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Der "Islamische Staat" -

Auseinandersetzungen um den Charakter von Staatlichkeit in der MENA-Region

 

Jochen Hippler

 

Der „Arabische Frühling“, der im Winter 2010/2011 in Tunesien und Ägypten begann, löste in der Region und in den westlichen Ländern nach einer Schrecksekunde große Hoffnungen aus. Der damalige Bundesaußenminister Westerwelle erkannte „eine Globalisierung der Aufklärung, eine Globalisierung von Werten und eine Globalisierung von Freiheitswerten.“ Er erklärte: "„Es geht nicht entweder um Stabilität oder um Demokratie - auch das ist ein Gegensatz von gestern -, sondern es geht um stabile Demokratie.“

Insgesamt erwartete man, dass nun auch zahlreiche weitere Diktaturen der Region stürzen und eine Welle der Demokratisierung einsetzen würde. Manchmal wurde die Entwicklung mit der Transformation Osteuropas nach dem Ende des Kalten Krieges verglichen. Von diesen Hoffnungen ist im Jahr 2015 nichts geblieben. Zwar konnte sich in Tunesien trotz gravierender wirtschaftlicher und politischer Probleme eine demokratische Perspektive stabilisieren, aber ansonsten kam es in der Region bereits seit 2011 zu einer Welle der Gewalt, der Bürgerkriege und später der erneuten Stärkung autoritärer Tendenzen. Libyen, Syrien, der Irak und der Jemen waren und sind besonders von Gewalt und politischem Chaos betroffen, andere Länder wurden destabilisiert, so der Libanon. Zum Symbol der neuen politischen Situation wurde der rasante Aufstieg des „Islamischen Staates“ in Syrien und dem Irak. Der internationale Diskurs verschob sich von der Demokratisierung zur Terrorismusbekämpfung. Mittlerweile steht sogar die Fortexistenz bestehender Staaten wie Irak, Syrien, Libyen oder Jemen insgesamt auf dem Spiel

 

Der Arabische Frühling und das Problem von Staatlichkeit im Nahen und Mittleren Osten

Der Arabische Frühling war keine einheitliche Bewegung, sondern bezogen auf seine Akteure und Ziele heterogen. Einerseits gab es wichtige sozioökonomische Forderungen, die aus der wirtschaftlichen Dauerkrise, der hohen (Jugend)-Arbeitslosigkeit, der Preissteigerung und dem Mangel an sozialer Sicherung resultierten. Zugleich zielten die Bewegungen auf einschneidende politische Veränderungen, insbesondere solche zur Verbesserung der Governance-Systeme und -Strukturen. Die Korruption, die Willkür und Arroganz staatlicher Beamter und Institutionen, die dauerhafte Herrschaft räuberischer Netzwerke der Eliten oder Dynastien, die Brutalität der Sicherheitsbehörden und das Klima der Einschüchterung und Unterdrückung hatten zu einer gesellschaftlichen und politischen Lähmung geführt, die den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr entsprach. Beide Ursachenbündel standen allerdings in Beziehung zueinander, da auch die wirtschaftliche und sozialpolitische Stagnation der MENA Region auf politische Gründe und insbesondere die Governance-Defizite zurückzuführen war. Die korrupten Eliten, die die Staatsapparate kontrollierten, waren kaum an der dynamischen Entwicklung ihrer Länder interessiert, sondern vor allem an der Kontrolle des Staates zur eigenen Machtsicherung und Bereicherung. In gewisser Hinsicht hatten selbstsüchtige Eliten den Staat privatisiert bzw. in Besitz genommen, während die Massenbewegungen des Arabischen Frühlings danach trachteten, ihn in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Dies war zugleich ein Ziel, aber auch ein Mittel der Bewegungen, da nur so grundlegende sozioökonomische Probleme zu lösen waren.

