Träger kultureller Vermittlung und Verbreitung allerdings überwiegend aus einem einzigen Kulturkreis stammen - oder nur einem Land eines Kulturkreises - dann nimmt der Prozeß der Globalisierung der Kultur die Färbung einer dominierenden Einzelkultur an. Anders ausgedrückt: es handelt sich um zwei unterschiedliche, wenn auch verknüpfte Prozesse: nämlich einerseits die prinzipielle Tendenz einer übernationalen, überregionalen Gesamtkultur, und zugleich die eines sich global verkleidenden Partikularismus. Die englische Sprache beispielsweise hat sich als lingua franca lange von England (und in gewissem Maße auch schon von den USA) abgelöst und dient auch als Verständigungsmedium zwischen afrikanischen und asiatischen Gesellschaften. Das belegt ihre globale Kulturfunktion. Trotzdem transportiert sie natürlich weiterhin auf mehr oder weniger subtile Weise ideologische Substanz, die aus Europa und den USA stammt, impliziert Denkweisen und Traditionen, die partikular und nicht global sind. Daß in vielen nicht-angelsächsischen Ländern sehr kreativ damit umgegangen wird, die englische Sprache lokalen Bedürfnissen und Traditionen angepaßt oder weiterentwickelt wird, ändert daran nichts. Die beliebte Verwendung des Englischen in der Werbung nicht-angelsächsischer Länder unterstreicht, daß über sie auch Konsummuster und ein "Lebensgefühl" transportiert werden sollen und werden - also kulturelle Werte.

Die entstehende Weltkultur macht also weitgehend den Eindruck, eine "westliche" oder gar US-amerikanische zu sein. Aber dies trifft nur zum Teil zu. Viele der Werte, die auf den ersten Blick als westlich/amerikanisch erscheinen, sind dies nur sehr indirekt oder gar nicht. Häufig handelt es sich ja um Konsummentalitäten und um Einstellungen, die mit Individualismus, (wirtschaftlicher) Freiheit, Initiative, Egoismus und Wettbewerbsbereitschaft zu tun haben. Diese und verwandte Werthaltungen und Einstellungen sind sicher in den USA (und anderen westlichen Ländern) besonders verbreitet und entsprechen deren Selbstinterpretation. Das macht sie allerdings nicht automatisch im strengen Sinne zu "amerikanischen" Werten: es sind vielmehr häufig Einstellungen, die eher aus einem bestimmten wirtschaftlichen Entwicklungsmodell entspringen als aus einer "nationalen" Kultur. Zweckrationalität, Selbstbehauptung und Konkurrenzbereitschaft beispielsweise sind die Leitwerte einer entwickelten, individualisierten Marktwirtschaft - unabhängig davon, auf welchem Kontinent sie entstehen mag. Es sind die Werte des Kapitalismus - nicht einer Nation, Kultur oder Gesellschaft. Sie erscheinen uns aber als "westlich/amerikanisch", weil sie dort besonders ausgeprägt sind und die westlichen Länder zugleich politisch und ökonomisch dominieren. Die Weltkultur ist also nicht in erster Linie von den nationalen Werten der USA oder der europäischen Länder geprägt, sondern von denen kapitalistischer Gesellschaften. Kapitalismus ist eben nicht allein ein ökonomisches, sondern zugleich ein kulturelles und Wertesystem.
Erst in zweiter Linie erhalten diese Werte ein gewisses Lokalkolorit aus den USA und Europa. Die sich herausbildende Weltkultur wird also in erster Linie von ökonomischen Sekundärtugenden und marktwirtschaftlichen Mentalitäten geprägt, von einer "Versachlichung" sozialer Beziehungen, Kosten-Nutzen-Denken und einer zumindest vordergründigen Entmystifizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Auch wenn Karl Marx und Friedrich Engels den Begriff der kulturellen Globalisierung nicht kannten, beschrieben sie in ihrem Kommunistischen Manifest doch bereits 1847 in fast lyrischen Worten diesen Prozeß, in dem sie die Bourgeoisie als treibende Kraft identifizierten:
"Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckige Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose "bare Zahlung". Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt." (MEAW I, S. 418/419)

