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Jochen Hippler / Özlem Ipiv

 

Herrschaft, Identitätsbildung und Instrumentalisierung -
Der Islam als Staatsgründungsideologie

 

Einleitung: Theoretische Vorbemerkungen

Die politische Rolle von Religion wird seit langem diskutiert, bleibt aber weiter wissenschaftlich und politisch umstritten. Und wenn es um den islamisch geprägten Kulturraum geht, zeichnen sich die Debatten durch eine besondere Heftigkeit aus. Gerade vor dem Hintergrund der Terroranschläge vom 11. September 2001 und dem "Krieg gegen den Terrorismus" hat sich diese politisch und emotional aufgeladen, was eine nüchterne Analyse nicht erleichtert. Die politische Bedeutung des Islam wird nicht selten vor allem auf die Frage einer Motivierung politischer Gewalt im Allgemeinen oder des islamistischen Terrorismus verengt, was ihrer Komplexität nicht gerecht wird. Weiter erschwert wird die Analyse auch dadurch, dass "Islam" nicht allein als Religion, als theologisches System begriffen werden kann, sondern dem Beobachter oft auch als kulturelle Traditionslinie, als persönliches Wertesystem oder als politische Ideologie gegenübertritt. Der Islam mag wie das Christentum und andere Religionen zwar im Kern auf das Verhältnis des Menschen zum Übernatürlichen, zu Gott zielen - aber das bedeutet nicht, dass er im Leben vieler Menschen nicht im gleichen oder höheren Maße auch andere, oft säkulare Bedeutung besitzt: etwa als Rechts- oder ethische Quelle der Organisation von Gesellschaften, als Ausdruck konservativer (oder progressiver) Gesinnung, als Bestandteil oder Kern der Identitätsbildung von Individuen oder Gruppen, oder als Leitlinie politischer Veränderung oder Beharrung. All dies mag mit dem Begriff "Islam" verknüpft sein, aber es zielt doch primär auf die Regelung der Verhältnisse zwischen Menschen, nicht denen des Menschen zu Gott. Auch wenn beides im Denken vieler Theologen miteinander verknüpft wird, so handelt es sich doch um zwei sehr unterschiedlicher Ebenen, die analytisch nicht vermischt werden sollten. Man muss nicht so weit gehen wie das klassische Werk von William Cantwell Smith, der den Begriff von "Religion" insgesamt für fragwürdig hält (Smith 1978, S. 50, 156) - aber seine strenge Unterscheidung zwischen der spirituellen Seite der Religion, die tatsächlich auf das Verhältnis des Individuums zum Übernatürlichen zielt, und andererseits dem, was er "akkumulierte Tradition" nennt, bleibt wertvoll: Letztere ist primär ein gesellschaftliches, kulturelles Phänomen, das von Menschen für Menschen innerhalb ihres sozialen Kontextes mit Bezug auf religiöse Diskurse zustande gebracht wird und das im wesentlichen kulturell und gesellschaftlich geprägt ist. Akkumulierte Tradition ist gesellschaftlichen, also menschlichen und nicht göttlichen Charakters.

Die nützliche Zweiteilung des Begriffes "Religion" durch Smith ignoriert allerdings einen wichtigen Aspekt. Sie vernachlässigt insbesondere die politische Rolle der Religion, die ja weder primär spirituell/Gottbezogen, noch bloße Tradition ist. Die politische Dimension von Religion bezieht sich auf gesellschaftliche Macht und die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Der spirituelle Aspekt von Religion mag mit der akkumulierten Tradition von Gesellschaften wie auch religiös inspirierter Politik verknüpft sein - aber er stellt den Kern und das Spezifische von Religion dar, während die beiden anderen Aspekte nicht religionsspezifisch sind: Sowohl Tradition wie Politik in Gesellschaften entspringen auch - und primär - aus nicht-religiösen Quellen. Religion mag hier Beiträge leisten, aber es handelt sich dabei um Beiträge zu eigentlich außerreligiösen, gesellschaftlichen Prozessen, nicht um das eigentliche religiöse "Kerngeschäft", nämlich das Verhältnis des Menschen zu Gott.

Azmi Bishara warnt deshalb davor, politische Religiosität mit Religion zu verwechseln oder daraus abzuleiten (vgl. Bishara 2002, S. 126), insbesondere vor dem Hintergrund religiös gefärbter Rhetorik. Denn die Sprache der Religion kann in allen Ländern, so auch in islamisch geprägten, sowohl dazu benutzt werden, die herrschende Ordnung zu stützen, als auch um sie zu untergraben (vgl. Stork 1994, S. 150). 

Wenngleich eine scharfe Trennung zwischen Religion und einem religiös gefärbten, ideologischen Vokabular zwar schwierig ist, so ist eine Religion, auch der Islam, vor allem, was ihre Anhänger an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit als religiös definieren und praktizieren (vgl. Krämer 1999, S. 25). Für eine Politisierung der Religion bedarf es also einer Akteursgruppe, die sie und ihre Botschaft auf eine bestimmte - politische - Art interpretieren, in ein passendes Ausdrucksmittel für politische Ansprüche umwandeln und so instrumentalisieren (vgl. Vatansever 2010, S.13).

 

„Islamisch“ versus „Islamistisch“

Deshalb tut ein differenzierter Umgang mit dem Verhältnis zwischen Religion (hier: dem Islam) und Politik Not. Insbesondere muss zwischen „islamisch“ und „islamistisch“ unterschieden werden. „Islamisch“ kennzeichnet einen Bezug zur Religion, evtl. auch zu einer durch diese geprägte akkumulierte Tradition. Demnach sind glaubensbezogene Riten wie das Gebet, das Fasten oder das Glaubensbekenntnis islamisch - aber auch Architektur und Kunst, die auf Glaubensgrundlagen bezogen sind, werden als islamisch bezeichnet.

