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Jochen Hippler

Islam und Gewalt



Vorbemerkungen.
Der Islam ist Religion, er ist Theologie, religiöses Erleben, religiöse Praxis, aber er ist zugleich vieles, das nicht, nur indirekt oder nur scheinbar mit Religion im engeren Sinne zu tun hat: „der Islam“ ist auch Kultur, Tradition, er ist ein Sprachcode zur Formulierung auch persönlicher oder politischer Fragen. Und der Islam ist ungeheuer pluralistisch, vielfältig und widersprüchlich – auch wenn die meisten Muslime betonen, es gebe nur einen Islam (was auf einer bestimmten Abstraktionsebene natürlich stimmt), so existiert doch eine unübersichtliche Vielfalt unterschiedlichster islamischer Theologien und Praktiken. Die Komplexität des Gesamtphänomens „Islam“ erschwert offensichtlich allgemeingültige Aussagen – und wenn diese noch auf eine ebenfalls sehr komplexe Erscheinung wie „politische Gewalt“ bezogen werden sollen, wird die Aufgabe nicht leichter.
Zweitens eröffnet die Frage des Verhältnisses von Islam und Gewalt das Problem, in welchem Maße diese tatsächlich islamspezifisch beantwortet werden kann oder nur Teil einer allgemeineren Frage des Verhältnisses von Religion und Gewalt darstellt. Viele Antworten zum Gewaltproblem in muslimischen Gesellschaften werden – unter bestimmten Bedingungen – auch für hinduistische, christliche, jüdische oder buddhistische Gesellschaften gelten und nur ein muslimisches Lokalkolorit hinzufügen. Andere Aspekte werden tatsächlich islamspezifisch sein, und es ist wichtig, diese Ebenen nicht zu verwechseln.

Vergleichbarkeit von Gewalt in verschiedenen Religionen und Kulturkreisen.
So wenig, wie die zahllosen Kriege der beiden letzten Jahrtausende in Europa aus der Bibel oder der christlichen Theologie hergeleitet werden können, auch wenn sie häufig religiös gerechtfertigt wurden, so wenig resultiert die Gewalt im Nahen und Mittleren Osten notwendigerweise aus der islamischen Religion oder Theologie. Das Problem der Gewalt in muslimischen Ländern entspringt zuerst einmal den politischen Realitäten vor Ort, nicht dem Koran. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass viele Akteure diese politischen und gesellschaftlichen Realitäten in religiöser Sprache und religiösen Zusammenhängen interpretieren oder selbst religiös inspiriert sind. Dieser Zusammenhang ist höchst bedeutsam, darf aber nicht zu falschen Schlussfolgerungen verleiten: auch wenn die Kreuzzüge, wenn die Verwüstungen des 30-jährigen Krieges, der Bürgerkrieg in Nordirland oder die Massaker auf dem Balkan oft in „christlichen“ Begriffen gerechtfertigt wurden, so wäre es doch falsch, daraus schließen zu wollen, „das Christentum“ sei per se gewalttätig. Die Aufgabe besteht offensichtlich darin, die Gewalt von Muslimen (oder Christen, Hindus, Buddhisten) zu analysieren und zu verstehen, ohne dabei automatisch auf eine Gewalttätigkeit der jeweiligen Religion zu schließen. Dies bedeutet nicht, dass umgekehrt aus friedfertigen Taten oder Äußerungen von Muslimen (oder Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften) auf einen per se friedfertigen Charakter ihrer Religion geschlossen werden könne.
Es ist deshalb wenig erfolgversprechend, die aktuelle Gewalt im islamisch geprägten Kulturraum aus der Theologie des Islam oder dem Koran ableiten oder verstehen zu wollen. Ein solcher Versuch führt in der Regel kaum zu mehr, als „friedfertige“ und „gewaltsame“ Koransuren gegeneinander zu stellen, und dann entweder resigniert aufzugeben, oder nach persönlichem Geschmack sich für eine Seite zu entscheiden. In diesem Papier soll daher auf ein solches Vorgehen verzichtet werden. Da es andererseits – zwar nicht zum größeren Verständnis von Gewalt in muslimischen Gesellschaften, aber der ideologischen und theologischen Debatten in ihrem Umfeld – nützlich sein kann, den direkten Bezug zu theologischen Fragen zumindest in Umrissen zu kennen, wird diesem Papier ein Anhang beigefügt, der zwei fundierte, kurze Texte dazu bietet: den Beitrag zum „Jihad“ in der „Oxford Encyclopedia of the Modern Islamic World“ und einen Beitrag des in Köln lebenden Islamwissenschaftlers Navid Kermani.

Maßstäbe und Vergleichbarkeit von Gewalt in muslimischen Gesellschaften.
Ein Ausgangspunkt der Analyse von politischer Gewalt in muslimisch geprägten Gesellschaften sollte darin bestehen, sein Ausmaß realistisch zu bewerten. Dabei kann es nicht darum gehen, die sehr unterschiedlichen Formen von politischer Gewalt in muslimischen Ländern herunterzuspielen oder zu verharmlosen. Es kommt aber darauf an, sie an Maßstäben zu messen, die Verzerrungen und Klischees vermeiden.