Mögen diese Formulierungen auch der Mitte des 19. Jahrhunderts entspringen und ihre politischen Absichten deutlich sein, so ist der Trend, die verschiedensten kulturellen Verklärungen sozialer Beziehungen durch ihre Reduzierung auf ihren Nutzen und das eigene Interesse zu profanisieren und zu verallgemeinern, doch treffend beobachtet. In dieser Tendenz liegt auch der wichtigste Grund, daß kulturelle Abwehrkämpfe, etwa in Südwestasien, dem islamischen Kulturraum oder Frankreich gegen die "Amerikanisierung" oder Verwestlichung ihrer Kulturen wenig aussichtsreich sind. Die Amerikanisierung ist nur das Sahnehäubchen auf der kulturellen Globalisierung, nicht ihre Substanz. Ihr eigentlicher Kern ist die Durchkapitalisierung der Welt, ihrer wirtschaftlichen, aber auch sozialen und kulturellen Beziehungen. Deshalb können sich selbst die militantesten Islamisten, selbst der sich so antiwestlich gebende Ministerpräsident Malaysias, Mahathir bin Mohamad, der kulturellen Globalisierung nur zum Schein entziehen. Sie kämpfen meist gegen den Anschein, die Form der kulturellen Globalisierung, nicht gegen deren Kern, die Durchsetzung der Kosten-Nutzen-Erwägungen, der Zweckrationalität und des Primats der Ökonomie in allen Lebensbereichen.

Konstruktive Aspekte kultureller Globalisierung
Kulturelle Globalisierung wird von manchen gefürchtet und bekämpft, von anderen als Chance und historischer Fortschritt aufgefaßt. Aber sie ist nicht einfach gut oder schlecht. Sie hat bereits als solche bestimmte Auswirkungen, die in unterschiedlichen Zusammenhängen hilfreich, in anderen destruktiv sein mögen, und für ihre konkrete Ausprägung gilt ähnliches. Wenn kulturelle Globalisierung auf abgeschlossene, von Systemen politisch-kultureller Kontrolle beherrschte, möglicherweise diktatorisch, autoritär oder repressiv geführte Gesellschaften trifft, kann sie wie ein frischer Wind in einer Situation der Erstarrung wirken, kann alte Denkweisen erschüttern, "ewige Wahrheiten" in Frage stellen, und Spielräume eröffnen. Da sie eine mächtige Alternative zu lokalen Verkrustungen anbietet und die Isolierung von Intellektuellen voneinander und von der Außenwelt abbaut, kann sie mehr Offenheit bewirken und einen dumpfen Provinzialismus überwinden. Anders ausgedrückt: wenn lokale Machtstrukturen das interne kulturelle Entwicklungs- und Reformpotential ihrer Gesellschaften lähmen oder ausschalten, vermögen die von außen kommenden Impulse der kulturellen Globalisierung diese Blockade zu schwächen oder aufzubrechen.
Dies stellt für lokale Machthaber eine potentielle und ernste Bedrohung dar, da ihre ideologischen Herrschaftsapparate untergraben oder aufgelöst werden können. Zugleich fällt es ihnen schwer, sich der - auch kulturellen - Globalisierung wirklich zu entziehen, wenn sie die ökonomische Marginalisierung ihres jeweiligen Landes nicht in Kauf nehmen wollen. Selbst die VR China und Saudi Arabien sind deshalb nicht länger in der Lage, das Internet und z.T. Satelliten-TV zu verbieten oder unter Kuratel zu halten. Gesellschaften, die auf dem Weltmarkt eine aktive Rolle spielen wollen oder müssen, verlieren die Option eines Ausstiegs aus der kulturellen Globalisierung - was innenpolitische Folgen mit sich bringt: Sie müssen sich an der globalen Kommunikationsinfrastruktur beteiligen; sie können es kaum vermeiden, "westliche" oder für westlich gehaltene Ideologien ins Land zu lassen, und sie werden meist Widerstände gegen die Globalisierungstendenzen provozieren. Für lokale Diktaturen kann dies zu einer gefährlichen Gratwanderung führen. Aus ihrer Sicht muß kulturelle Globalisierung als Trojanisches Pferd erscheinen, das durch zumindest drei Einfallstore eingeschmuggelt wird.