Hingegen steht „islamistisch“ für moderne Bewegungen, die sich darum bemühen, eine Einheit zwischen Islam und Politik herzustellen, bzw. diese Einheit propagieren und umsetzen wollen. „Islamisten“, wie die Akteure dieser Bewegung genannt werden, vertreten eine bestimmte Interpretation der Religion und schließen andere Interpretationsvarianten aus. 

Der Begriff des „Islamismus“ wurde in den 1990er Jahren zunehmend in die Debatten eingeführt, teilweise, um den aufgeweichten Terminus „Fundamentalismus“ zu vermeiden, der prinzipiell auf den kompromisslosen Glauben an die wörtliche und nicht zu interpretierende Geltung einer heiligen Schrift fokussierte. Dieser verlor allerdings an analytischer Kraft, da er zunehmend auch auf alle politischen, radikalen oder extremistischen islamischen Gruppen angewandt wurde, selbst wenn sie dieser Kategorie nicht zuzuordnen waren. Darüber hinaus wurde er zunehmend als politisches Etikett zur Denunzierung missliebiger Gruppen und Strömungen benutzt.

Vor allem aber wurde der „Islamismus“-Begriff eingeführt, um Spielarten islamischen Radikalismus zu bezeichnen, die sich nicht durch besondere Buchstabengläubigkeit hervortaten und eher offen politisch agierten. Islamismus bezeichnet eine (islamisch gefärbte) politische Ideologie, nicht Religion.

Inzwischen allerdings hat die Popularisierung des „Islamismus“-Begriffs ebenfalls zu seiner Aufweichung und Entleerung geführt: Er ist zum Sammelbegriff für jegliche Art von religiöser Bewegung und Gesinnung geworden, die im westlichen Sinne vom „moderaten“ Islamverständnis abweichen und von konservativ orthodox bis hin zu gewaltbereit reichen kann, wodurch er analytisch oft eher verwirrt als erhellt (vgl. Bielefeldt 2008, S. 14). Der Begriff "Islamismus" sollte also möglichst präzise auf die Strömung des Politischen Islam bezogen werden, nicht auf alle radikalen muslimischen Strömungen. Andere Phänomene sollten entsprechend anders bezeichnet werden, beispielsweise als „salafistischer Fundamentalismus“, der sich vom Islamismus deutlich unterscheidet.

 

Varianten islamischer Religiosität

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen lassen sich islamische Strömungen - soweit sie politisch relevant sind und nicht allein auf Spiritualität und die Nähe zu Gott zielen - in folgende Kategorien einteilen (Hippler 2008, S.140f).

  • Ein "orthodoxer", konservativer Islam, der die religiösen Traditionen und Gebote ins Zentrum rückt und eigentlich politikfern ist. Wenn seine Anhänger diese Tendenz übersteigern, sich zum Teil literalistisch ausrichten (also etwa den Koran buchstabengläubig als unmittelbar, überhistorisch und nicht zu interpretierende, wörtlich gültige Wahrheit auffassen), kann diese Variante als "fundamentalistisch" bezeichnet werden (Salafismus, Wahabitentum, bestimmte Varianten des deobandischen Islam). Gerät diese Strömung in eine tatsächliche oder so wahrgenommene gesellschaftliche Defensive (gegenüber dem Staat, externen Akteuren oder anderen Religionen oder Konfessionen), dann ist die Herausbildung einer kämpferischen, entweder verbalradikalen oder tatsächlich militanten Strömung möglich.
  • Ein "Politischer Islam", der im Kern aus dem Projekt einer grundlegenden politischen Veränderung der Gesellschaft besteht. Die reine "Verwaltung" des Glaubens, auch die eigene Frömmigkeit sind dann nicht genug, er wird zur Ideologie des gesellschaftlichen Wandels, zum politischen Projekt. So trägt diese Variante des Islam paradoxer Weise den Keim der Säkularität in sich, auch wenn ihre Protagonisten das bestreiten werden: Dieser "Politische Islam" - den wir auch Islamismus nennen können - zieht Schlußfolgerungen aus den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, will daran teilhaben und ihnen eine andere Form geben (im Unterschied zur orthodoxen Strömung). Er ist also im Kern eine politische Bewegung, der Islam wird von einer Religion zu einer politischen Ideologie. Die Träger dieser Strömung sind in der Regel Teile der Mittelschichten, ihr Bildungsstand überdurchschnittlich.
  • Der "Volksislam", der zwar eine religiöse, aber keine eigentlich theologische Richtung darstellt und in eklektizistischer Weise lokale Traditionen, "Aberglauben", vorislamische Kultur- und Spiritualitätselemente, theologische Fragmente und allgemeine Moralvorstellungen zu sehr unterschiedlichen Mischungen zusammenfügt. Dieser Volksislam ist unsystematisch, eklektizistisch, verfügt oft über mystische Elemente und ist häufig pragmatisch veranlagt. Sowohl die orthodoxe als auch die islamistische Strömung erklären ihn in vielen Teilen zum "Aberglauben" und streben danach, ihn zu "islamisieren" und von seinen untheologischen Anteilen zu säubern.
  • Daneben lässt sich, im Anschluss an Olivier Roy (Roy 2006), ein zahlenmäßig winziger aber lautstarker "Neo-Fundamentalismus" nennen, der den Islam statt als sozial verankerte und in die Familie, den Stamm, die eigene Gesellschaft eingebettete Erscheinung (wie alle zuvor genannten Strömungen) vor allem als individuelles Handeln begreifen will. Oft wird er von sozial entwurzelten, isolierten und relativ gebildeten Angehörigen der Mittelschicht getragen und kann sich durch seine fehlende gesellschaftliche Einbettung besonders radikal und militant geben. Am häufigsten ist diese Richtung in Diasporasituationen, etwa bei einer Gruppe muslimischer Migranten in westlichen Ländern. Dieser Neo-Fundamentalismus ist (wie der Islamismus) ein spezielles Produkt der Moderne, da er (im häufigen Gegensatz zu diesem) auf der Individualisierung und Entfremdung der Subjekte gründet.