Zwei Beispiele:
• Nimmt man die Zahl der Toten in den letzten hundert Jahren als Kriterium, dann wäre sicher die Sorge über „westliche“ Gewalt drängender als die vor „muslimischer“. Die beiden Weltkriege, der Holocaust, die zahllosen Kolonialkriege, die Opfer des Stalinismus oder die Kriege von Vietnam bis Irak erreichen zusammengenommen Opferzahlen, die von muslimischen Gewalttätern und Gesellschaften nicht einmal annähernd erreicht wurden. Dies darf Gewalt von Muslimen nicht entschuldigen, soll aber doch davor warnen, das Problem der Gewalt vor allem bei „den anderen“ zu sehen und aus der Wahrnehmung der eigenen, westlichen Geschichte und Politik auszublenden, solange es nicht um „innerwestliche“ Gewalt geht.
• Betrachten wir die Gewalt des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein, des verstorbenen syrischen Diktators Hafez al-Assad, der algerischen Regierung in den 90er Jahren oder des türkischen Militärs gegen Kurden und der kurdischen PKK gegen Militär und Zivilbevölkerung, dann handelt es sich in allen Fällen um brutale Gewaltakte von Muslimen (gegen andere Muslime). Aber bedeutet dies zugleich „islamische Gewalt“? Offensichtlich nicht, da in allen diesen Fällen die Gewalttäter aus rein säkularen Gründen handelten, nämlich zur Machtsicherung ihrer nicht-islamischen Herrschaft. Von „islamischer“ Gewalt könnte man in diesen Fällen nur sprechen, wenn man den Vietnamkrieg, die sowjetischen Invasionen in Ungarn, der ČSSR und Afghanistan, den französischen Algerienkrieg oder die Eroberung des Iraks durch die Bush-Administration als „Christliche Kriege“ zu bezeichnen bereit wäre.
Eine Untersuchung der politischen Gewalt in islamisch geprägten Gesellschaften darf also nicht so tun, als wäre diese ein Spezifikum für muslimische Gesellschaften – politische Gewalt ist ein gemeinsames Problem, eine gemeinsame Krankheit westlicher und muslimisch geprägter Gesellschaften (wie auch anderer). Und man darf ebenfalls nicht den Eindruck erwecken, jeder Gewaltakt eines Muslims wäre „islamische“ Gewalt – wie bei uns können und werden Gewaltakte dort vor allem aus Gründen der Macht und des Nutzens begangen, selten als religiöser Akt. Ohne Berücksichtigung dieser beiden Voraussetzungen bliebe die Untersuchung der Gewalt von Muslimen ohne seriöse Grundlage, sie würde über den Splitter im Auge des Anderen sprechen, ohne den Balken im eigenen zu bemerken.

Regionaler Gewaltvergleich.
Der islamisch geprägten Orient wird in der öffentlichen Diskussion häufig als Region mit besonderem Gewaltpotential betrachtet, zugleich als eine Bedrohung anderer Regionen. Die Frage des internationalen, islamistischen Terrorismus nach dem 11. September 2001 hat dieser Sichtweise Auftrieb gegeben. Aber auch Gewaltkonflikte in und um Palästina, Algerien, den kurdischen Siedlungsgebieten in der Türkei, der gewaltsame Charakter der Diktatur Saddam Husseins und andere Konfliktpunkte unterstreichen die Annahme, der Nahe und Mittlere Osten – bzw. islamisch geprägte Gesellschaften – seien durch eine Verknüpfung von Gewalt und anderen unerfreulichen Erscheinungen (etwa Diktaturen, Fanatismus, religiöser, nämlich islamischer Extremismus und Instabilität) charakterisiert. Wir nehmen „den Islam“ nicht selten als Anachronismus und gewaltbereit wahr und machen ihn für die Probleme der Region wesentlich mitverantwortlich.
Tatsächlich ist der Nahe und Mittlere Osten eine Region, in der Instabilität häufig und Gewalt in einer ganzen Reihe von Konflikten an der Tagesordnung war oder ist. Selbst wenn in den letzten Jahrzehnten auch in anderen Regionen Gewalt in großem Ausmaße vorkam oder noch vorkommt – zu nennen sind Amerika (Kolumbien, Mittelamerika, die gewaltsamen Diktaturen in Chile, Argentinien und anderswo), Asien (Korea- und Vietnamkrieg, Kriege zwischen Indien und Pakistan, zwischen Vietnam und China, Völkermord in Kambodscha, Krieg in Sri Lanka), Afrika (Somalia, Ruanda, Burundi, Angola, Mosambik) und Europa (die beiden Weltkriege, der Balkan, in geringerem Maße Baskenland und Nordirland) – so kann doch festgestellt werden, dass muslimische Länder in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten überdurchschnittlich viele Gewaltkonflikte zu verzeichnen haben. Ende der neunziger Jahre fanden 8 von 27 größeren Gewaltkonflikten auf der Welt in der Region des islamisch geprägten Orients statt.
Zugleich fällt auf, dass die dortige Gewalt in der Regel in der Region verbleibt und nur selten grenzüberschreitenden Charakter aufweist. Von Sonderfällen wie den Terroranschlägen von Al-Qaida, palästinensischen Anschlägen in Israel oder dem US- und britischen Krieg gegen den Irak abgesehen, findet die Gewalt dort vor allem innerhalb der eigenen Gesellschaften statt, etwa zwischen verschiedenen ethnischen oder religiösen Gruppen oder zwischen Regierungen und Widerstandsgruppen. Als Indiz für diesen Tatbestand können die Zahlen des US-Außenministeriums dienen, die regelmäßig in seinen „Patterns of International Terrorism“ publiziert werden, und sich auf grenzüberschreitende Formen von Terrorismus – also eine Sonderform politischer Gewalt – beziehen. Betrachtet man die Zahlen der Anschläge für die Jahre 1995-2000 (also vor dem 11. September 2001) nach Region, fällt auf, dass der Nahe und Mittlere Osten – also eine Region mit einem sehr hohen Anteil an Muslimen – am unteren Ende der Terrorhäufigkeit lag, von Nordamerika abgesehen. Im Nahen und Mittleren Osten lagen die Anschlagszahlen des internationalen Terrorismus in diesem Zeitraum zwischen 16 und 45 (im Jahresdurchschnitt 33), während sie in Westeuropa (Schwerpunkt: Balkan) zwischen 30 und 272 (durchschnittlich 101) und in Lateinamerika (Schwerpunkt auf Kolumbien) zwischen 84 und 193 (im Durchschnitt 121) betrugen. 
Auch die Zahl US-amerikanischer Opfer des internationalen Terrorismus war nach den Zahlen des US-Außenministeriums bis zum 10. September 2001 eher gering, nämlich insgesamt knapp 500 in den zwanzig Jahren davor (in den USA sterben in einem einzigen Jahr bis zu 11.000 Menschen an Schusswaffengebrauch), von denen noch rund die Hälfte bei einem einzigen Angriff auf US-Soldaten im Libanon 1984 zu beklagen waren, der auch nach der offiziellen US-Definition überhaupt kein Terrorismus, sondern ein unkonventioneller militärischer Angriff war.
Verglichen mit diesen Zahlen der grenzüberschreitenden Gewalt von Muslimen gegen Nichtmuslime lagen die Opferzahlen umgekehrt weit höher: serbische oder kroatischen Massaker an bosnischen oder kosovarischen Muslimen, die Opfer der US-Kriege in Afghanistan und dem Irak, die der israelischen Armee in den besetzten Gebieten Palästinas, der indischen Armee gegen Muslime in Kaschmir oder der russischen in Tschetschenien bewegen sich in einer Größenordnung, die damit nicht vergleichbar ist – selbst wenn der grauenhafte Terroranschlag auf das World Trade Center berücksichtigt wird. An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, unzulässigerweise die Zahl der Toten gegeneinander aufrechnen zu wollen – der Punkt hier besteht allein darin, dass in aller Regel die politische Gewalt von Muslimen sich nur in relativ geringem Maße nach außen, sondern vor allem nach innen, auf die eigenen Gesellschaften richtet, was umgekehrt nicht der Fall ist. Die Tatsache der Gewaltausübung ist in beiden Fällen moralisch weder besser noch schlechter, ihre unterschiedliche Zielrichtung wirft aber ein Schlaglicht auf die Frage wechselseitiger Bedrohungsvorstellungen.