Der erste Öffnungsmechanismus resultiert aus den Erfordernissen des Weltmarktes, die bestimmte, konkurrenzfähige und effiziente Produktionsweisen nach sich ziehen. Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Chance haben möchte, sich auf dem Weltmarkt zu behaupten, muß sich dessen Spielregeln unterwerfen, was entsprechende Organisationsmuster der eigenen Ökonomie - und damit entsprechende Verhaltensweisen und kulturelle Muster des Wirtschaftens - notwendig bedingt. Subsistenzwirtschaft, bürokratische Gängelung der Wirtschaftssubjekte und ein Festhalten "am wirtschaftlich Bewährten" sind Beispiele für unmöglich werdende Praktiken. Flexibilität, Innovation, die Unterordnung nicht-ökonomischer Erwägungen unter die Zwänge einer Exportwirtschaft, Eigeninitiative und internationale Vernetzung sind Exempel für Mentalitäten, die der Weltmarkt den "Volkswirtschaften" aufoktroyiert.

Die beiden anderen Einfallstore kultureller Globalisierung stehen dazu in enger Beziehung. Einmal handelt es sich um die immer wichtiger werdenden sozialen Systeme der Wissenschaft und Bildung, da die Anforderungen der Ökonomien an die Arbeitskräfte zunehmen. Eine innovative Behauptung am Markt setzt ein immer höheres Maß an Bildung und Ausbildung, eine immer wirksamere Verknüpfung von Produktion und Distribution mit Forschung und Entwicklung voraus. In diesem Sinne erfolgreiche Wissenschaft und Bildung implizieren aber zweierlei: eine weitgehende Internationalisierung beider Bereiche, da Forschung heute global organisiert ist und eine provinzielle Selbstbeschränkung den Verzicht auf Qualität bedeutet. "Wissenschaft in einem Lande" kann es nicht mehr geben, falls sie jemals möglich gewesen sein sollte. Ein Land, daß seine Wissenschaftler (und Studenten als zukünftige Wissenschaftler) vom internationalen Austausch abschneiden wollte, verzichtet auf Wissenschaftler von Spitzenqualität.

Wissenschaft braucht aber nicht allein den internationalen Austausch, sondern auch einen Freiheitsspielraum. Sie braucht intellektuelle Offenheit, kritisches Denkvermögen und das fortwährende Infragestellen bisheriger Forschungsergebnisse. Eine solche Atmosphäre freien Denkens läßt sich aber schwer in wissenschaftlichen Einrichtungen kasernieren, sie benötigt ein soziales Umfeld, in dem es gedeihen kann. Bildung und Wissenschaft werden also zunehmend von entscheidender Bedeutung für den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg von Gesellschaften, durch ihre fortschreitende Internationalisierung (und Kommerzialisierung) neigen sie allerdings dazu, der kulturellen Globalisierung im eigenen Land Vorschub zu leisten.