Es sollte deutlich geworden sein, dass "der Islam" als gesellschaftliche Realität nicht auf den Koran oder seine zentralen Lehraussagen reduziert werden darf, sondern dass er sich als gesellschaftliches Phänomen komplex, vielgestaltig und durchaus widersprüchlich darstellt. Zur Analyse seiner politischen Relevanz kommt es gerade darauf an, ihn nicht auf seinen eher übersichtlichen theologischen Charakter zu reduzieren, sondern ihn als Rahmen menschlicher Praxis wahrzunehmen, der sehr unterschiedliche gesellschaftliche und politische Verhaltensweisen erlaubt.

Nicht also das Studium seiner Glaubensquellen helfen zum Verständnis religiös-politischer Bewegungen weiter, sondern kontextuelle Rahmenbedingungen wie politische Entwicklung, historische Einordnung, gesellschaftliche Einflüsse und entscheidende Akteure. In diesem Sinne soll das Verhältnis von Islam und Politik - bzw. die "Instrumentalisierung" des Islam - am Beispiel seiner Nutzung im Rahmen zweier Projekte von Staatsgründung untersucht werden. Dabei werden die Beispiele Pakistans und der Türkei untersucht.

 

Religion als ideologische Ressource für Staatsgründung und Nation-Building

Staat und Islam in Pakistan

„Der Islam“ war in der pakistanischen Geschichte einer der wenigen potentiellen oder tatsächlichen Integrationselemente. Die Bürger des neuen Staates Pakistan (gegründet 1947) hatten wenig gemeinsam: die Heterogenität der Sprachen, Traditionen, gesellschaftlichen Beziehungen war und ist beträchtlich. Selbst das zur Nationalsprache erklärte Urdu wurde auf dem späteren Staatsgebiet vor der Staatsgründung fast nicht gesprochen – erst die aus Indien ins Land strömenden „Muhajir“ (Flüchtlinge; eine Gruppe, die später in den Großstädten der Provinz Sindh eine eigene ethnische Identität entwickeln würde) brachten die Sprache mit ins Land. Auch der Staatsgründer Jinnah beherrschte Urdu nicht gut genug, um die Unabhängigkeitsrede in der neuen Landessprache zu halten: Er bevorzugte Englisch. Deshalb übernahm „der Islam“ angesichts der großen Heterogenität des Landes die Funktion der Stiftung von Gemeinsamkeit – zumindest rhetorisch. Gaborieau formuliert pointiert: „In Pakistan, Islam is an indispensable ingredient of constitutional, institutional and political legitimacy” – was vor allem auf die Schwäche anderer, nationaler Legitimationsmechanismen zurückzuführen ist. Er fährt fort: „The legitimization process is produced by a series of compromises between a modernist elite and a variety of religious groups” (Gaborieau 2002, S. 44).

Wenn man auch sprachlich, kulturell und ökonomisch wenig gemeinsam hatte, was die blutig errungene Unabhängigkeit des bengalischsprachigen Ost-Pakistans als Bangla Desh 1971 und der bald danach beginnende Aufstand in Belutschistan deutlich unterstrichen, so waren doch im "Staat der Muslime" zumindest alle muslimisch – wenn man bereit war, die kleinen christlichen und hinduistischen Minderheiten zu übersehen. In diesem Sinne diente der Islam der Stiftung von Gemeinsamkeit in einer höchst vielfältigen und widersprüchlichen Gesellschaft, was aber nur auf Kosten der Ausgrenzung Anderer gelang: Nicht allein die erwähnten nicht-muslimischen Gruppen wurden so zu Fremdkörpern, sondern es konnte auch leicht zum Streit darüber kommen, was genau einen „Muslim“ denn wirklich ausmachte und wer tatsächlich dazugehörte. Die Ahmadis (eine im 19. Jahrhundert entstandene Glaubensrichtung) bekamen das immer wieder zu spüren. In den 1970er Jahren– in der Zeit des säkularen Ministerpräsidenten Zulfiqar Ali Bhutto - wurden sie sogar vom Parlament zu „Nichtmuslimen“ erklärt. Darüber hinaus erfolgte die Integrationsfunktion des Islam nach Innen in Kombination mit der Grenzziehung nach außen, indem man ideologisch dem „islamischen“ Pakistan ein „hinduistisches“ Indien entgegenstellte und die Feindschaft zu Indien lange als Teil der Staatsraison betrachtete. Auf diese Art kam es auch zu einer Fusion des Islam mit einem neu entstehenden, pakistanischen Nationalismus, wobei beide Elemente kaum noch zu trennen waren. Die „Ideology of Pakistan“ (Iqbal 2005) bezog sich rhetorisch oft und gern auf den Staatsgründer Jinnah, bestand im Kern aber vor allem aus dieser Mischung von Islam und Nationalismus, die sich vor allem vom Hinduismus und von Indien abzugrenzen dachte, um so die Gründung und den Fortbestand des eigenen Staates – und die Macht der dortigen Eliten – zu legitimieren.  Bereits hier ist festzuhalten, dass nicht der Islam als solcher politisch relevant war, sondern als Kernelement einer nationalistischen Ideologie, die Staat und Staatsgründung legitimierte. Dies impliziert auch das schon klassische Spannungsverhältnis zwischen den politischen Eliten und den Vertretern eines traditionellen wie politischen Islam: Der aus der fragilen Legitimationsbasis und dem gesellschaftlich elitären Charakter der neuen, staatlichen Herrschaft resultierenden Notwendigkeit, die Religion zugleich legitimierend und integrierend in Dienst nehmen zu wollen (oder mangels Alternative gar zu müssen) musste den Theologen, Predigern und religiösen Parteien die Tür zur ideologischen Einflussnahme öffnen, während die sehr überwiegend säkularen gesellschaftlichen und politischen Eliten zugleich kein Interesse daran haben konnte, diese Gruppen zu einer realen Machtalternative heranwachsen zu lassen (vgl. Hippler 2008, S. 54-56).