Nachdem in der Anfangsphase die Diktaturen in Tunesien und Ägypten schnell gestürzt waren, kam es bereits 2011 zu massivem, gewaltsamem Widerstand einiger Regime. In Libyen, Syrien und Bahrain setzten die Regierungen auf eine militärische Niederwerfung der Reformbewegungen, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen: In Bahrain gelang es mit Hilfe des Militärs Saudi Arabiens, das Land repressiv zu restabilisieren, in Libyen kam es durch den Luftkrieg der NATO zum Regime Change und anschließenden Zerfall des Staates und der Gesellschaft, und in Syrien führte die Gewalt des Regimes zu einem Bürgerkrieg, der die Fragmentierung des Landes und die Stärkung sunnitisch-extremistischer Kräfte zur Folge hatte. Parallel dazu gelang es einigen Ländern durch eine Mischung von Repression und Verteilung wirtschaftlicher Wohltaten (Saudi Arabien, Arabische Emirate) ihre Stabilität im Wesentlichen zu erhalten, andere setzten auf begrenzte politische Zugeständnisse, um die Macht der Eliten zu stabilisieren (vor allem Marokko).

Insgesamt waren die politischen Auseinandersetzungen von sehr unterschiedlichen Erwägungen geprägt. Die politischen Eliten, insbesondere die Regimekerne, waren vor allem an der Sicherung der eigenen Macht und der Bereicherungsmöglichkeiten interessiert. Die Kontrolle über den Staatsapparat war dabei das entscheidende Instrument um die Gesellschaft und Politik zu kontrollieren, und um sich die gesellschaftlichen Ressourcen aneignen zu können - was den Charakter von Staatlichkeit in vielen arabischen Ländern definierte. Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung mussten als Bedrohung empfunden werden, weil sie den eigenen Interessen zuwidergelaufen wären. Genau aus diesem Grund waren beide für große Teile der Bevölkerung attraktiv, da sie das Machtmonopol und die Willkür der herrschenden Eliten begrenzen oder beenden würden. Rechtstaatlichkeit und Demokratisierung würden potenziellen wirtschaftlichen und kulturellen Gegeneliten und den Mittelschichten Türen zu Partizipation und Machtbeteiligung öffnen. Deshalb waren die Auseinandersetzungen des Arabischen Frühlings auch immer Auseinandersetzungen um den Charakter von Staatlichkeit. Kompliziert wurde dieser Tatbestand dadurch, dass manche Akteure eine andere Perspektive einnahmen, da sie nur an einem Wechsel der Machteliten, aber nicht an der grundlegenden Reform des Staates interessiert waren. Dies galt beispielsweise für die ägyptische Militärführung, die zwar bereit war, Präsident Mubarak zu opfern, aber den unreformierten Staatsapparat selbst dominieren wollte. Selbst der gewählte Präsident Mursi neigte dazu, die Inbesitznahme des Staates und dessen Nutzung gegen die Opposition für dringlicher zu halten als eine grundlegende demokratische Reform.

 

Beginn der Bürgerkriege

Nach der hoffnungsvollen Anfangsphase des Arabischen Frühlings verschob sich die Grundtendenz der Entwicklung von der Demokratisierung zur Fragmentierung von Staatlichkeit. Dies wurde durch die Bürgerkriege in Libyen und Syrien ausgelöst bzw. verstärkt. In beiden Ländern begannen die Kriege aufgrund der brutalen staatlichen Repression von zivilen Protesten gegen die jeweiligen säkularen Diktaturen, ohne dass religiöse oder konfessionelle Faktoren zu Beginn eine Rolle gespielt hätten. Es handelte sich zuerst vielmehr um Proteste, die auf eine Verbesserung oder Überwindung unakzeptabler Governance-Strukturen gerichtet waren, insbesondere gegen Korruption, Repression, Mangel an Rechtsstaatlichkeit und die allgemeine politische Lähmung durch räuberische Eliten und Regime. Damit stand auch in diesen beiden Ländern der Charakter von Staatlichkeit im Zentrum, ergänzt durch soziökonomische Probleme, wie sie auch in Tunesien und Ägypten bestanden. Die gewaltsame Reaktion der Regime führte zur Bewaffnung der Opposition (in Libyen innerhalb von Tagen, in Syrien von Monaten) und zur Transformation der Proteste zum Aufstand. Diese Militarisierung des politischen Kampfes hatte zwei Folgen. Erstens wurden ohnehin gewaltbereite Gruppen auf diese Weise relegitimiert, was insbesondere dschihadistischen Kräften nutzte: Nun wurde (auch) deren bewaffneter Kampf als legitim betrachtet, da rein zivile Proteste als aussichtslos und selbstmörderisch erschienen. Zweitens wuchs der Bedarf an erfahrenen, bewaffneten Kämpfern, wodurch die dschihadistischen Gruppen einen bedeutenden Vorteil erlangten. Eine Rolle spielte auch, dass in beiden Ländern die Opposition zwar breit, aber kaum organisiert und fragmentiert war, wodurch eingespielte und erfahrene Organisationen wie die der Dschihadisten gestärkt wurden. Durch die zunehmende Bedeutung der Dschihadisten wurde allerdings die Opposition weiter gespalten, und die Unterschiede der Vorstellungen über eine zukünftige staatliche Ordnung nahmen beträchtlich zu. Dies trug zu einer fortschreitenden Fragmentierung der Gesellschaft bei. In Syrien beispielsweise stehen sich inzwischen nicht mehr nur das Regime und „die Opposition„ bewaffnet gegenüber, sondern der Krieg hat sich konfessionalisiert (Sunniten, Alaviten, Christen, andere) und ethnisiert (Araber, Kurden). Dazu kommen Spaltungen innerhalb der Großgruppen, etwa ein Bürgerkrieg zwischen verschiedenen sunnitischen Gruppen, auch zwischen dschihadistischen (etwa zwischen der Nusra Front und dem „Islamischen Staat“), der Aufstieg von "Warlords" und von Gruppen, die primär an Raub, Plünderung und Bereicherung interessiert sind.