Das dritte schwer zu schließende Einfallstor kultureller Globalisierung bilden die neuen elektronischen Medien. Wenn in den Internet-Cafees in Nablus, Kairo oder Karachi von Kindersex bis zu freier politischer Information alles zugänglich ist, was das globale Datennetz zu bieten hat, und tschetschenische Rebellen, Menschenrechtsorganisationen und Nazi-Gruppen ihre Informationen und Meinungen relativ einfach und ungehindert im Internet verbreiten können - dann ist soziale und politische Kontrolle nicht einfach. (Siehe hierzu den Beitrag von Barbara Thomaß, u.a. in diesem Band.)
In diesem Kontext eröffnen die kulturelle Globalisierung und insbesondere der Fortschritt der Kommunikationsmittel eine große Chance für Teile der Zivilgesellschaft. War schon in der Vergangenheit für die politischen und wirtschaftlichen Eliten eine Vernetzung über weite Entfernungen und vor allem über Grenzen hinweg eine Selbstverständlichkeit oder zumindest eine einfache Option, mußten viele private Initiativen und nichtstaatliche Oranisationen hohe Hürden überwinden: Auslandsreisen oder Telefongespräche ins Ausland stellen für Politiker oder Wirtschaftsführer kein Problem dar, für viele Menschen oder Organisationen in der Dritten Welt waren oder sind sie kaum mit einer gewissen Regelmäßigkeit möglich, weil oft unerschwinglich teuer. Partner oder potentielle Partner in den Zivilgesellschaften verschiedener Länder haben es aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten - vor allem der Verfügbarkeit des Internet - weit leichter, miteinander in Austausch zu treten, sich abzustimmen oder gemeinsame Aktivitäten in verschiedenen Ländern und Kontinenten vorzubereiten.
Eine wichtige Voraussetzung für die konstruktive Nutzung dieser Chance durch Teile der Zivigesellschaften besteht darin, daß nicht allein technisch, sondern auch politisch-kulturell eine Verständigung möglich sein muß. Wenn lokale Akteure aus sehr unterschiedlichen Gesellschaften Afrikas, Asiens, Latein- und Nordamerikas oder Europas miteinander in direkte Kommunikation treten, dann brauchen sie nicht nur alle einen Internetzugang und funktionierende Telekommunikation. Sie benötigen zugleich eine gemeinsame "Sprache" des Austauschs. Das setzt trivialerweise zuerst einmal eine gemeinsame sprachliche Verständigungsmöglichkeit im engeren Sinne voraus - heute meist Englisch. Aber sie brauchen auch ein Mindestmaß an einer gemeinsamen Agenda, also einen Konsens, was man gemeinsam für relevant hält. Das bedeutet wiederum, daß es tatsächlich bereits akzeptierte Elemente einer Weltkultur geben muß, nämlich Dinge, Vorstellungen, Problemdefinitionen, Werte, über die eine wechselseitige Verständigung über kulturelle und geografische Grenzen hinweg lohnt. Nicht ein bereits fertiger Konsens in diesen Fragen konstituiert dabei die Elemente der Weltkultur, sondern bereits die Bereitschaft, die Auseinandersetzung und den Streit über sie für sinnvoll oder selbstverständlich zu halten.

Eine weitere Chance kultureller Globalisierung liegt in der größeren Verbreitung und Zugänglichkeit von Information und Wissen. Aufgrund der in den letzten Jahrzehnten massiv gewachsenen Systeme der Bildung und Wissenschaft, der Medien und einer in vielen Teilen der Welt immer lebendigeren Zivilgesellschaft sind die Mengen an Informationen und Wissen sprunghaft angestiegen. Zugleich stellt vor allem das Internet inzwischen eine Möglichkeit bereit, dezentral und von prinzipiell überall (einen funktionierenden Internetzugang vorausgesetzt) auf viele dieser Datenbestände zugreifen zu können. Heute ist es einfach, die aktuellen Ausgaben der Tageszeitungen fremder Länder vom eigenen PC online zu lesen, in wissenschaftlichen Datenbanken zu recherchieren, mit Wissenschaftlern fast überall auf der Welt per e-mail zu kommunizieren, oder Berichte politischer Einrichtungen, NGOs, Behörden oder Universitäten auszuwerten. Wer Umweltinformationen, die Menschenrechtslage in einem bestimmten Land, oder etwas über die Aktivitäten internationaler Organisationen erfahren möchte, verfügt heute über weit bessere Informationsmöglichkeiten als noch vor wenigen Jahren. Damit ist der Informationszugang nicht nur weiter globalisiert, sondern potentiell auch demokratischer und pluralistischer geworden. Informationsmonopole sind wesentlich erschwert, auch früheres Herrschaftswissen online im Internet verfügbar. Das Problem besteht damit häufig nicht mehr darin, daß Informationen und Wissen nicht öffentlich oder nur unter großem finanziellen oder zeitlichen Aufwand nutzbar wären - sondern, daß sie heute nicht selten unter riesigen Bergen von "Informationsmüll" verborgen sind. Wissen mag prinzipiell allgemein verfügbar sein, aber zugleich steigen die Anforderungen an die individuelle und organisierte Kompetenz, innerhalb der riesigen Informations- und Datenmengen Wichtiges von Unwichtigem, Seriöses von Unsinnigem, Banales von Brisantem zu unterscheiden. Trotzdem hat die kulturelle Globalisierung vielen Individuen und Organisationen die Chance auf den Zugriff auf international vernetzte Inforamtionsbestände eröffnet, wie dies in der früheren Geschichte undenkbar war.