Daneben bestand beim Versuch, den Islam zur nationalen Integration des ethnisch fragmentierten Landes zu nutzen, ein weiteres Problem. Eine Voraussetzung der Integration der Gesellschaft durch die islamische Gemeinsamkeit (die dann „national“ gedeutet wurde) lag darin, dass „der Islam“ vage und unbestimmt bleiben musste. Anders ausgedrückt: „Der Islam“ stellte und stellt nur so lang eine Gemeinsamkeit fast aller Staatsbürger dar, solange er nicht näher bestimmt wird. Sunniten und Schiiten, Deobandi und Barelvi, Ismailiten und Ahmadis mögen alle Muslime sein, ihre Auffassung vom Islam ist allerdings unterschiedlich. Es ist keine Seltenheit, dass etwa sunnitische Muslime der deobandischen Richtung Schiiten pauschal zu Ketzern und zu Nicht-Muslimen erklären. Dazu kommen natürlich unterschiedliche Auffassungen innerhalb dieser Gruppen.

Der Islam vermochte die verschiedenen Bevölkerungsgruppen (minus Christen und Hindus) nur solange zusammenzuführen und eine gemeinsame Identität zu gewährleisten, wie er aus den konfessionellen Unterschieden und theologischen Meinungsverschiedenheiten herausgehalten werden konnte. Der Islam als abstrakte Gemeinsamkeit vermochte zu integrieren – aber in seinen konkreten, konfessionellen oder politisierten Ausgestaltungen trug er den Keim der Fragmentierung und sogar ein gewisses Gewaltpotential in sich, wie die blutige Konfrontation sunnitischer und schiitischer Gruppen seit Mitte der 1980er Jahre unterstrich. Das wird u.a. an der Diskussion um die Sharia deutlich: Einerseits markiert sie einen religiös fundierten Gegensatz zur – gerade im Rechtswesen – schlecht funktionierenden säkularen Staatlichkeit. Sharia als prinzipiell göttliches Recht kann die Konnotation tragen, als solches auch den gesellschaftlichen und politischen Eliten übergeordnet zu sein und deshalb deren Rechtsbeugungen, Rechtsbrüchen, Manipulationen und damit ihrer Willkür eine Grenze zu setzen. So würden in Pakistan auch viele säkulare Bürgerinnen und Bürger prinzipiell einer Geltung der Sharia zustimmen – sich allerdings massiv gegen deren Deutung durch religiöse Extremisten widersetzen. Sobald es darum geht, was genau Sharia tatsächlich beinhaltet, brechen die Gegensätze innerhalb der muslimischen Gemeinschaft und der pakistanischen Gesellschaft auf. Auch die konfessionellen Differenzen führen immer wieder dazu, dass die meisten religiösen Kräfte (und sogar viele säkulare) die Geltung der Sharia befürworten – aber sich kaum darauf einigen können, was dies konkret bedeuten sollte.

Auf dieses Dilemma, dass ein abstraktes, vages Verständnis vom Islam gesellschaftlich zu integrieren vermag, seine konfessionellen und andere Differenzen allerdings trennend und gar fragmentierend wirken können, reagierte die pakistanische Politik – und insbesondere staatliche Funktionsträger – in der Regel auf zweierlei Art: Einmal naheliegender Weise mit der Tendenz, den Islam rhetorisch zu überhöhen und nur abstrakt zu beschwören, ohne sich aber zu sehr auf Debatten über den konfessionell „richtigen“ islamischen Weg einzulassen.  Dies impliziert eine oft opportunistische Instrumentalisierung religiöser Sprache zu politischen, auch säkularen Zwecken (Machterhalt, Legitimation). Auf diese Weise wird der Islam quasi ent-theologisiert sowie ent-spiritualisiert und ist nicht länger nur Religion und Tradition, sondern zugleich ein Set von rhetorischen Beschwörungsformeln zur Verfolgung säkularer Politikziele. Zweitens erwuchs aus dem Bedürfnis der Schaffung einer gemeinsamen Identität angesichts der gesellschaftlichen Heterogenität das erwähnte Bedürfnis, den Islam durch Abgrenzung gegenüber einem gemeinsamen äußeren Gegner (das „hinduistische“ Indien; später, allerdings wesentlich schwieriger und widersprüchlicher, auch „der christliche/dekadente/atheistische/antimuslimische Westen“) zu bestimmen.

 

Türkei – Die Religion im Dienste des Laizismus

Auch während der Staatsgründungsphase der türkischen Republik spielte der Islam eine gewichtige Rolle, obgleich man sich den Islam im Gegensatz zu Pakistan eben nicht auf die Fahne schreiben wollte. Das Verhältnis von Staat und Religion ist daher eine Ambivalente und durchläuft seit der Republikgründung unterschiedliche Entwicklungsphasen.

