readonly>
Balken Qom
endCapL endCapR

Jochen Hippler

Der Irak zwischen Dauerkrise, Bürgerkrieg und Stabilisierung
 


Die politische Entwicklung
Die Ausgangslage des politischen Wiederaufbaus im Irak nach dem Sturz Saddams war in hohem Maße schwierig. Sie lässt sich durch folgende Kernpunkte charakterisieren:

  • Aufgrund zweier Kriege (1980-88, 1991), der einschneidenden UNO-Wirtschaftssanktionen (seit 1990) und der Misswirtschaft der Diktatur waren der Irak ökonomisch ausgeblutet und die irakische Bevölkerung verelendet;
  • die irakische Gesellschaft war durch Jahrzehnte einer brutalen Diktatur und drei Kriege traumatisiert und politischer Organisation und Betätigung entfremdet;
  • eine vorpolitische gesellschaftliche Infrastruktur (Zivilgesellschaft) bestand praktisch nicht;
  • der Staatsapparat hatte sich in wenigen Tagen praktisch verflüchtigt und seine Reste wurden bald von der US-Besatzung zerschlagen, so dass Regierungs- und Governance-Strukturen zuerst fast völlig fehlten;
  • gesellschaftlich wirklich verankerte politische Parteien gab es in den arabischsprachigen Landesteilen nicht, sie waren lange ins (iranische) Exil abgedrängt worden bzw. künstliche Produkte der Unterstützung durch westliche Regierungen und Geheimdienste ohne Basis im eigenen Land;
  • die arabisch- und kurdischsprachigen Landesteile hatten sich seit 1991 stark auseinander entwickelt;
  • die militärische Besetzung des Landes durch ausländische Truppen stellte ein weiteres Trauma dar, das die politische Entwicklung verzerren musste.

Zusammengenommen bedeuteten diese Faktoren, dass die enormen Herausforderungen des wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und politischen Wiederaufbaus auf ein weitgehendes politisches Vakuum trafen, dass also diese komplexen Aufgaben bewältigt werden, während zugleich erst einmal die politischen Mechanismen ihrer Bewältigung geschaffen werden mussten. Damit fielen den Besatzungstruppen und der ausländischen Zivilverwaltung die Schlüsselrollen zu, die sich dabei sehr schnell als bemerkenswert unvorbereitet, inkompetent und völlig überfordert erwiesen. Da dies bereits an anderer Stelle untersucht wurde, muss dies hier nicht vertieft werden.

Die politische Entwicklung der Jahre 2003-2006 war zu einem großen Teil durch eine neue Austarierung der intra- und interethnischen Verhältnisse nach dem Sturz Saddam Husseins gekennzeichnet. Die Diktatur hatte zwar alle Teile der irakischen Bevölkerung unterdrückt, aber doch in unterschiedlichem Ausmaß: Während Kurden und Schiiten aufgrund ihrer Versuche unabhängiger Politik mit Gewalt in teilweise völkermörderischem Ausmaß niedergehalten wurden, war die Lage der sunnitischen Araber komplizierter: Auch bei ihnen war jeder Versuch oppositioneller Betätigung lebensgefährlich; einige Sektoren der sunnitischen Araber konnten sich jedoch durch Mitläufertum oder politische Abstinenz profitable Nischen in der Diktatur sichern. In diesem Sinne boten sich den sunnitischen Arabern zumindest Positionsvorteile gegenüber den nationalen Minderheiten (Kurden, Turkmenen) und der schiitischen Bevölkerungsmehrheit. Nach dem Sturz der Diktatur befanden sich die sunnitischen Araber in einer prekären Situation: Im Gegensatz zu den Kurden und Schiiten politisch außerhalb der gestürzten Baath-Partei kaum organisiert, mit geringen Verbindungen zu und kaum Einfluss bei den Besatzern und ohne politische Perspektive für die Zukunft des Irak, waren sie politisch nicht handlungsfähig und begaben sich selbst ins politische Abseits. Die beiden großen säkularen kurdischen Parteien und die religiösen der Schiiten gelangten bald zu einer informellen Zusammenarbeit, um das Land gründlich vom Einfluss der Baathisten zu befreien und den der Sunniten zu begrenzen. Diese zogen sich daraufhin zu großen Teilen aus dem politischen Prozess zurück. Aus ihren Reihen entstanden ab Sommer 2003 verschiedene, auch gewaltsame Widerstandsformen, die durch zum Teil brutale Niederschlagung seitens der US-Truppen (etwa der weitgehenden Zerstörung der Stadt Falludscha im November 2004) noch angeheizt wurden.