Globale Werte
Vor allem in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten hat es beträchtliche Fortschritte bei der Herausbildung globaler Werte gegeben. Das klassische Beispiel besteht in der Kodifizierung der Menschenrechte, seitdem die Vereinten Nationen 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedeten. Das seitdem entwickelte juristische Instumentarium zur Definition, der Beobachtung und dem Schutz der Menschenrechte und ihre Ausdifferenzierung in politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte war nur möglich, weil das Konzept der Menschenrechte zunehmend zu einem gemeinsamen Wertebestand mir globaler Akzeptanz wurde (siehe dazu den Beitrag von Brigitte Hamm, in diesem Band). Dies wird nicht dadurch widerlegt, daß Menschenrechte nach wie vor in großem Umfang gebrochen werden - wie ja die generelle Akzeptanz des Christentums nicht davon abhängt, wie viele Gläubige die Zehn Gebote mißachten. Die Existenz gemeinsamer Werte bedeutet nicht automatisch deren Befolgung. Heute wagt es kaum eine Regierung, nicht einmal eine Diktatur, die Geltung der Menschenrechte prinzipiell zu bestreiten. Sie mag höchst kreative Ausreden dafür finden, warum in ihrem Land die Menschenrechte nicht vollständig gewährt sind, sie mag eigene Menschenrechtsverletzungen bestreiten und vertuschen - aber sie wird kaum jemals argumentieren, daß die Menschenrechte nicht gelten oder nicht gelten sollten. Die Diskussion wird höchstens darüber geführt, ob und ggf. wie sie in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen unterschiedlich ausgestaltet und angewandt werden sollten. Aber auch dieses Argument impliziert ja bereits eine Akzeptierung der Menschenrechte als Grundprinzip.
In diesem Sinne haben sich schon ganze Bereiche einer Weltkultur etabliert, die einen unschätzbaren historischen Gewinn darstellen und stetig ausgebaut werden, wenn es auch immer wieder zu Brüchen, Widersprüchen und Rückschlägen kommt. Bereits die Herausbildung des Völkerrechts gehört in den Zusammenhang der Herausbildung von "Weltkultur", denn sein Kern besteht in der Anwendung bestimmter Regeln, Werte und Prinzipien über die Kulturgrenzen hinweg auf alle staatlichen Subjekte. Ein anderes Beispiel ist die Gründung von Völkerbund und Vereinten Nationen, die auf der Basis gemeinsam proklamierter Werte erfolgten, wie sie in der UNO-Charta niedergelegt sind. Ohne solche gemeinsamen Wertegrundlagen - wie der Bewahrung des Weltfriedens oder der Geltung der Menschenrechte - wäre die Gründung der UNO sinnlos gewesen. Auch die zunehmende Bedeutung des Umweltschutzes als globale Aufgabe ist ein Indiz für die schrittweise Ausdehnung von Elementen einer wertegestützten Weltkultur.
Die kulturelle Globalisierung neigt - jenseits ihres Kerns, der globalen Etablierung von Kapitalismus als Kultursystem mit seinen Werten der Zweckrationalität - dazu, die noch schwachen, aber vorhandenen Wertesysteme wie Menschenrechte und globalen Umweltschutz weiter zu verallgemeinern und manch zögernder Gesellschaft und manch zögernder Regierung aufzudrängen. Damit wird die kulturelle Globalisierung hinter dem Rücken ihres ökonomisch geprägten Kerns immer wieder zum Träger zivilisatorischen Fortschritts.

Destruktive Aspekte kultureller Globalisierung
Ihre dunkle Seite besteht in der offenkundigen Gefahr, langfristig lokale Kulturen zu schwächen und potentiell zu homogenisieren. Die gegenwärtige Form kultureller Globalisierung bedeutet ja nicht allein, Gesellschaften durch globale Vernetzung einen leichteren Ausbruch aus lokaler Beschränktheit zu erlauben und das Bewußtsein für Menschenrechte und Umweltschutz zu stärken. Sie vermag lokale Kulturen auch zu untergraben, zu fragmentieren und zu schwächen, auch wenn sie nicht repressiver oder lähmender als andere sind. Dieses Problem bedeutet nicht, "traditionelle" Kulturen als solche konservieren und quasi unter "Denkmalschutz" stellen zu wollen. Daß kulturelle Systeme von außen beeinflußt und verändert werden, ist nicht das Problem, sondern eine Selbstverständlichkeit, die Teil kulturellen Wandels war und bleibt. Kulturen sind keine Museumsstücke, die um ihrer selbst willen bewahrt werden sollten, sondern intellektuelle und pragmatische Beziehungssysteme, die in Gesellschaften bestimmte Funktionen erfüllen oder erfüllen sollen. Wenn kulturelle Systeme diese Funktionen nicht (mehr) gewährleisten, dann gibt es keinen Grund, sie künstlich konservieren zu wollen. Falls sie ihre Aufgaben aber noch erfolgreich bewältigen, dann ist nicht jede Art ihrer Veränderung angebracht, sondern nur jene, die ihre Funktionsfähigkeit nicht untergräbt.