Deren erste bestand in der nachdrücklichen Schwächung der Religion in der türkischen Gesellschaft und Politik und ihre gleichzeitige Indienststellung durch den Staatsapparat. Als die türkische Republik 1923, nachdem das Osmanische Reich zerfallen war, von Mustafa Kemal Pascha, der später den Beinamen Atatürk – Vater der Türken – erhielt, wurde sie  zunächst von den Kolonialmächten befreit und dann nach westlichen Staatsmodellen gegründet. Das Ziel der neuen Regierung war die Zurückdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben zugunsten eines auf nationalistischem Gedankengut beruhenden homogenen Staates. Dies sollte durch eine konsequente Säkularisierung und Verwestlichung erfolgen und sich an den Leitprinzipien „republikanisch, nationalistisch, etatistisch, laizistisch und revolutionär“ – die Prinzipien des Kemalismus – orientieren. Die Religion galt eher als fortschrittshemmend und rückschrittlich, so dass der Islam 1928 schließlich als Staatsreligion abgeschafft und das Prinzip des Laizismus nach französischem Modell 1937 in die Verfassung aufgenommen wurde (vgl. Steinbach 2002, S.4). Radikale, zentralistisch angeordnete Maßnahmen wie unter anderem die Schließung religiöser Bildungseinrichtungen, die nahezu vollkommene Einstellung des Religionsunterrichts an Schulen sowie die Schließung muslimischer Orden, die noch zu Zeiten des Osmanischen Reiches weit verbreitet waren und als Teil des Volksislam bezeichnet werden können, sollten den gesellschaftlichen Wandel einleiten. Zudem wurde das Tragen religiöser Kleidung vor allem für Männer verboten und an Stelle der arabischen trat die lateinische Schrift, was eine Abkehr von den arabischen Einflüssen und die Einleitung einer eigenen türkischen Identität unterstrich (vgl. Seufert 2004, S. 11ff).

Die zentralistischen Neuerungen blieben nicht ohne Widerstand. Insbesondere Anhänger der religiösen Orden, die überwiegend in Zentral- und Ostanatolien ansässig waren, formierten sich zum Wiederstand gegen die Regierung in Ankara. 1925 kam es unter Führung Scheich Saids, der dem Naqshbandiya-Orden angehörte, zu einem Aufstand mit dem Ziel den Laizismus zu beseitigen, die kulturelle Autonomie der einzelnen Regionen sowie die Einheit von Religion und Politik wie unter der Herrschaft der Osmanen wiederherzustellen. Der Aufstand wurde von Atatürk brutal niedergeschlagen (vgl. Schweizer 2008, S. 225). Wenngleich die Orden ihre Aktivitäten im Untergrund weiterführen mussten,  verloren sie nicht an Bedeutung in der Bevölkerung, was unter anderem an ihrer erneuten Erstarkung im Laufe der Republikgeschichte deutlich wird, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden kann.

Dem Antagonismus zwischen der Regierungselite und der eher traditionell-religiös orientierten Bevölkerung, der die Neuerungen befremdlich anmuteten, versuchte die Regierung mit einer kontrollierten Integration der Religion in das neue Staatssystem entgegenzuwirken. Um das religiöse Vakuum, das durch die Abschaffung des Sultanats entstanden war, zu schließen, gründete die Regierung 1928 das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet Işleri Bakanlɪğɪ) und leitete somit die Verwaltung der Religion durch eine Staatsbehörde ein (vgl. Karagöz 1976, S. 3). Nun mehr stand der Islam in der Türkei im Dienste des Staates und hier insbesondere im Dienste des Nation-Building (vgl. Kramer 2011, S. 20). Ihre gewichtige Rolle in diesem Prozess wurde in der Verfassung festgehalten: Die Behörde ist demnach einerseits „dem Laizismus-Prinzip verpflichtet“ und dient andererseits dem nationalen Zusammenwachsen. Das bedeutet vor allem, dass die Behörde einen „türkischen Islam“ vertritt und somit zur Türkisierung der Nation beitragen soll. Dies erfüllt sie, indem die laizistische und zugleich sunnitisch-türkische Religionsinterpretation des Staates durch die Behörde in die Bevölkerung getragen wird, da sich der Staat durch die Schaffung der Behörde das absolute Monopol zur Ausübung der Religion zu eigen gemacht hat. Sie besitzt nicht nur jegliche Grundstücksrechte von Moscheen in der Türkei, sondern ist als einzige Institution dazu befugt Imame auszubilden und mithin die religiösen Lehrinhalte zu bestimmen und zu formen. So musste die Freitagspredigt bis 1941 in allen Gebieten der Türkei, auch dort wo hauptsächlich kurdisch oder arabisch gesprochen wurde, auf Türkisch abgehalten werden und die Inhalte wurden zentral von der Behörde vorgegeben und landesweit verbreitet (vgl. Kramer 2011, S. 21). Nach Atatürks Verständnis beruhte die Idee des Nationalismus vor allem in der Bekenntnis zur türkischen Sprache, Kultur und zur Republik und ihren Grundlagen. Dem staatsbürgerlichem Nationsverständnis wurde ein kulturelles hinzugefügt und so eine Homogenisierung erzeugt (vgl. Kramer 2011, S. 12).

Günther Seufert charakterisiert das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten zusammen mit dem Ministerium für Nationalerziehung als die zentralen Institutionen, die zur Durchsetzung des türkischen Laizismus dienen (vgl. Seufert 2004, S. 17f).Von einer strikten Trennung von Staat und Religion kann also gerade nicht die Rede sein. Der türkische Laizismus zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass der Staat beansprucht, die Religion ideologisch zu prägen und zu kontrollieren. Ihre Ausübung wird bürokratisiert und für staatliche Zwecke instrumentalisiert. Politik und Religion wurden in diesem Kontext also nicht getrennt, sondern die Religion dem Staat und seinem Nation-Building Projekt untergeordnet und von ihm in Dienst gestellt. Damit wurde dem Islam die Möglichkeit genommen, zum ideologischen Kern eines Widerstandes gegen den Kemalismus und sein Modernisierungsprojekt zu werden.

Im Zuge einer Ablösung des Ein-Parteiensystems durch ein Mehrparteiensystem 1950, erfolgte eine gewisse religiöse „Öffnung“, zumal die Parteien nun auf Wahlstimmen in der Bevölkerung angewiesen waren. Unter anderem wurde der 1932 verbotene und durch eine türkische Version ersetzte arabische Gebetsruf wieder erlaubt sowie der Ausbau staatlicher religiöser Bildung vorangetrieben (vgl. Seufert 2004, S. 15). Zu dieser Zeit formierten sich erstmals islamistische Parteien, unter anderem die erste von Necmettin Erbakan gegründete Partei, die, sowie weitere Nachfolgeparteien, aufgrund ihrer anti-laizistischen Forderungen einem Parteiverbot unterlagen; der Staat begrenzte also nach wie vor den politischen Handlungsspielraum. So putschte das Militär dreimal gegen zivile Regierungen (1960, 1971, 1980), sobald sie den Erhalt der nationalen Einheit durch islamistische Parteien oder linke Bewegungen für „bedroht“ hielt (vgl. Karakas 2010, S.3).