Die wesentlichen strukturellen Entwicklungen und Faktoren, die den Charakter von Staatlichkeit seit dem Arabischen Frühling beeinflussten, fasst das folgende Schaubild zusammen.

MENA politischer Kontext 2010-15 a

 

Schwache Staatlichkeit im Irak

Schon bevor, aber auch während sich in Syrien und Libyen fragmentierte Bürgerkriege entwickelten, kam es im Irak zu einer ebenso komplexen Entwicklung, die das Land destabilisierte und die Funktionsfähigkeit des Staates untergrub. Nach dem Sturz Saddam Husseins und während der Besetzung des Landes durch die USA und ihre „Koalition der Willigen“ kam es auch dort zu einer Verschärfung der konfessionellen (Sunniten, Schiiten) und ethnischen (arabisch-kurdischen) Spaltungen und Spannungen. Dies lag unter anderem daran, dass die von den USA und den kurdischen wie schiitischen Parteien initiierte „Entbaathisierung“ auf eine Art betrieben wurde, die auf eine Marginalisierung der sunnitischen Bevölkerungsgruppen hinauslief, was diese in den politischen und militärischen Widerstand trieb und dschihadistischen Gruppen nutzte. Ihren Höhepunkt erreichte die resultierende Welle der Gewalt Ende 2006/Anfang 2007, als monatlich 3500 Todesopfer zu beklagen waren. Erst als sich die dschihadistischen Gruppen, insbesondere al-Qaida im Irak, durch ihre exzessive Gewalt ihrer eigenen sozialen Basis der arabischen Sunniten entfremdeten, kam es zu einer Wende. Sunnitische Stämme und Freiwillige wandten sich gegen die Dschihadisten und begannen, diese zu jagen, was bald die US-Streitkräfte und die Regierung in Bagdad finanziell und mit Waffenlieferungen unterstützte. Das Gewaltniveau sank dramatisch, auf rund 100 Tote pro Monat. Al-Qaida im Irak war 2008/2009 als politischer Machtfaktor faktisch geschlagen und kämpfte ums Überleben. Bei den Parlamentswahlen von 2010 gaben die sunnitischen Bevölkerungsteile ihren politischen Boykott auf, beteiligten sich an der Wahl und entschieden sich überwiegend für säkulare Parteien. Die historische Chance, nun die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu versöhnen und ein gemeinsames Staats- oder Nation-Building Projekt auf den Weg zu bringen, wurde allerdings von Ministerpräsident Maliki verspielt. Aus Gründen der persönlichen Machtsicherung spielte er erneut, nachdem er sich 2009/2010 kurzzeitig „national“ gegeben hatte, die „schiitische Karte“, nutze und trieb den Konfessionalismus voran. Insbesondere betrieb er eine scharf anti-sunnitische Politik, die den größten Teil der sunnitischen Bevölkerung erneut dem irakischen Staat entfremdete. Nachdem 2007 der irakische Staat (und sogar die US-Besatzungskräfte) als das kleinere Übel gegenüber einem gewalttätigen Dschihadismus erschienen war, kehrte sich dies langsam um. Er wurde für viele Sunniten von der Lösung zum Problem. Dies wurde dadurch verschärft, dass die sunnitische Bevölkerung den irakischen Staat unter Ministerpräsident Maliki nicht nur als diskriminierend und feindselig wahrnehmen musste, sondern dessen Leistungsfähigkeit schwach blieb. Zur Sicherung seiner Machtposition versuchte Maliki, möglichst alle Gruppen in die Regierung einzubeziehen, die Macht aber zugleich bei sich zu konzentrieren. Verschiedene Gruppen und Milizen nahmen unterschiedliche staatliche Institutionen in Besitz. Beides trug wesentlich zu einer Lähmung des Staatsapparates, aber auch dazu bei, dass Maliki selbst unter den politisch fragmentierten Schiiten an Unterstützung verlor. Unter seiner Führung gelang es folglich nicht, den irakischen Staat zu einer legitimen und funktionsfähigen Instanz der gesamten Gesellschaft zu formen, sondern er wurde zunehmend als leistungsschwach, parteilich und illegitim wahrgenommen.