Damit wurde die Re-Integration der sunnitischen Araber zu einer Schlüsselfrage der politischen Entwicklung des Irak: Zwar handelt es sich bei ihnen nur um etwa 20 Prozent der Bevölkerung, allerdings mit überdurchschnittlich hohem sozialen und ökonomischen Status und einer Tradition politischer Dominanz. Sie verfügten durchaus über das Potenzial, den politischen Prozess wesentlich zu belasten oder gar zum Scheitern zu bringen.
Ein Ergebnis des Fehlens politischer Mechanismen bestand in der Stärkung ethnischer und religiöser Strukturen, die praktisch die einzigen existierenden Loyalitäts- und Organisationsnetzwerke waren. Ein Ausgangspunkt dieses Prozesses war, dass aufgrund der politischen Entwicklung der Jahre 1991-2003 ausschließlich ethno-nationale bzw. religiös-politische Parteien als funktionsfähige Einheiten überlebt hatten, nämlich die kurdischen Parteien KDP und PUK in der nördlichen Autonomiezone und die schiitischen Parteien Dawa und SCIRI im iranischen Exil. Diese Parteien verfügten nicht nur über organisatorische Strukturen und Finanzmittel (wobei die beiden schiitischen Parteien sich informeller Netzwerke um die Moscheen bedienen konnten und die PUK und KDP die kurdischen Regionalregierungen kontrollierten), sondern sogar eigene militärische bzw. paramilitärische Einheiten, was ihnen insgesamt einen beträchtlichen Vorsprung gegenüber den von Saddam praktisch zerschlagenen anderen politischen Kräften verschaffte, insbesondere den säkularen arabischen. Die Stärkung ethnischer Identitäten führte im Norden sogar dazu, die Perspektive einer kurdischen Abspaltung und Unabhängigkeit auf die Tagesordnung zu setzen.

Diese Ausgangslage wurde dadurch verstärkt, dass die Besatzungstruppen und ihre Zivilverwaltung mangels anderer Partner (die lange unterstützten säkularen Exilorganisationen erwiesen sich schnell als schwach und ohne Basis im Land) die Ethnisierung der Politik noch förderten, indem sie sich auf diese Parteien stützten und sie so stärkten. Ohne oder gar gegen die kurdischen und schiitisch-religiösen Parteien war der Irak nicht regier- oder auch nur kontrollierbar, gerade angesichts der Aufstände im „sunnitischen Dreieck“. Der Ansatzpunkt Washingtons, im Irak eine „repräsentative“ Politikergruppe zu institutionalisieren, wurde deshalb nicht im Sinne staatsbürgerlicher Gleichheit, sondern durch eine Austarierung der verschiedenen ethno-religiösen Strömungen zu erreichen versucht, was diese festigte. In einem solchen Rahmen leitete Washington einen schrittweisen Prozess der Einbeziehung irakischer Politiker in die Verwaltung des Landes ein, der schließlich in der Regierungsübergabe an diese und einem Verfassungs- und Wahlprozess mündete.