Quellen der Gewalt in islamisch geprägten Ländern.
Eine Analyse der Gewalt in überwiegend muslimischen Gesellschaften muss mit der Untersuchung der realen Quellen der Gewalt beginnen. Die skizzierte Tatsache, dass sich Gewalt von Muslimen empirisch vor allem innerhalb der eigenen Gesellschaften ereignet und meist gegen andere Muslime gerichtet ist, lässt Rückschlüsse auf zwei Punkte zu: einmal erfolgt diese Gewalt offensichtlich nicht primär in einem „anti-christlichen“ oder „anti-westlichen“ Kontext, sondern in einem inner-muslimischen. Und zweitens bedeutet dies, dass die Suche nach den Ursachen und Quellen der Gewalt zuerst innerhalb der muslimischen Gesellschaften gesucht werden muss, nicht zwischen westlichen und muslimischen, also nicht in einem Kontext eins „Clashs der Zivilisationen“.
Eine politikwissenschaftliche Analyse der Gewaltpotentiale innerhalb muslimischer Gesellschaften wird folgende Ansatzpunkte ergeben.
Ökonomisch und sozial befinden sich die meisten Länder des Nahen und Mittleren Ostens in einer Dauerkrise, die von hoher Arbeitslosigkeit (insbesondere Jugendarbeitslosigkeit), einem oft schamlosen Graben zwischen Arm und Reich, Stagnation oder extrem ungleichmäßiger Entwicklung, Korruption und Lähmung gekennzeichnet ist. Diese wirtschaftlichen und sozialen Faktoren bilden einen „Rohstoff“ für die Entwicklung gewaltsamer Auseinandersetzungen, sind allein aber nicht ausreichend, um Gewalt zu erklären. Armut an sich ist nicht notwendigerweise eine Ursache von Gewalt, so wenig wie Arbeitslosigkeit oder Korruption allein Gewalt nicht zu erklären vermögen. Schließlich existieren in vielen Ländern wirtschaftliche Probleme und soziale Krisen, ohne dass dies immer und automatisch zu Terrorismus, Gewalt oder Bürgerkrieg führen würde. Um aus dem „Rohstoff“ realer Probleme tatsächliche Gewalt erwaschen zu lassen, bedarf es einer entsprechenden psychologischen und emotionalen Verarbeitung: etwa dem verbreiteten Empfinden, dass im vorgegebenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmen keine Aussicht auf Besserung besteht, dass auch friedliche Wege zur Veränderung unwirksam sind oder verschlossen bleiben. Ein Stau dramatischer wirtschaftlicher und sozialer Probleme bei gleichzeitigem Empfinden, dass diese nicht gelöst werden und Lösungen „von oben“ blockiert werden – so etwas kann dazu beitragen, dass die Gewaltschwelle wesentlich sinkt.
Dazu kommen weitere Faktoren. So ist beispielsweise weniger bedeutsam, dass viele Menschen absolut arm sind. Wichtiger sind oft eine Kluft zwischen Arm und Reich, eine Tendenz, dass sich diese Kluft noch vergrößert – und vor allem eine verbreitete Erwartung entsprechender Verschlechterungen. Auch politisch-psychologische Faktoren wie die Glaubwürdigkeit der sozialen und politischen Eliten sind bedeutsam: traut man den eigenen Eliten zu, tatsächlich an der Überwindung der Probleme zu arbeiten, sind Gewaltausbrüche selten. Betrachtet man sie oder die Regierung aber als unwillig, desinteressiert, unfähig oder korrupt, also stärker als Blockadefaktor oder Teil des Problems, anstatt dass diese an einer Lösung arbeiten, wird Gewalt wahrscheinlicher.
Dabei können dann symbolische Aspekte eine wichtige auslösende oder verstärkende Rolle spielen: Bilder von Askese predigenden Herrschern, die zum Shopping oder ins Spielkasino nach London fliegen, ein Präsident, der sich im eigenen Land von einer US-amerikanischen Leibwache schützen lässt, verhasste und brutale Diktatoren, die ihre Bevölkerung ignorieren, sich aber in exzessivem Personenkult feiern lassen – solche Erscheinungen können zusätzlich den Widerstand anfachen. Deshalb sind neben wirtschaftlichen und sozialen Problemstaus vor allem politische Faktoren wichtig.
In den meisten muslimischen Ländern bestehen Situationen einer massiven Entfremdung zwischen Staat und Regierung einerseits und Bürgern andererseits. In fast allen Ländern bestehen Diktaturen, Schein- und Halbdemokratien, in denen Bürger- und Menschenrechte, demokratische Verhältnisse oder Partizipationsmöglichkeiten weitgehend eingeschränkt sind oder ganz fehlen. Diktaturen und die Verletzung von Menschenrechten allein führen nicht automatisch zu Gewalt, aber sie können zivile, gewaltfreie Regelungen von Konflikten erschweren. Solche Herrschaftssysteme neigen dazu, eine offene Austragung von Verteilungs- und anderen Konflikten zu unterbinden oder zu unterdrücken, was eine Zeit lang zu einer künstlichen Ruhe und Stabilität, langfristig aber zu einem Problem- und Konfliktstau führen kann, der bei geänderten Bedingungen explodiert.