Nach dem dritten und bisher letztem Putsch im Jahre 1980 führte die Militärregierung eine Neuausrichtung der nationalen Bildungspolitik mit dem Ziel durch, den Islam stärker als bisher in das Nation-Building Konzept einzubauen und insbesondere die Jugend an den Staat zu binden. Dies richtete sich vor allem gegen rechte und linke säkulare Gruppen, die vor dem Putsch für politische Instabilität gesorgt hatten. Die Bildungspolitik war von nun an durch eine Synthese von autoritären, ethnisch-türkischen und islamischen Ansätzen geprägt. So verdreifachte man die Zahl der theologischen Hochschulen und verdoppelte die Zahl der offiziellen Koranschulen von 2160 auf 4890, ordnete den sunnitischen Religionsunterricht für alle Schüler, gleich welcher Konfession sie angehörten, an und gab den muslimischen Orden größeren Handlungsspielraum. Der Islam sollte erneut staatlich monopolisiert werden, um so Aktivitäten religiös orientierter gesellschaftlicher Bewegungen, die sich gegen den Staat richteten, zu unterbinden. Das Konzept der Militärregierung, den Islam durch das neue Konzept zu instrumentalisieren, ging jedoch nicht auf und mündete letztlich darin, dass die mittlerweile dritte Partei unter Necmettin Erbakan 1996 ihren größten Wahlsieg feierte und mit ihr erstmals eine Partei die Regierung stellte, die die Herstellung einer Einheit von Islam und Staat propagierte. Das Militär sah sich gezwungen seinen Kurs zurückzunehmen und zwang auch diese Regierung nach nur einem Jahr Regierungszeit zum Rücktritt. Die Säkularisierungspolitik wurde erneut verschärft, indem unter anderen islamischen Bewegungen wie die Gülen-Bewegung, zur „Bedrohung der Republik“ erklärt wurden, obwohl sie zuvor noch staatliche Unterstützung genossen (vgl. Seufert 2004, S. 15f).

Eine neue Phase ist mit der Gründung der „Adalet ve Kalkinma Partisi“ (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, AKP) im Jahre 2001 und ihrem anschließendem Wahlerfolg eingetreten. Sie stellt mit Recep Tayyip Erdogan als Vorsitzenden seit drei Wahlperioden die Regierung der Türkei. Erdogan und seine Führungsriege bekennen sich offen zu ihren islamischen Wurzeln, zielen aber im Gegensatz zu vorherigen islamisch orientierten Parteien, nicht auf eine Abschaffung des laizistischen Systems, sondern auf seine Reformierung durch eine allmähliche Entbürokratisierung der Religion (vgl. Öztürk 2009, S. 12). Die Partei thematisiert offen das Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei und versucht einen gewissen religiösen Pluralismus zu etablieren, indem der Dialog unter anderem mit den Orthodoxen Christen im Land gesucht wird, die in gleicher Weise von der Monopolstellung des sunnitischen Islam betroffen sind, wie schiitische oder alevitische Glaubensgruppen. Von einem gänzlichen Kurswechsel kann aber noch lange nicht die Rede sein, weiß die Partei doch um die besondere Rolle und Machtfunktion der Behörde, die nun unter ihrer Kontrolle steht und somit im Dienste ihrer eigenen Religionsinterpretation (vgl. Seufert 2004, S. 24).

In der Türkei bewegt sich das Verhältnis von Religion und Staat seit seiner Gründung also in einem Spannungsfeld zwischen gleichzeitiger Zurückdrängung, Kontrolle und Instrumentalisierung des Islam zu Zwecken der Modernisierung und Verwestlichung der Gesellschaft. Wenngleich durch die Regierungsübernahme der AKP in jüngster Zeit ein Wandel der Beziehung zwischen Staat und Religion forciert wird, steht durch die Institution der Religionsbehörde die Kontrolle über den Islam nach wie vor in den Händen des Staates, die diese wiederum zur Verbreitung seiner jeweiligen Islaminterpretation nutzt.

 

Die politische Instrumentalisierung des Islam

Die beiden Beispiele einer politischen Nutzung des Islam in den Staatsbildungsprozessen Pakistans und der Türkei sind keine Einzelfälle. Auch in anderen Kontexten lassen sich solche Versuche immer wieder beobachten. So hat eine politische Aufladung des Islam seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder eine Rolle beim Kampf gegen fremde Kolonialmächte oder Besatzer gespielt – der in Nordindien entstandene Deobandische Islam beispielsweise, der heute in Pakistan und Afghanistan zum Teil jihadistische Formen angenommen hat, richtete sich ursprünglich vor allem gegen die britische Kolonialmacht. Ihm ging es dabei auch darum die eigene Gesellschaft von fremden –europäischen - ideologischen Einflüssen zu säubern und eine Besinnung der unterworfenen Muslime auf sich selbst zu fördern. Heute hat er sich oft mit nationalistischen Diskursen vermengt, insbesondere bei pakistanischen Paschtunen. Die religiösen und ethnisch-nationalen Dimensionen sind häufig kaum noch zu trennen. Ähnliche Prozesse kann man bei der veränderten Rolle des Islam im Kaukasus (etwa in Tschetschenien) beobachten, wo der Islam z.T. zur Ideologie eines nationalen Befreiungskampfes wurde, oder in Palästina unter der israelischen Besatzung. Ähnlich verknüpft die Ideologie der Hisbollah im Libanon konfessionelle (also religiöse), nationale und sozialemanzipative Aspekte, die erst gemeinsam ihre politische Sprengkraft entwickeln.