Eine eurozentrische Sichtweise wird nun immer unterstellen, daß "Modernisierung" oder Verwestlichung einer Gesellschaft einen Fortschritt bedeutet. Dafür lassen sich dann wirtschaftliche, politische oder kulturelle Gründe vortragen. Tatsächlich aber muß gründlich untersucht werden, ob in einem bestimmten Fall die durch Globalisierung bewirkte "Modernisierung" für eine bestimmte Gesellschaft einen Fortschritt, nur eine andere Entwicklungsoption oder eine Schwächung bedeutet. Kulturelle und wirtschaftliche Globalisierung können lokalen Machteliten auch neue Instrumente und zusätzliche Herrschaftsmittel gegen die eigene Bevölkerung liefern; sie können lokale Traditionen und Kulturen auflösen, ohne etwas Neues an ihre Stelle zu setzen, oder durch ihre hohe Geschwindigkeit die interne Wandlungsfähigkeit einer Gesellschaft überfordern.

Zu einem großen Teil hängt die Wirkung kultureller Globalisierung von den Auftreffbedingungen im jeweiligen Land ab. Existieren vor Ort gesellschaftliche Strukturen und soziale Akteure, die den Anforderungen wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung gewachsen sind? Sind sie in der Lage, die kulturellen Globalisierungseinflüsse mit lokalen Bedingungen und Traditionen zu verknüpfen, oder wird sie der Gesellschaft einfach übergestülpt? Gibt es eine lebendige Zivilgesellschaft, die die positiven Elemente nützt und weiterträgt, den destruktiven aber widersteht? Wie beeinflußt der Adaptierungsprozeß die Machtverhältnisse im Land? Letztlich geht es also darum, den kulturellen Globalisierungsdruck nicht einfach zu erleiden, die kulturellen Einflüsse der Weltkultur nicht einfach als Paket zu übernehmen und an die Stelle der eigenen Kultur zu setzen, sondern zu einem Prozeß in der Lage zu sein, der auf eine dialektische Auseinandersetzung mit der kulturellen Globalisierung hinausläuft, bei der die lokale Kultur sich nicht selbst aufgibt, sondern sich fruchtbaren Impulsen kreativ aussetzt.
Der Einfluß der kulturellen Globalisierung auf Gesellschaften beruht selten auf dem gleichberechtigten und selbstbestimmten Austausch der Akteure, sondern auf der Einwirkung eines globalen Wirtschafts- und Kultursystems, das von den stärksten Nationalstaaten und weltweiten Marktmechanismen geprägt wird, auf die einzelnen Kulturen und Gesellschaften. Damit sind die Freiwilligkeit des kulturellen Wandels und die kulturelle Selbstbestimmung lokaler Kulturen meist fraglich. Die "modernen" Sektoren einen jeweiligen Landes werden der Durchdringung ihrer Gesellschaft durch Elemente globaler Kultur meist zustimmen und von dieser profitieren. Andere Gruppen werden ihm indifferent oder ablehnend gegenüberstehen und möglicherweise Nachteile erleiden. Wenn repressive Diktatoren, die ihre eigene Gesellschaft an der freien Entfaltung hindern, von solchen Mechanismen getroffen werden, wird dies selten als ein ethisches Problem erscheinen - falls aber ganze Gesellschaften die Chance kultureller Selbstbestimmung verlieren, weil aufgrund übermächtiger, extern basierter Marktmechanismen selbst eine freie interne Diskussion über die gewünschte politisch-kulturelle Entwicklung gegenstandslos wird, dann stellt der starke Trend zur kulturellen Globalisierung (und teilweise Homogenisierung) ein Problem dar.
Kulturelle Globalisierung kann also eine befreiende, auch belebende Wirkung haben, in anderen Zusammenhängen aber auch dazu tendieren, gemeinsam mit ihrer wirtschaftlichen Entsprechung Demokratie und Selbstbestimmung zu schwächen. Wenn aktive und kritische Journalisten oder Künstler in einem Entwicklungsland entweder bei der ersten Gelegenheit in die USA oder nach Großbritannien abwandern, oder mit den weltweiten Unterhaltungskonzernen und ihrem Satelliten-TV nicht mithalten können, wenn fehlende Englischkentnisse große Teile einer Gesellschaft der Dritten Welt von Bildung und politischer oder wirtschaftlicher Partizipation ausschließen, dann wird auch die Zivilgesellschaft geschwächt. Auch die Übernahme globaler Konsummuster durch eine wohlhabende Minderheit in einem Land, in dem große Teile der Bevölkerung an der Armutsgrenze lebt, wird eher zu einer vertieften Spaltung der Gesellschaft, denn zu einem freieren Klima betragen. Die Symbole kultureller Globalisierung werden in vielen Ländern der Dritten Welt oft als Statussymbole, als Mittel zur Abgrenzung von der ärmeren Bevölkerung, als Instrument politisch-kultureller Ausgrenzung ausgenutzt.
Zusammengenommen kann die wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung die politischen Identitäten und das Selbst-Bewußtsein fragiler Gesellschaften entleeren, sie sozial und kulturell spalten, und in Verbindung mit grundlegenden sozioökonomischen Umbrüchen destabilisieren. Diese Gefahr kann bis zur Verschärfung oder Verursachung von Gewaltkonflikten reichen. Sie dürfte sich im nächsten Jahrzehnt in mäßigem Ausmaß verstärken, ohne aber regelmäßig die Schwelle offener Gewalt zu überschreiten.