Externe Faktoren.
Neben solchen internen Konfliktfaktoren bestehen in manchen Ländern noch direkt oder indirekt externe Faktoren, die zusätzlich Öl ins Feuer gießen. Am massivsten sind häufig Situationen militärischer Intervention oder Besatzung, die zu massiver Gegengewalt führen können. Beispiele dafür waren etwa der Unabhängigkeitskrieg Algeriens gegen Frankreich, die sowjetische Intervention in Afghanistan oder die israelische Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens. Erneut führen militärische Besetzungen oder die Stationierung von fremden Truppen nicht immer, automatisch und sofort zu umfassendem gewaltsamem Widerstand, wie US-Truppen in Saudi Arabien und Pakistan oder Usbekistan, aber auch in Afghanistan und nun im Irak demonstrieren. Auch dabei kommt es auf den politischen Kontext und die psychologischen Auftreffbedingungen an. Aber mittel- und längerfristig können alle solchen Besatzungs- und Stationierungserfahrungen destabilisierend wirken und spätere, breite Gewaltsituationen vorbereiten. Bei offenen, erkennbaren und „robusten“ Besatzungsregimen (Israel in Palästina) wird die Schwelle zu Gewalt relativ bald und leicht überschritten, in Fällen einer Militärstationierung unter Zustimmung einheimischer Regierungen oder von (Teilen) der Bevölkerung wird diese entweder nicht oder erst deutlich später erreicht. Dabei ist es natürlich bedeutsam, dass fremde Truppenpräsenz in einer Bevölkerung durchaus widersprüchlich eingeschätzt werden kann: selbst wenn eine Mehrheit die fremden Soldaten zustimmend oder eher gleichgültig betrachtet, kann eine Minderheit (politischer, religiöser oder ethnischer Art) sie durchaus als Besatzungsmacht bekämpfen – obwohl oder gerade weil die eigene, ungeliebte Regierung sie ins Land geholt hat.
Schließlich kann sich auch die Wahrnehmung fremder Truppen im Laufe der Zeit radikal ändern – entweder, weil sich diese offensiv oder gewalttätig verhalten, oder weil sich der politische Kontext geändert hat: wer zu einem Zeitpunkt gleichgültig oder als Befreier akzeptiert wurde, kann später durchaus als fremder Okkupant betrachtet werden und auch gewaltsamen Widerstand provozieren. Solche allgemeinen Betrachtungen haben sich im Fall der US-amerikanischen Truppen in Saudi Arabien bereits als relevant erwiesen – sie werden in absehbarer Zeit abgezogen und nach Katar verlegt – und dürften zukünftig in Ländern wie Afghanistan, Pakistan und dem Irak ins allgemeine Bewusstsein dringen.