 

Aufstieg des “Islamischen Staates“

Nach Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien schickte al-Qaida im Irak Mitte 2011 Kader nach Syrien, um die dortige Situation der Konfessionalisierung und Schwächung des Staates auszunutzen. Zugleich diente dies dazu, dem Druck im Irak auszuweichen, auch wenn dieser nachgelassen hatte. Die von al-Qaida im Irak entsandten Kräfte gründeten bald mit personeller Unterstützung der al-Qaida Führung in Pakistan die Nusra-Front, die sich in der Treibhaussituation des syrischen Bürgerkrieges schnell zu einer der stärksten Milizen entwickelte und auch gegen andere Gruppen der Aufständischen militärisch vorging. Im April 2013 erklärte al-Qaida im Irak seinen Zusammenschluss mit der Nusra-Front in Syrien zum „Islamischen Staat in Irak und Syrien„ (ISIS), um die Kontrolle der Nusra-Front sicherzustellen und öffentlich zu demonstrieren. Letztere wies die Unterordnung unter und Verschmelzung mit al-Qaida im Irak allerdings ebenso öffentlich zurück und wandte sich an die al-Qaida Zentrale in Pakistan unter Zawahiri. Nach monatelangen und erfolglosen Vermittlungsbemühungen entschied der al-Qaida Führer schließlich zu Gunsten der Unabhängigkeit der Nusra-Front und lehnte den Vormachtanspruch von ISIS ab. ISIS brach daraufhin öffentlich mit al-Qaida, benannte sich im Juni 2014 in den „Islamischen Staat„ (IS) um, und der IS-Chef Baghdadi ernannte sich selbst zum „Khalifen„. Dieser Schachzug bedeutete, dass der IS nunmehr nicht nur auch offiziell unabhängig von al-Qaida operierte (was faktisch bereits zuvor der Fall gewesen war), sondern sogar die Führungsposition gegenüber allen dschihadistischen Gruppen (und sogar allen Muslimen gegenüber) beanspruchte. Während die anderen Dschihadisten dafür kämpften, irgendwann einen Islamischen Staat und ein Khalifat zu errichten, beanspruchte der IS nun, dies bereits zu sein, also nicht mehr eine Organisation neben anderen, sondern bereits ein Staat zu sein, sogar das untergegangene Khalifat wiedererrichtet zu haben. Wer immer sich dem „Khalifen„ widersetzen würde, wurde damit zum Ketzer. Bemerkenswert an dieser Entwicklung war zugleich, dass Staatsbildung und der Charakter von Staatlichkeit nicht mehr nur ein wichtiges Ziel neben anderen sein sollten, sondern sogar im Namen verdichtet wurden. „Islamischer Staat„ war in diesem Zusammenhang weniger eine Beschreibung der Realität, sondern Programm.