Im Juni 2004 kam es zur offiziellen Übertragung der staatlichen Souveränität von den Besatzungsbehörden auf eine irakische Provisorische Regierung, die (unter Beteiligung der UNO und nach längeren Gesprächs- und Verhandlungsprozessen mit irakischen Politikern und Parteien) von der Besatzung eingesetzt wurde. Aufgrund der Schwäche dieser Regierung und der Präsenz von bis zu 160.000 US-Soldaten bedeutete dieser Schritt zwar eine deutliche Ausweitung irakischen Einflusses, aber keine tatsächliche Souveränität. Selbst über ein Vetorecht über militärische Operationen der ausländischen Streitkräfte im eigenen Land verfügte diese „souveräne“ Regierung nicht. Ende Januar 2005 wurde eine ebenfalls provisorische irakische Nationalversammlung gewählt, die Ende April nach längerem Tauziehen eine Übergangsregierung bildete. Im Oktober 2005 fand eine Volksabstimmung über einen Verfassungsentwurf statt, und im Dezember 2005 kam es auf dieser Grundlage zu Wahlen eines Parlaments, das im März 2006 die Provisorische Nationalversammlung ablöste.
Im Zuge dieses Prozesses der Bildung irakischer staatlicher Institutionen wurde Ende Juni 2004 die Zivilverwaltung der Besatzung (unter Paul Bremer) aufgelöst, zahlreiche ihrer Funktionen allerdings seitdem von der US-Botschaft (zuerst unter Botschafter John Negroponte, seit Juli 2005 Zalmay Khalilzad, mit rund 1.100 Mitarbeitern) wahrgenommen. Der US-Botschafter blieb neben dem US-Militär der vermutlich wichtigste Machtfaktor im Irak, was sich unter anderem an seiner aktiven Rolle beim Verfassungsprozess zeigte. Neben der US-Botschaft bestanden weiter von den USA kontrollierte Behörden im Irak, die Einfluss auf dessen Entwicklung nahmen. Vor allem sind in diesem Zusammenhang das Iraq Reconstruction and Management Office (IRMO) und das Project Contracting Office (PCO) zu nennen.  Die provisorische Zivilverwaltung der Besatzung (Coalition Provisional Authority, CPA) stellte vor ihrer Auflösung unter anderem noch sicher, dass US-Militär- und teilweise Zivilpersonal Immunität vor jeder Strafverfolgung durch spätere irakische Behörden erhielten.

Die Bildung neuer Staatlichkeit unter Nachkriegsbedingungen und dem Paradigma der Ent-Baathisierung führte zuerst – bis etwa zum Sommer 2005 – zu einer Entfremdung der sunnitischen Araber vom politischen Prozess, die sich in deren Boykott der ersten Wahl und des Verfassungsreferendums niederschlug. Danach kam es zu einem Überdenken des Fernbleibens vom politischen Prozess durch die Sunniten, da sie dadurch im Übergangsparlament und im Kontext des Verfassungsprozesses unterrepräsentiert blieben. Deshalb beteiligten sich verschiedene sunnitisch-arabische Parteien (überwiegend, aber nicht nur religiöser Ausrichtung) an den Parlamentswahlen vom Dezember 2005. Von 275 Parlamentssitzen – bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent – gewann die schiitisch-religiös geprägte „Vereinigte Irakische Allianz“ 128 Sitze, die säkularen kurdischen Parteien und ihre Verbündeten 53, und die sunnitisch-religiösen Parteien (unter den Namen „Irakische Harmoniefront“ und „Irakische Front für Nationalen Dialog“) 44 bzw. elf Sitze, während die arabisch-säkulare „Nationale irakische Liste“ (Sunniten und Schiiten) 25 Sitze erzielte. Damit waren die religiös-sunnitischen Parteien mit insgesamt 55 Mandaten knapp stärker als die kurdischen Parteien, was in etwa der demographischen Stärke der Bevölkerungsgruppen entspricht und den Eintritt der Sunniten in den politischen Prozess signalisierte. Ob dies sich allerdings fortsetzen wird, und die Sunniten sich völlig in das neue politische System integrieren werden, ist weiter offen. Sollte dies gelingen, könnte sich so mittelfristig eine Chance auf ein Ende des sunnitischen Aufstandes eröffnen.
 