In anderen Kontexten läßt sich nicht nur die Nutzung von Religion und Religiosität durch primär religiöse Gruppen, sondern auch durch säkulare Akteure unterschiedlichster Art oder durch solche anderer Religionszugehörigkeit beobachten. Während des Kalten Krieges bemühten sich die USA darum, südlich der Sowjetunion einen Gürtel islamischer Länder gegen diese zu organisieren, da man den Islam vor allem als konservative Ideologie begriff, die sich gegen die „atheistische Sowjetunion“ politisch nutzen ließ. Der säkulare damalige ägyptische Präsident Sadat bediente sich in den 1970er Jahren islamischer – auch radikaler - Strömungen, um die ebenfalls säkularen Anhänger seines Vorgängers Nasser politisch zurückzudrängen.

Israel unterstützte zumindest bis in die späten 1980er Jahre die palästinensische Hamas bzw. der Vorläuferorganisationen, um ein Gegengewicht gegen die „gefährlichere“ PLO zu schaffen. Und die US-Regierung förderte, bewaffnete und finanzierte in den 1980er Jahren gemeinsam mit Saudi Arabien örtliche und arabische islamische Extremisten in Afghanistan, um die dortigen sowjetischen Besatzungstruppen indirekt zu bekämpfen.

Die letzten drei Fälle zeichnen sich dadurch aus, daß sie taktisch durchaus erfolgreich waren, indem etwa die PLO und die Nasseristen geschwächt und die Sowjetunion zum Abzug aus Afghanistan gezwungen wurden. Strategisch allerdings erwies sich dieses Spiel mit dem Feuer als schädlich: Sadat wurde nicht zufällig von einem religiösen Extremisten erschossen, die Hamas wurde später aus israelischer Sicht als weit gefährlicher und weniger kooperationsbereit betrachtet als die PLO, und die arabischen und afghanischen Jihadisten betrieben nach dem Abzug der Sowjetunion eine radikal anti-westliche Politik, die in den Terroranschlägen des 11. September 2001 und der Bekämpfung der NATO-Truppen in Afghanistan mündete. Ähnliches gilt für die Politik der säkularen pakistanischen Regierungen und des Militärs, islamische Extremistengruppen im eigenen Land zu fördern und zu nutzen, um Indien in Kaschmir militärisch unter Druck zu setzen. Zuvor hatte man bereits afghanische Jihadisten unterstützt und organisiert, um in Afghanistan Fuß zu fassen: Zuerst die Mudjaheddin, danach die Taliban. Bemerkenswert daran war insbesondere, daß diese Förderung religiöser Extremisten nicht aus Gründen der ideologischen Nähe, sondern des politischen Opportunismus erfolgte: Sie war von Zulfiqar Ali Bhutto bereits in den frühen 1970er Jahren begonnen und später von seiner Tochter Benazir Bhutto in Bezug auf die Taliban fortgesetzt worden.

In gewissem Sinnen läßt sich an solchen Fällen eine doppelte Instrumentalisierung von Religion beobachten: Einmal die motivierende, mobilisierende und organisatorische Nutzung des Islam uns religiöser Netzwerke durch lokale Akteure zu politischen Zwecken, auch wenn diese zumindest zum Teil eher vom Streben nach Macht und Ressourcen angetrieben werden. Zweitens handelt es sich um eine Sekundärinstrumentalisierung durch säkulare oder gar ausländische Akteure, die eine eigene politische Agenda verfolgen, und lokale religiöse oder extremistische Gruppen für eigene Zwecke instrumentalisieren. Hierbei kann es aus taktischen Gründen zur engen Zusammenarbeit von Akteuren kommen, die kaum mehr gemeinsam haben, als einen gemeinsamen Gegner.

 

Fazit

Die Untersuchung der politischen Bedeutung und Funktion von Religion darf den religiösen Charakter von Religion - also seine spirituellen Aspekte - nicht außer Acht lassen, auch wenn dies nicht das Thema dieses Beitrags war. Umgekehrt allerdings darf das Verhältnis von Religion und Politik nicht theologisiert werden, als fände Religion außerhalb von Gesellschaft statt. Oben haben wir an zwei Beispielen untersucht, welche politischen Funktionen der Islam in den beiden Staats- und Nation-Building Prozessen in Pakistan und der Türkei übernahm.

Trotz unterschiedlicher historischer und gesellschaftlicher Ausgangsbedingungen, zeigen sich doch Ähnlichkeiten im Umgang mit dem Islam. Im Falle von Pakistan wurde der Islam dazu instrumentalisiert durch eine eher vage Islamdefinition nach innen eine Gemeinsamkeit in der heterogenen Gesellschaft zu stiften und sich nach außen hin klar abzugrenzen. In der Türkei wurde indes ein eher enges Islamverständnis gewählt und in den Dienst des Staates gestellt, um seinerseits eine nationalistisch-religiöse Identität zu schaffen. In beiden Fällen diente nicht der Staat dem Islam, sondern umgekehrt nutzte der Staat den Islam. Dies bestätigt die anfangs formulierte These, dass die Religion zu ihrer politischen Wirksamkeit Akteursgruppen bedarf, die die Religion für ihre politischen Zwecke interpretieren und nutzen. Letztlich geht es in beiden Fällen um die Erlangung, Sicherung und Legitimation von Macht und die Umstrukturierung der jeweiligen Gesellschaften im Sinne der politischen Projekte ihrer Staatsgründer.