Der „Islamische Staat„ hatte sich seit den 1990er Jahren aus unterschiedlichen Vorläuferorganisationen entwickelt, von denen der erwähnte „Islamische Staat im Irak„ die größte Prominenz erlangte. 2014, nachdem er sich in Syrien fest etabliert hatte, gelang ihm plötzlich, zu einem internationalen Machtfaktor zu werden, als er in wenigen Wochen fast ein Drittel des Iraks unter seine Kontrolle brachte und zusammen mit seinen Gebieten in Syrien eine Region kontrollierte, die der Größe Großbritanniens entsprach. Der IS drang mit schätzungsweise 4000 bis 5000 Kämpfern überfallartig von Syrien in den Irak vor, wo ihm etwa zehnmal so viele irakische Soldaten gegenüberstanden, mit US-amerikanischen Waffen gut ausgestattet. Allerdings machten die irakischen Soldaten keinerlei Anstalten, ihr Land zu verteidigen, sondern flohen ohne Widerstand zu leisten. Dabei dürfte der Ruf gnadenloser Brutalität des IS einschüchternd gewirkt haben, aber der entscheidende Grund für die Flucht des irakischen Militärs lag darin, dass die Soldaten und Offiziere den irakischen Staat und die Regierung Maliki nicht für verteidigungswert hielten. Letztlich beruhte der schnelle und durchschlagende Erfolg des IS nicht auf seiner militärischen oder personellen Stärke, sondern auf der Schwäche des irakischen Staates, der selbst von seinen eigenen Sicherheitskräften nicht als legitim betrachtet wurde. Die relativ schwachen Kräfte des IS trafen auf keinen entschlossenen Gegner, sondern stießen in ein politisches Vakuum vor, das sich schnell und leicht füllen ließ. Deshalb benötigte der IS nur etwa 800 Kämpfer, um die Millionenstadt Mosul einzunehmen. Durch die schnelle Eroberung großer Gebiete - einschließlich von Großstädten wie Falluja und Mosul sowie Kasernen, Waffenlager, Ölfelder und anderen wirtschaftlich bedeutenden Einrichtungen - erlangte der IS eine Stärke, die er zuvor nicht annähernd besessen hatte: Die geflohenen irakischen Soldaten hatten große Waffenlager mit US-amerikanischen Waffen und anderer militärischer Ausrüstung zurückgelassen, die eroberten Gebiete wurden durch den IS „besteuert„, insbesondere in Mosul fielen ihm beträchtliche Mengen Bargeld in die Hände, schließlich ergaben sich noch größere Einnahmequellen durch den Verkauf von Öl in die Nachbarländer. Und der durchschlagende Erfolg des IS führte dazu, dass er weit über Syrien und den Irak hinaus für salafistische und dschihadistische Kräfte eine große Anziehungskraft entwickelte, die die Zahl der Kämpfer und Unterstützer deutlich anwachsen ließ, insbesondere aus Nordafrika, von der Arabischen Halbinsel und aus Westeuropa. Darüber hinaus gewann der IS auch in anderen Ländern und Regionen an Einfluss, baute dort Organisationsstrukturen auf oder erhielt Loyalitätserklärungen bestehender dschihadistischer Gruppen, die sich dem IS unterstellen wollten - so in Libyen, Ägypten, Pakistan oder Indonesien.

 