Palästina als Schlüsselfaktor.
Der Palästinakonflikt nimmt bei der Frage politischer Gewalt durch Muslime eine Schlüsselstellung ein. Dies gilt innerhalb Palästinas (und Israels) selbst, aber auch im regionalen Zusammenhang.
Die israelische Besetzung palästinensischen Gebietes (Westbank und Gazastreifen) und die systematische Errichtung israelischer „Siedlungen“ (oft bis zur Größe von Städten) führen zu prinzipiell dagegen gerichtetem – auch gewaltsamem – Widerstand, der durch konkrete Praktiken der Besatzungstruppen, durch die zahlreichen, massiven Einschränkungen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebenschancen und das resultierende soziale Elend (z.B. aufgrund der häufigen Abriegelung der besetzen Gebiete) noch forciert wird. Dabei lassen sich sehr unterschiedliche Kategorien der Gewalt unterscheiden: etwa legale versus illegale Gewaltakte (völkerrechtlich legitimer bewaffneter Widerstand gegen Besatzungstruppen einerseits, Terrorismus gegen Zivilisten, etwa innerhalb Israels, andererseits), geplante und organisierte, paramilitärische Gewalt versus spontane, auch emotionale Gewalt (etwa geplante Angriffe gegen israelische Militärfahrzeuge auf der einen, Steine werfende Jugendliche auf der anderen Seite), Gewalt, die primär auf die Besatzer zielt versus Gewalt, die vor allem die eigene Bevölkerung oder die politische Konkurrenz beeinflussen soll.
Solche Formen politischer Gewalt entspringen nicht „dem Islam“, sondern der Situation fremder Besatzung. Je nach politischem Kontext können sie säkular (etwa in den siebziger Jahren) oder religiös begründet werden, wie heute oft der Fall. Sie resultieren teilweise aus politischem Kalkül, teilweise aus Gefühlen wie Wut oder Ohnmacht, sie können präzise gezielt oder eher beliebig, sie können den Gegner schädigen oder sich selbst nur psychologische Entlastung schaffen wollen. Aber sie entspringen alle – unabhängig davon, ob sie auch die Grenze zum Terrorismus überschreiten – der konkreten Situation der eigenen, von fremden Truppen besetzen Gesellschaft, den eigenen Erfahrungen und ihren Verarbeitungen.
Palästina ist aber zugleich nicht allein die Quelle lokaler, palästinensischer Gewalt (an der im Übrigen palästinensische Christen durchaus teilhaben), sondern auch ein Bezugspunkt von Gewalt in der gesamten Region, in verschiedenen arabischen Ländern oder gar über diese hinaus. Die Situation in Palästina emotionalisiert politische Aktivisten weit über die Westbank und Gaza hinaus, es symbolisiert – je nach Bedarf und politischer Präferenz – die Unterdrückung und Misshandlung von Arabern oder Muslimen. Die israelische Besetzung Palästinas und ihre zivilen Opfer symbolisieren eine dauerhafte, hoffnungslose arabische (oder eben: muslimische) Niederlage, eine Demütigung, die mit moralischen Kategorien (Gerechtigkeit, Würde, Selbstbestimmung) verknüpft wird. Palästina stellt die Verkörperung der eigenen Schwäche und Hilflosigkeit dar, der Wehrlosigkeit gegenüber fremden Unterdrückern, die weder arabisch noch muslimisch sind. Und Palästina symbolisiert zugleich den „Verrat“ der eigenen, arabischen oder muslimischen Regierungen, die ihre „Brüder und Schwestern“ alleinlassen und trotz aller leerer Rhetorik keine ernsthafte Hilfe leisten, sondern gar noch mit den Unterdrückern (oder ihren Unterstützern in den USA oder Europa) gemeinsame Sache machen.
So gewinnt der Palästinakonflikt eine mobilisierende Bedeutung für politische Handlungen und potentielle oder reale Gewaltakte gegen israelische, westliche und eigene Ziele (bzw. Ziele der eigenen Regierungen und Eliten), weit über Palästina selbst hinaus. Es lässt sich sogar beobachten, dass die emotionale Kraft des Symbols „Palästina“ mit der Entfernung noch zunimmt: so wird etwa in den weit entfernten Ländern Algerien oder Iran nicht selten noch militantere Rhetorik zu Israel und Palästina gepflegt, als Palästinenser dies selbst tun würden. Ein schlechtes Gewissen der eigenen Taten- und Hilflosigkeit ist hierbei zentral.
Schließlich dient der Palästinakonflikt auch dazu, das umfangreiche interne Konflikt- und Gewaltpotential politisch-psychologisch mit externen Fragen zu verknüpfen. Die soziale, wirtschaftliche und politische Frustration und Hoffnungslosigkeit etwa in Ägypten, die Verachtung oder der Hass auf das Königshaus in Saudi Arabien werden durch deren politische Verknüpfung mit der Palästinafrage internationalisiert: die eigenen Regierungen sind danach nicht allein unfähig, despotisch und korrupt, sondern auch noch „Lakaien“ derjenigen, die in Palästina die Demütigung der Araber (oder Muslime) unterstützen. So geraten die eigenen Regierungen nicht nur wegen ihres Scheiterns ins Visier, die eigenen Gesellschaften voranzubringen, sondern auch „moralisch“, als Kollaborateure fremder Dominanz, Besatzung und Verbrechen.
Zugleich wird „der Westen“ zum politischen Angriffsziel und Hassobjekt: vor allem die USA seien schließlich verantwortlich, dass Israel seit Jahrzehnten palästinensischen (arabischen, muslimischen) Boden besetzen und die dortige Bevölkerung misshandeln könne.

Der Westen als Feind.
Damit wird „der Westen“ zum Feind, vor allem die USA, aber auch die ehemaligen Kolonialmächte, und in manchen Diskursen der Westen insgesamt. Ihm wird aber nicht allein die Unterstützung Israels bei der Unterdrückung der Palästinenser und dem „Raub arabischen (muslimischen) Bodens“ vorgeworfen (Israel wird nicht selten als moderner westlicher „Kreuzfahrerstaat“ aufgefasst), sondern dies in einen weit zurückgreifenden historischen und politischen Kontext eingeordnet. Der westliche Kolonialismus und die dominante Politik Washingtons in der Region spielen eine beträchtliche Rolle, wie auch gelegentlich auf die Kreuzzüge des Mittelalters verwiesen wird. Letztlich aber wird das Verhältnis vieler Muslime zum Westen von einer Art Hassliebe bestimmt: eine enttäuschte Liebe, bei der sich Bewunderung über den Wohlstand, die Wissenschaft und den Fortschritt des Westens mit der Enttäuschung darüber mischt, von ihm nicht ernst genommen, sondern dominiert zu werden.