Politische Optionen
Sollen sich politische Kultur und politische Identitäten auf eine sozialverträgliche Weise entfalten, dann brauchen sie den Dialog. Sie benötigen auch Kenntnisse, Informationen und Wissen über sich selbst, über die eigene Umgebung und über "die Anderen". Die Politik sollte sich verstärkt darum bemühen, dazu Angebote in der eigenen Gesellschaft, aber auch nach außen und auf der globalen Ebene zu machen. Die Verbesserung und Ausweitung des Bildungs- und Wissenschaftssystems ist eben nicht allein aus wirtschaftlichen Gründen erforderlich und sollte nicht allein im Hinblick auf direkt verwertbare technische Fertigkeiten erfolgen. Sie können zugleich dazu beitragen, Defizite und Lücken in der politischen Kultur zu schließen und identitätsbildend zu wirken, wenn sie dialogisch und integrativ angelegt sind. In Deutschland gilt dies beispielsweise für das Problem der Ausländerfeindlicheit und des Rassismus, in anderen Ländern mögen andere Fragen im Vordergrund stehen, etwa religiöse Identitäten im Nahen Osten, die Entleerung traditioneller Kulturen, oder die Vereinbarkeit von globalen Werten mit lokaler Kultur in großen Teilen der Dritten Welt. In den USA und manchen ehemaligen Kolonialmächten könnte es darum gehen, eine nicht-imperialen Sichtweise und einen entsprechenden Umgang mit jüngeren oder schwächeren Ländern zu erlernen.
Eine solche Rolle des Wissenschafts- und Bildungswesens setzt aber voraus, dieses nicht nur im Sinne größeren ökonomischen Nutzens und einer Kosten-Nutzen-Effizienz zu reformieren, sondern auch das zu stärken, was man früher vielleicht "Charakterbildung" genannt hätte. Gerade konservative Politiker in vielen Ländern haben lange gefordert, "Werte" zu vermitteln. Dies muß tatsächlich eine zentrale Aufgabe des Bildungswesens sein, wenn die Gesellschaften nicht von den Wandlungsprozessen überfordert werden sollen. Eine solche Wertevermittlung kann aber nicht darin bestehen, bloß die überholten Sekundärtugenden wiederbeleben zu wollen. Sie sollte vielmehr auf die Entwicklung sozialer Kompetenz, von Offenheit, stärkerer Ambiguitätstoleranz, Kreativität und nichtegozentrischen Formen der Ich-Stärke orientieren. Durch die verstärkte Verschulung von Wissenschaft und Bildung ist dies aber gerade nicht zu erreichen, sondern durch eine Koppelung höherer Anforderungen an intensive, persönliche Betreuung und größere Freiräume, deren Nutzung kontrolliert werden müßte.