Dadurch ergibt sich ein Bild, das Hinweise auf die Instrumentalisierung von Religion zu politischen Zwecken gibt. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass dieses Bild unvollständig bleibt: Im Rahmen unserer Beispiele konnte die Wirkung religiösen Denkens auf den politischen Prozess nur punktuell angedeutet, aber nicht systematisch behandelt werden. Auch die Rolle religiöser Organisationen als politische Akteure ist an anderer Stelle behandelt worden (vgl. Hippler 2008, S. 234ff), da dies den Rahmen des vorliegenden Beitrags übersteigen würde. Hier können nur einige allgemeine Überlegungen nachgetragen werden:

Die Schnittstelle zwischen Religion und Politik ist keine notwendige, die sich aus der Beziehung des Individuums zum Übernatürlichen direkt ergäbe, wie zahlreiche "unpolitischen " Formen von Religiosität im Islam und anderen Religionen belegen. Sie resultiert aus zwei gesellschaftlichen Faktoren: Einmal produziert Religion als gesellschaftliches - und eben nicht allein individuell-spirituelles Phänomen - Netzwerke, Loyalitäten und Organisationen. Solche Organisationen mit ihren erforderlichen ökonomischen Voraussetzungen (historisch meist Landbesitz, heute auch andere Einnahmequellen) sind automatisch Machtfaktoren, unabhängig von ihrem ideologischen oder spirituellen Kontext. Durch ihre bloße Existenz können sie nicht anders, als direkt oder indirekt mit anderen Machtakteuren zu interagieren - ein anderer Begriff für "Politik". Zweitens ist Religion auf unterschiedliche Weise aber unvermeidlich eine Quelle von Legitimation - und damit einer bedeutsamen gesellschaftlichen Machtressource. Das ist der Grund, warum der Islam im Rahmen der oben behandelten Staatsbildungsprojekte überhaupt zu einer nützlichen Ressource werden konnte. Durch die bloße Möglichkeit, anderen gesellschaftlichen Akteuren Legitimität zugestehen oder verweigern zu können, sind religiöse Organisationen unvermeidbar selbst Machtakteure, also politische Akteure - die einmal in den Dienst von Staatsbildung gestellt werden sollten, im anderen Beispiel an den Rand gedrängt werden mussten. Anders ausgedrückt: Die politische Rolle von Religion entspringt soziologischen und nicht theologischen Faktoren, nämlich aus ihrer Konstituierung in legitimitätsproduzierenden Organisationen.

Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass auch religiöse Organisationen nicht im luftleeren Raum existieren, sondern in Gesellschaften, die in unterschiedlichem Maße von Machtungleichgewichten, Problemen, Ungerechtigkeiten und Konflikten gekennzeichnet sind. Dadurch werden häufig von außen Anforderungen an religiöse Akteure gestellt (z.B. den Armen zu helfen, den Status Quo zu verteidigen, etc.) denen nicht immer einfach auszuweichen ist, ohne selbst an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Zugleich sind auch die Anhänger einer Religion oder Konfession (also die soziale Basis religiöser Organisationen) nicht nur religiös, sondern auch (oder vor allem) Bürger und wirtschaftliche Subjekte, die über Interessen und Bedürfnisse verfügen, die aus den gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren. Deshalb wäre es überraschend, wenn sie diese Interessen nicht wahrnehmen - und sich dabei auch der ideologischen und organisatorischen Ressourcen ihrer gemeinsamen Religiosität bedienen würden.

Insgesamt sollte der Islam also nicht nur als theologisches System oder spirituelles Verhalten betrachtet werden, sondern zugleich auch als soziologisches Phänomen. Er beinhaltet Kulturmuster und Traditionslinien und erfüllt politische Funktionen. Dies gilt nicht, weil manche islamistischen Ideologen eine Einheit von Politik und Religion, bzw. von Religion und Staat proklamieren, sondern weil in Gesellschaften in Umbruchs- und Krisensituationen - wie auch bei Nation-Building Prozessen - die Religion und ihrer Akteure sich kaum aus politischen Auseinandersetzungen heraushalten können, ohne irrelevant zu werden, und weil die Versuchung, das Machtpotential von Religion politisch zu nutzen, fast unwiderstehlich ist. In einem gewissen Sinne könnte man hier von einer Instrumentalisierung von Religion zu politischen Zwecken sprechen. Allerdings ist dabei Vorsicht am Platze. Der Begriff "Instrumentalisierung" sollte hier nicht so verstanden werden, als würde er immer einen bewussten Ge- oder Missbrauch in taktischer Absicht bedeuten. So etwas kommt selbstverständlich immer wieder vor, in islamisch geprägten Gesellschaften ebenso wie in eher säkular oder christlich geprägten Ländern wie den USA oder in Europa. Aber darüber hinaus können persönliche Religiosität und organisierte Religion auch politische Funktionen erfüllen, ohne dass dies unbedingt von den Akteuren gezielt so betrieben oder gewollt wird: Wer seine Religiosität als Antrieb und Motivationsfaktor für politische Veränderung oder zum Widerstand gegen ein empfundenes Übel (Diktatur, Ungerechtigkeit, Besatzung, etc.) empfindet, der "nutzt" Religion als Instrument politischer Zwecke, aber er muss dies nicht bewusst und absichtsvoll tun. Selbst wer politische, ökonomische oder gesellschaftliche Probleme in religiös geprägter Sprache kommuniziert (um verständlicher zu sein, kulturell angepasst zu argumentieren, die besondere Bedeutung eines Problems zu betonen oder nicht allein wie ein Interessensvertreter zu erscheinen) macht Religion oder zumindest ihre kulturelle Dimension zum Instrument von Politik. Ein letztes Beispiel: Religion dient häufig auch der Konstituierung von Gruppenidentität - sie kann so inklusiv wirken, indem sie religiöse Gemeinsamkeit betont, oder exklusiv, indem religiöse oder konfessionelle Unterschiede in den Vordergrund gestellt werden. Diese Nutzung von Religion zur Identitätsproduktion, zum Ein- und Ausschluss bestimmter Gruppen, ist immer auch ein politischer Akt. Dieser kann bewusst oder eher gefühlsmäßig erfolgen.

 

 

 

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Jochen Hippler / Özlem Ipiv,
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