Zwischenbilanz.
Das Potential politischer Gewalt in muslimischen Ländern entspringt einer sozio-ökonomischen Dauerkrise in vielen Ländern, die zu Unzufriedenheit, Perspektivlosigkeit, Aggressivität und Hoffnungslosigkeit führt. Die sozialen Konfliktursachen verbinden sich mit politischen, die sich aus diktatorischen Verhältnissen, Inkompetenz, Korruption und fehlenden Partizipationsmöglichkeiten speisen. Die internen Gewaltursachen verbinden sich mit externen Faktoren, insbesondere der Erfahrung ausländischer, westlicher Intervention und Vorherrschaft. Beides wird über symbolträchtige Konflikte, insbesondere den Palästinakonflikt, miteinander verknüpft, die zugleich dem Westen und den eigenen Regierungen angelastet werden. Der Palästinakonflikt produziert zugleich direktes Gewaltpotential, wie auch die Legitimation und Moblilisierungsansätze in der gesamten Region.

Der islamische Faktor.
Das soziale und politische Konflikt- und Gewaltpotential in muslimischen Ländern besteht unabhängig von der lokalen Religiosität, unabhängig vom Islam, wie ja in anderen Weltregionen ähnliche Konfliktursachen ebenfalls zu Gewalt führen. Allerdings ist Gewalt keine einfache oder selbstverständliche Politikoption, sondern bedarf wegen ihres einschneidenden, in den meisten Gesellschaften und Kulturen ethisch unerwünschten oder verbotenen Charakters, und wegen der mit ihrer Ausübung verbundenen Gefahr besonderer Legitimierung. Politische Gewalt braucht besondere Rechtfertigung. Und wenn sie auf Verbreiterung und weitere Mobilisierung zielt – was häufig gerade ihre Absicht darstellt – dann gilt dies um so mehr.
An dieser Stelle kann Religiosität ihre besondere Bedeutung erhalten. Die Legitimierung politischer Gewalt enthält meist situative oder kontextabhängige Aspekte (z.B.: Rache), wird aber erst durch systematisierende Nutzung politischer Ideologien dauerhaft und breitenwirksam. Prinzipiell lassen sich verschiedene Ideologien zur Rechtfertigung politischer Gewalt nutzen, sowohl säkularer wie religiöser Art.
Im Westen waren dies häufig nationalistische, kommunistische, früher auch christlich religiöse Rechtfertigungen, inzwischen gibt es auch Fälle, in denen Gewaltanwendung und Krieg im Namen des Völkerrechts, der Demokratie und der Menschenrechte gerechtfertigt werden. Im Nahen und Mittleren Osten wurden ebenfalls nationalistische und sozialistisch/kommunistische Ideologien zur Rechtfertigung von Gewalt missbraucht. So erfolgten noch in den siebziger und achtziger Jahren die allermeisten Flugzeugentführungen, Attentate oder Bombenanschläge palästinensischer Gruppen mit rein säkularen Begründungen, etwa in einem Kontext des Arabischen Nationalismus oder des Marxismus-Leninismus. Mit der Niederlage der arabischen Länder im Sechs-Tage-Krieg 1967 und der Krise und dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren diese Ideologien allerdings gescheitert und kaum noch legitimativ nutzbar. Im Nahen und Mittleren Osten bestand seitdem ein ideologisches Vakuum, das mangels Alternative von verschiedenen Varianten des politischen Islam – des Islamismus – gefüllt wurde. Seitdem werden in der Region viele Diskurse zu politischen und sozialen Fragen in religiösen Kategorien geführt.

Exkurs: Welcher Islam?
Es wurde eingangs bereits darauf hingewiesen, dass „der Islam“ als Einheit trotz einer gemeinsamen textlichen Grundlage (Koran) in der gesellschaftlichen Realität eine Fiktion bleiben muss. Er ist zugleich Kultur, Tradition und Religion, und alle diese Bereiche sind extrem heterogen. Wenn wir hier einmal vom Aspekt unterschiedlicher Konfessionen (Sunniten, Schiiten, kleinere andere) absehen, dann sollten zumindest, unter dem Gesichtspunkt politischer Relevanz, drei Grundströmungen unterschieden werden.
• Der „orthodoxe“ Islam, vereinfacht gesprochen diejenigen Geistlichen und ihre Anhänger, die den Islam als fertiges Gedankengebäude betrachten, das es nur noch zu bewahren, verwalten und zu respektieren gelte. Diese Strömung ist politisch und intellektuell konservativ, Veränderungen gegenüber sehr zurückhaltend, zugleich aber relativ leicht an die jeweiligen Machthaber in ihren Gesellschaften zu binden.
• Der „Islamismus“ oder – vereinfacht gesprochen – politische Islam, der oft unter dem Deckmantel des Bewahrens oder eines „Zurück zu den Wurzeln“ ein offenes oder diskretes Reformpotential beinhaltet, das den Islam zu etwas modernerem entwickeln möchte, um ihn an neue Herausforderungen anzupassen. In dieser Gruppe finden sich positive Reformkräfte ebenso wie gefährliche politische Abenteurer, „Befreiungstheologen“ ebenso wie Klerikalfaschisten und Gewalttäter.
• Die „Volksreligiosität“, die sich immer und überall für „islamisch“ hält, aber von lokalen Traditionen, alten Vorurteilen, vorislamischem Gedankengut und pragmatischer Flexibilität gekennzeichnet sein kann. Diese Strömung ist ausgesprochen „untheologisch“ und oft von elementaren Kenntnissen der islamischen Theologie kaum berührt, dafür emotional mächtig. 
Diese drei politischen Pole befinden sich im dauerhaften Streit und Konkurrenz miteinander. Dieser wird kaum jemals theologisch entschieden oder zu entscheiden sein, sondern die Gewichte und ihr Verhältnis bestimmt sich nach der Relevanz in bestimmten gesellschaftlichen Situationen. Wenn die drei Strömungen im konkurrierenden Gleichgewicht verbleiben, ist „der Islam“ als politische Kraft von geringerer Bedeutung. Wenn aufgrund äußerer Einflüsse (eine chronische sozioökonomische Krise, militärische Bedrohung oder Besetzung, Unterdrückung „des Islam“ durch säkulare Diktaturen, etc.) deren Konkurrenz überwunden und ein Bündnis zwischen ihnen erzwungen wird, das sich gegen einen gemeinsamen Feind richtet – etwa die eigene Regierung oder fremde Besatzer – dann kann der politische Islam zu einem bedeutsamen und ggf. gefährlichen politischen Faktor werden, der auch beträchtliches Eskalationspotential enthält.