Der Charakter des Islamischen Staates“

Der IS wird verharmlost, wenn man ihn allein oder zuerst als „Terrororganisation„ oder „Terrormiliz„ bezeichnet, wie dies häufig der Fall ist. Eine Terrorgruppe wird durch ihre terroristische Praxis definiert. Sie ist in der Lage und es ist ihre primäre Absicht, Nicht-Kombattanten (also unbewaffnete Zivilisten) aus politischen Gründen zu töten oder zu verletzen, was sich aus den meisten Definitionen des Terrorismus ergibt, auch aus der des US-Außenministeriums. Der IS macht sich solcher Verbrechen häufig schuldig, aber diese machen nur einen kleineren Teil seiner Praxis aus. Der IS ist zugleich eine Aufstandsbewegung und betreibt einen Guerillakrieg, er verfügt darüber hinaus über die Entsprechung regulärer Streitkräfte mit der Fähigkeit, Panzer und Artillerie in größerem Maßstab einzusetzen; er ist daneben eine „soziale Bewegung„ mit entsprechendem Aktivismus. Der IS verwaltet ganze Städte und große Regionen und regelt dort den Verkehr, das soziale Leben, die Infrastruktur, das Justizwesen und die Wirtschaft. Er organisiert zumindest Ansätze eines sozialen Sicherungssystems. All dies macht den IS weit gefährlicher und bedeutsamer als eine bloße Terrororganisation. Er unternimmt zahlreiche Terroranschläge, aber das ist eine seiner zahlreichen Taktiken, es ist nicht seine Strategie. Er stellt in gegenwärtig zumindest zwei Staaten die Machtfrage, was die Fähigkeiten einer Terrororganisation weit übersteigt. Er mag zwar lange noch kein „Staat„ sein, aber die Phase des bloßen Terrorismus als sogenannte „Waffe der Schwachen„ hat er weit hinter sich gelassen. Es handelt sich vielmehr um eine politisch-militärische Großorganisation, die auch und neben anderen Taktiken und Mitteln auch Terrorismus nützt, wo immer dies nützlich erscheint.

 

Wie staatsähnlich ist der Islamische Staat“?

Fähigkeiten

Der IS kontrolliert, wie erwähnt, eine Region von der ungefähren Größe Großbritanniens. Dort leben ca. acht Millionen Menschen, die der IS faktisch regiert. Er ist aus seinen primär terroristischen Anfängen und nachdem er sich zu einer Miliz und dann auch militärischen Organisation entwickelt hatte, inzwischen zu einer Organisation geworden, die auch Herrschaft ausübt und breite administrative Aufgaben zu bewältigen hat. Dies stellt für eine früher rein gewaltsam operierende Organisation eine große Herausforderung dar, die nicht leicht zu bewältigen ist. Dem „Islamischen Staat“ gelingt dies - mehr oder weniger - aufgrund zweier Umstände: Einmal handelt es sich nicht allein und primär um einer Organisation religiös inspirierter Hitzköpfe, sondern es ist ihm inzwischen gelungen, auch erfahrene Technokraten zu rekrutieren. Diese stammen meist aus den Reihen früherer Baathisten, die der säkularen Diktatur Saddam Husseins gedient hatten. Viele von ihnen dürften sich inzwischen der dschihadistischen Ideologie des “Islamischen Staates“ angepasst haben, so wie sie früher gezwungen waren, die baathistische Ideologie und alle politischen Wendungen Saddam Husseins nachzuvollziehen - aber man kann annehmen, dass politischer Opportunismus bei ihnen weit verbreitet ist und ihre Motivation stärker aus ihrer politischen und beruflichen Marginalisierung als aus religiösem Extremismus resultiert. Diese Gruppe spielt eine gewichtige Rolle im Militärapparat des IS und dürfte auch bei den politisch-administrativen Aufgaben bedeutsam sein. Zweitens hat der „Islamische Staat„ nach seinen oft blitzartigen Eroberungen viele syrische und irakische Staatsbeamte einfach übernommen. Dies gilt offensichtlich vor allem bei der Leitung von Infrastruktur (etwa bei Wasserwerken, etc.), da die dafür nötigen Fachkenntnisse nicht anders zu finden waren. Der irakische Innenminister wies darauf hin, dass solche Beamte oft durch Drohungen gezwungen worden seien, ihre früheren Funktionen weiter zu erfüllen. Besondere Loyalität gegenüber dem IS wird von dieser Gruppe nur selten zu erwarten sein.

Insgesamt soll - Schätzungen des US-Militärs zufolge - der IS etwa 30.000 Kämpfer und etwa ebenso viele zivile Helfer kommandieren.