Der Austausch zwischen den Kulturen und die Stärkung der jungen Weltkultur im Sinne von Toleranz und Kooperation erfordert mehr und ernsthaftere Dialogforen. Interkulturelle Dialoge können sich nicht auf die folgenlose wechselseitige Versicherung des guten Willens beschränken, sondern müssen die gemeinsame Lösung gemeinsamer Probleme einschließen, um ernstgenommen zu werden. Der Trend, von einer Gemeinsamkeit der Kulturen und globalen Werten zu sprechen, und zugleich eine harte nationalstaatliche oder gruppenspezifische Interessenspolitik gegen den Rest der Welt durchsetzen zu wollen, läßt aus vielen Dialogforen eine Farce werden. Hier wäre die Politik gefordert, nicht immer neue Werte und Regeln zu kodifizieren, sondern sie auch ernsthafter umzusetzen. Die globale Umweltpolitik, die Menschenrechte, aber auch die Entwicklungspolitik und das Völkerrecht sind Beispiele dafür.
Schließlich sollte darüber nachgedacht werden, ob und wie der Trend gestoppt oder modifiziert werden kann, die Weltkultur zunehmend zu ökonomisieren. Dabei besteht das Problem nicht allein darin, daß die wichtigsten Massenmedien immer weiter kommerzialisiert werden, sondern auch darin, daß auch die "Kultur" der Welt immer stärker von modischen Konsummustern und der Unterordnung aller Lebensbereiche unter die Ökonomie geprägt wird. Selbst politische Gemeinschaften werden inzwischen im Sinne eines politischen Marktes interpretiert, in dem die Wähler mit Konsumenten verglichen werden, die eine politische Dienstleistung nachfragen und der Stimmzettel die Währung darstellt. Die politische Kultur verschiebt sich damit von der Interpretation der Demokratie als gemeinsames Handlungsfeld politisch aktiver Subjekte zu einer als Marktplatz. Wenn es nicht gelingt, den Primat der Politik über die Ökonomie durchzusetzen, wird eine Kultur der Demokratie und des Diskurses auf Dauer weder national noch international möglich sein. In diesem Falle würden die Werte des - auch globalen - Verteilungskampfes die erst in Keimform entwickelte Weltkultur prägen und die bisherigen zivilisatorischen Fortschritte infrage stellen. Langfristig hätte das gefährliche Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaften und der "Weltgesellschaft" als Ganzes.

Die zentrale Aufgabe der Politik besteht deshalb in der Notwendigkeit, den kulturellen Wandel angesichts der Globalisierungsprozesse erträglich, steuerbar, diskutierbar und den politischen Wünschen der Menschen gegenüber beeinflußbar zu erhalten. Wird die kulturelle Entwicklung vieler Gesellschaften immer weiter auf die Rationalitäten kapitalistischer Ökonomie zugeschnitten, dürften die Konflikte innerhalb und zwischen den Gesellschaften verstärkt ein "kulturelles", also ethnisches, nationalistisches oder ethno-religiöses Gesicht tragen. Auf diese Weise läßt sich der Widerstand gegen die Opferung politischer Identitäten aus ökonomischen Verwertungszwängen am plausibelsten formulieren. Will die Politik die Entstehung oder Eskalation zukünftiger Gewaltkonflikte vermeiden, dann steht die Aufgabe, dem kulturellen Wandel einen Freiraum vor dem Homogenisierungsdruck der Globalisierung zu verschaffen, ganz oben auf der Liste der Notwendigkeiten. Dies läßt sich allerdings nicht mit einer "Kulturpolitik", sondern nur durch die politische Bändigung und Regulierung der wirtschaftlichen Globalisierung erreichen, die erst die Voraussetzungen eines konstruktiven und kreativen Umgangs mit gesellschaftlichen Identitätsbrüchen und kulturellen Konflikten gewährleisten kann.

 


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erschienen in:
Stiftung Entwicklung und Frieden, Globale Trends 2002 - Fakten, Analysen, Prognosen,
hrsg. von Ingomar Hauchler, Dirk Messner, Franz Nuscheler,
Frankfurt  2001, S. 135-155
 

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