Schlüsselbeispiel: Politik und Religion bei Usama bin Ladin.
Usama bin Ladin und die internationale Terrororganisation Al-Qaida stellen ein besonders dramatisches Beispiel der Vermischung von Gewalt und Islam dar. In gewisser Hinsicht ist Al-Qaida höchst untypisch für gewaltbereite Gruppen von Muslimen. Das technologische Niveau, die internationale Vernetzung, der Planungshorizont, die Operationsweise und -Struktur und die Form ihrer Islaminterpretation unterscheiden die Organisation grundlegend von anderen, auch radikalen Gruppen in der Region. Trotzdem sind bestimmte Elemente des Begründungszusammenhangs und der Gewaltbegründung höchst illustrativ und typisch.
Betrachten wir etwa die berüchtigte fatwa (religiöses Rechtsgutachten), die Usama bin Ladin und eine Reihe von Extremisten aus Ägypten, Pakistan und Bangladesh im Februar 1998 veröffentlichten, dann ergibt sich kurzgefasst folgendes Bild.
Es werden drei substantielle Vorwürfe erhoben:
• Die Besetzung islamischer Länder, insbesondere „der heiligsten aller Orte, der Arabischen Halbinsel“, um deren „Reichtümer zu plündern, ihre Herrscher zu beherrschen“ („dictating to its rulers“), und zu anderen Zwecken durch die USA;
• Die Auswirkungen der US-Politik („the Crusader-Zionist alliance“), des Golfkriegs und das seitdem andauernde Embargo auf die irakische Zivilbevölkerung „mit mehr als 1 Million Toten“;
• Die „Besetzung Jerusalems und die Morde an Muslimen“ durch Israel, sowie die US-amerikanische Unterstützung.
Diese Aufzählung ist ein wichtiges Beispiel für die grenzüberschreitende Mobilisierungskraft symbolischer Regionalkonflikte, um ein unterschwellig vorhandenes Gewaltpotential aufgrund innergesellschaftlicher Konflikte durch die Identifikation mit Opfern fremder Ungerechtigkeit zu mobilisieren und zu fokussieren. Durch die (bezogen auf die externen Gewaltkonflikte) nicht direkt erlebte, sondern politisch vermittelte Erfahrung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit wird ein möglicherweise entstehender Terrorismus trotz seiner unvermeidlichen emotionalen Anteile tendenziell eher „unterkühlt“, berechnend, organisiert und planend erfolgen, wie das global operierende Netzwerk von Al-Qaida demonstriert. Moderne Zweckrationalität, moderne Infrastruktur und Verfahrensweisen und langfristige Vorbereitung von Anschlägen sind Selbstverständlichkeiten, ein entsprechender sozialer Hintergrund der Täter (z.B. Studium) Voraussetzung.
Die drei Zentralpunkte der Gewaltbegründung Usama bin Ladins sind im Kern säkular, wenn dies auch durch eine überladene religiöse Sprache verdeckt wird: die Präsenz von US-Soldaten in Saudi Arabien, die (1998) bestehende Sanktionspolitik gegen den Irak mit ihren dramatischen Folgen für die irakische Zivilbevölkerung und die israelische Besetzung palästinensischen Landes und Jerusalems sind zuerst einmal politische, keine religiösen Kritikpunkte. Der erste Satz der fatwa enthält bereits ein Koranzitat, das Gewalt rechtfertigen soll – um gleich im zweiten Satz die „Kreuzfahrer“ (die USA und ihr Militär) mit „Heuschrecken“ zu vergleichen, die in der Arabischen Halbinsel eingefallen sind. Ausgangspunkt ist also politische Kritik, die dann allerdings religiös eingebettet wird. Den Autoren solcher Aufrufe und ihrer Zielgruppe sind politische Argumente wichtig, aber nicht genug. Es kommt ihnen darauf an, ihre Kritik zu verobjektivieren, sie also nicht selbst, sondern im Namen einer höheren, gar höchsten Autorität zu formulieren: „All diese Verbrechen und Sünden der Amerikaner sind eine klare Kriegserklärung an Gott, seinen Boten (gemeint ist der Prophet Mohammed, JH) und die Muslime.“
Politische Konflikte werden so ideologisiert und religiös überhöht. Bestimmte Politik ist dann nicht nur falsch, sondern auch ein Bruch moralischer Prinzipien und – in einem dritten Schritt – ein Verstoß gegen den Willen und die Gebote Gottes, gegen Gott selbst. Das ändert nichts am politischen Kern der Kritik, aber es soll ihr besonderes Gewicht verleihen, sie aus dem Streit der Menschen in einen Konflikt zwischen Menschen und Gott transformieren und so letztlich der menschlichen Kritik entziehen. Wenn die Politik der USA und Israel wirklich eine „Kriegserklärung an Gott“ wäre, dann wären die „Verteidiger“ Gottes einer Kritik ihrer eigenen Politik und Gewalt weitgehend entzogen. Wenn die Gewalt der Frommen nur den Willen Gottes vollzöge – wie könnten Muslime diese Gewalt dann kritisieren, ohne selbst in Widerspruch zu Gott zu geraten?
Die religiöse Ideologisierung der eigenen politischen Praxis im Allgemeinen – und der eigenen Gewalt bis zum Terrorismus im Besonderen – soll diese der Kritik entziehen und zur moralischen Richtschnur für andere erheben.
Der Text der zitierten fatwa gipfelt in einem Aufruf zur Gewalt gegen die USA und alle jene, die sie unterstützen:
„Wir rufen – mit Gottes Hilfe – alle Muslime auf, die an Gott glauben und von ihm belohnt werden wollen, Gottes Gebot zu folgen und die Amerikaner zu töten und ihr Geld zu plündern, wo und wann immer sie es finden. Wir fordern alle muslimischen Geistlichen, Führer, Jugendlichen und Soldaten auf, den Angriff auf die satanischen US-Truppen und ihre teuflischen Unterstützer zu beginnen, die mit ihnen verbündet sind, und diejenigen zu stürzen, die hinter ihnen stehen, um ihnen eine Lektion zu erteilen.“