 

Aufbau und Leistungen

Der „Islamische Staat„ ist eine prinzipiell höchst zentralisierte Organisation, wenn aus pragmatischen Gründen die Zentralisierung nicht immer streng durchgesetzt wird. Unterhalb des „Khalifen„ Abu Bakr al Baghdadi amtiert ein Shura-Rat, der überwiegend beratende Funktion innehat. Daneben bestehen zwei Oberkommandierende für Syrien und den Irak, sowie sieben Räte mit unterschiedlichen Zuständigkeiten: Für Provinzangelegenheiten, das Militär, ausländische Kämpfer, Sicherheit und Nachrichtenwesen, Religiöse Angelegenheiten, Finanzen und Medien. Daneben besteht ein Sharia-Rat unter der direkten Führung von Al Baghdadi, der für die religiöse Leitung zuständig ist.

Die lokalen Governance-Strukturen des IS lassen sich in zwei Bereiche unterteilen: (1) Verwaltung und (2) „Muslimische Dienste„, wobei allerdings in beiden Bereichen sowohl säkulare als auch religiöse Aktivitäten unternommen werden. Missionierung für die eigene religiöse Sicht, religiöse Erwachsenenbildung, Primärbildung, die lokale Polizei, die davon getrennte Religionspolizei, das Gerichtswesen, die Werbung von Kämpfern sowie die Öffentlichkeitsarbeit und die Regelung der Beziehungen zu den Stämmen werden von der Verwaltungsabteilung durchgeführt, während die Bereitstellung von Dienstleistungen, insbesondere von humanitärer Hilfe, das Betreiben von Bäckereien oder die Bereitstellung der Wasser- und Energieversorgung sich unter der Leitung der Abteilung für Muslimische Dienste befindet.

Caris/Reynolds bewerten die Versuche des IS, parastaatliche Strukturen zu bilden, folgendermaßen:

„ (...) ISIS’s ambitious governance program is both a demonstration of ISIS’s greatest strength and potentially its greatest weakness. The transition from war-making, at which ISIS has already proved adept, to state-making, at which it has had only limited experience, will be the most significant hurdle to the success of the ISIS caliphate in the long term. It may also constitute the greatest threat to Iraq and Syria that ISIS can inflict, if ISIS mismanages essential urban and economic infrastructure.”

 

Dilemmata

Der „Islamische Staat„ hat sich von einer Terrorgruppe zu einer brutalen, wenn auch untypischen Aufstandsbewegung entwickelt, die gegenwärtig versucht, staatlichen Charakter anzunehmen. Ihre Stärken liegen in ihrer Erfahrung bei den unterschiedlichen Arten von Gewaltanwendung (Terroranschlage, brutale Einschüchterung, Guerillakriegführung und konventioneller Krieg) und in ihrer technisch-organisatorischen Kompetenz. Er beinhaltet religiöse Fanatiker, theologisch weitgehend ahnungslose Kader, die diesen folgen, und Opportunisten, Mitläufer und Sunniten, die sich politisch und sozial marginalisiert fühlen. Von besonderer Bedeutung sind internationale Dschihadisten, die überdurchschnittlich häufig Führungsfunktionen innehaben. Da in Syrien und dem Irak große Teile der Bevölkerung große Vorbehalte gegen ausländische Kämpfer haben, bleiben sie in der Regel von dieser getrennt. Darin besteht eine der Schwächen des Staatsbildungsprojekts, da dieses mittel- und langfristig einer tiefen gesellschaftlichen Verankerung bedarf. Ähnlich verhält es sich mit der demonstrativen Brutalität des IS, durch die kurzfristig Gegner und die Bevölkerung eingeschüchtert, die Bevölkerung und selbst die eigene soziale Basis der sunnitischen Araber in Syrien und dem Irak aber verstört und abgeschreckt werden. Genau die gleiche Brutalität und das diktatorische Verhalten war bereits der Grund, dass al-Qaida im Irak 2007/2008 eine schwere Niederlage erlitt und in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten drohte - der IS scheint den gleichen Fehler zu begehen, falls es ihm nicht bald gelingt, die Loyalität der örtlichen Bevölkerung durch positive Anreize zu gewinnen, statt durch Gewalt zu erzwingen. Gerade in einer Situation, in der eine breite internationale Koalition militärisch gemeinsam mit lokalen Kräften (wie den kurdischen Peschmerga) gegen den IS vorgeht, ist er von der aktiven wie passiven Unterstützung eines größeren Teils der Bevölkerung abhängig.

 

Der Islamische Staat„ und das Problem der Staatlichkeit im Nahen und Mittleren Osten

Das strategische Grundproblem im Nahen und Mittleren Osten besteht nicht in den dortigen gewalttätigen Gruppen, so gefährlich sie auch sein mögen. Diese können nur einen solchen Grad von Gefährlichkeit erreichen, wie dies dem „Islamischen Staat„ gelungen ist, wenn und weil sie sich die regionale Schwäche von legitimer und funktionierender Staatlichkeit zunutze machen. Deshalb sind Luftangriffe oder Waffenlieferungen an die Gegner des IS zwar geeignet, dessen Vordringen zu verlangsamen oder aufzuhalten, möglicherweise sogar teilweise zurückzudrängen. Aber letztlich können militärische Mittel zwar Zeit gewinnen, aber die Ursachen des Aufstiegs gewaltsamer Extremistengruppen nicht beseitigen. Solange die Staatlichkeit in der MENA-Region entweder von illegitimen Diktaturen oder von fragmentierenden und scheiternden bzw. gescheiterten politischen Strukturen bestimmt wird, lassen sich nur zeitweilige Erfolge erreichen. Eine tatsächliche Lösung des Problems dschihadistischer gewalttätiger Gruppen wird nur dauerhaft gelingen, wenn sich in der Region funktionierende und legitime Staatlichkeit etablieren läßt. Dies bedeutet nicht unbedingt, westliche Demokratiemodelle zu exportieren. Im Gegenteil: Der Export politischer Modelle und deren Überstülpen über fremde Gesellschaften kann und wird das Legitimationsproblem nicht lösen, sondern oft noch verschärfen. Allerdings bieten sich bestimmte Elemente demokratischer Strukturen an, insbesondere die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und die Ausweitung von gesellschaftlichen und politischen Partizipationsmöglichkeiten. Dabei sind zwei Punkte von besonderer Wichtigkeit: Einmal weisen die Erfahrungen westlicher Politik im Nahen und Mittleren Osten darauf hin, dass ein wichtiger Schritt bereits darin bestehen würde, es in den dortigen Ländern nicht noch schlimmer zu machen. Stabilität durch die Unterstützung von Diktaturen erreichen zu wollen, löst aktuelle Probleme dadurch, zukünftige zu vergrößern. Dies ist keine kluge Politik und führt letztlich zu einem Problemstau, der langfristig zu mehr Gewalt und Instabilität führt. Zweitens ist eine Förderung rechtsstaatlicher und partizipativer Strukturen in Ländern der Region - wie auch allgemein - nur aussichtsreich, wenn sich in der Gesellschaft des Ziellandes relevante und organisierte Sektoren der Bevölkerung ohnehin für diese Ziele engagieren. Ohne diese Voraussetzung wird externes Engagement eher polarisierend oder fragmentierend wirken und Widerstand provozieren. Europäische Politik sollte also nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen (etwa bei Respektierung des Völkerrechts, durch multinationales Vorgehen gemeinsam mit regionalen Partnern, bei unabweisbarer Notwendigkeit etwa humanitärer Art) auch militärische Mittel einsetzen. Dies kann allerdings lediglich eine Hilfsfunktion erfüllen, also etwa Nothilfe und Zeitgewinn, das Problem aber nicht lösen. Ohne eine langfristige Politik der Selbstbeschränkung einerseits und aktiver Beiträge zur Stärkung legitimer, funktionsfähiger Staatlichkeit andererseits sind militärische Mittel nicht erfolgversprechend. Dies hat unter anderem der NATO-Luftkrieg gegen Libyen demonstriert, der die Fragmentierung des Landes nur verstärkte und den dschihadistischen Gruppen ein neues Betätigungsfeld eröffnete.

 

 

 

Quelle:

Jochen Hippler,
Der "Islamische Staat" - Auseinandersetzungen um den Charakter von Staatlichkeit in der MENA-Region,
in: Friedensgutachten 2015, hrsg. von Janet Kursawe, Margret Johannsen, Claudia Baumgart-Ochse, Marc von Boemcken und Ines-Jacqueline Werker, Münster 2015, S. 162-174

Fußnoten in der gedruckten Fassung

 

 

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