Islam als Motivations- und Mobilisierungskraft.
Der Islam spielt im Kontext der zahlreichen Konflikte und Gewaltpotentiale der Region eine wichtige Rolle. Allerdings stellt er nicht die Quelle der Gewalt dar, sondern kann die Artikulationsform politischer Kritik und die Legitimationsquelle von – auch gewaltsamem – Widerstand sein. Seine Bedeutung liegt also nicht darin, Ursache der Gewalt zu sein, sondern in seiner – und der jeder anderen Religion – Fähigkeit, kontextübergreifende Legitimationsmuster bereitzustellen, die große emotionale Überzeugungskraft besitzen, zugleich aber nur schwer zu entkräften sind: Gott kann sich schwer gegen seine Instrumentalisierung zu politischen Zwecken wehren. Die Rolle des Islam in unserem Zusammenhang besteht deshalb vor allem in der möglichen individuellen und kollektiven Motivation von Gewalttätern, die dann nicht allein für sich oder ihre Gruppe, sondern „für Gott“ kämpfen – mit entsprechenden, theologiespezifischen Formen der Exkulpierung oder Belohnung (etwa für „Märtyrer“). Sie besteht ebenfalls in ihrem – kontextabhängigen – Mobilisierungspotential, also in der Chance, eine breitere soziale und politische Basis für die eigene Politik und Gewalt zu erreichen, als wenn man diese rein pragmatisch begründen würde. In einer Gesellschaft, deren meisten Mitglieder entweder fromm sind oder so erscheinen möchten, kann „der Islam“ eine politische Integrationsfunktion übernehmen oder anderweitige Legitimationsmuster untergraben – wenn die soziale und politische Realität seine Argumentation untermauert oder plausibel erscheinen lässt. Losgelöst von den sozialen Realitäten ist „der Islam“ politisch nichts – als deren ideologischer Ausdruck, Zuspitzung und Interpretationsrahmen kann er zu einer bedeutenden Macht werden.
Der islamische Diskurs in der Politik vermag darüber hinaus – entsprechende Rahmenbedingungen wieder vorausgesetzt – nicht nur sinnstiftend zu wirken, gerade in verwirrenden und gespannten Situationen. Er kann unter Umständen zu einer gewünschten Polarisierung der gesellschaftlichen und politischen Debatte beitragen: es geht ja nicht mehr allein um die Lösung bestimmter Sachfragen (für die sehr unterschiedliche Lösungen denkbar sein mögen), sondern um eine Stellungnahme für oder gegen Gott und seine Gebote. Die Reduzierung der politischen Wahlmöglichkeiten auf gut und böse – auch in Washington mit Leidenschaft betrieben – ist ja das erklärte Ziel vieler gewaltbereiter Gruppen in muslimischen Ländern: auch Usama bin Ladin zielte mit seinem Terrorangriff vom September 2001 ja darauf, die (muslimische) Welt zur Wahl zwischen den Kräften des Teufels und des Islam zu zwingen – und dabei selbst letztere verkörpern zu wollen.

Fazit.
Das Verhältnis von Islam und Gewalt bezieht seine potentielle Sprengkraft aus den sozialen und politischen Verhältnissen der betroffenen Gesellschaften. Die politischen Konflikte werden in den letzten ein oder zwei Generationen mangels ideologischer Alternative häufig religiös formuliert, was ihnen zugleich größere Mobilisierungskraft verleihen kann und Aktivisten motiviert. Eine religiöse Rechtfertigung politischer Gewalt kann zugleich den Versuch beinhalten, sich vor Kritik zu schützen und eine politische Polarisierung zwischen Gut und Böse zu erreichen, bei der man selbst den Pol des Guten zu verkörpern beansprucht.
Ansätze zur Bekämpfung islamisch begründeter Gewalt sollten an den realen Konfliktursachen – etwa dem Palästinakonflikt – ansetzen und durch Angebote zum interkulturellen (nicht primär interreligiösen) Dialog ergänzt werden.

 

Quelle:
Jochen Hippler, Islam und Gewalt
in: Barbara Menke, Klaus Waldmann, Peter Wirtz (Hrsg.), Kulturelle Vielfalt – Diskurs um die Demokratie, Schwalbach 2006, S. 115-128


 

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