Die wirtschaftliche Entwicklung
Die Zukunft des Irak entscheidet sich durch das Zusammenspiel der drei Faktorenbündel Sicherheitslage, wirtschaftlicher Wiederaufbau und Entwicklung und politischer Aufbau. Letztlich entscheidend dürfte dabei die Entstehung eines funktionierenden, sozial und ethnisch-religiös integrativen politischen Gesamtsystems sein, dessen Gelingen allerdings zum großen Teil von der Sicherheitslage und der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt. Die drei Faktorenbündel wirken jeweils aufeinander zurück: Ohne ein wirksames politisches System werden weder die wirtschaftlichen noch die Sicherheitsprobleme lösbar sein, ohne wirtschaftlichen Erfolg müssen die politische Entwicklung wie die Herstellung von Sicherheit fraglich bleiben, und ohne Sicherheit kann es weder wirtschaftliche Entwicklung noch vertrauensvolle politische Zusammenarbeit geben.
Im Bereich des wirtschaftlichen Wideraufbaus und der Entwicklung steht der Irak in der ersten Jahreshälfte 2006 ebenfalls vor weit größeren Schwierigkeiten, als die meisten Beobachter – und die US-Regierung – dies direkt nach dem Sturz Saddam Husseins erwartet hatten. Insgesamt ergibt sich eine ausgesprochen widersprüchliche Bilanz, in der die Probleme überwiegen.

Einerseits gelang im Oktober 2003 eine erfolgreiche Währungsreform, was alles andere als selbstverständlich war. Der neue irakische Dinar hat sich bisher als durchaus stabil erwiesen (zwischen 1470 und 1480 Dinar für einen Dollar), was als Erfolg verbucht werden kann. Auch die Aufhebung der UNO-Wirtschaftssanktionen stellte eine wirtschaftliche Entlastung dar. Außerdem gelang es durch beträchtliche Transferzahlungen aus dem Ausland (US- und internationale Unterstützung), das Konsumniveau für größere Sektoren der Bevölkerung zu heben, was vor allem durch Lohn- und Gehaltserhöhungen relativ schnell erreicht wurde. Darüber hinaus waren im Januar 2006 fast 120.000 Iraker bei US-Einrichtungen beschäftigt.  Die Arbeitslosenrate zu Beginn des Jahres 2006 lag trotzdem weiter bei geschätzten 25-40 Prozent. Das Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf war von 2002 auf 2003 kriegsbedingt von 802 auf 518 US-Dollar gesunken, wobei auch die Vorkriegszahl aufgrund von mehr als einem Jahrzehnt der internationalen Wirtschaftssanktionen und Misswirtschaft bereits katastrophal niedrig war. 2004 erreichte das BSP pro Kopf 942 Dollar, 2005 vermutlich 1.051 Dollar. Auch wenn man den niedrigen Ausgangspunkt und Inflationsraten von 20 bis über 30 Prozent berücksichtigt, so ist doch eine positive Tendenz erkennbar. Allerdings bleibt das Pro-Kopf-BSP sowohl absolut, erst recht aber im Vergleich mit den Nachbar- oder anderen Ölländern schockierend gering – insbesondere, wenn man eine Reduzierung des Wachstums im Jahr 2005 auf unter vier Prozent berücksichtigt.  Insgesamt muss festgestellt werden, dass ein selbsttragender Wirtschaftsaufschwung noch nicht in Sicht ist. Dafür gibt es mindestens vier Gründe:
Einmal erwies sich die Wirtschaftspolitik im ersten Jahr nach dem Sturz Saddams durch die CPA als höchst improvisiert, sogar hilflos. Sie pendelte zwischen ideologisch bedingten Versuchen, durch radikale Liberalisierung und Privatisierung und die Freisetzung von Marktkräften die irakische Ökonomie umzugestalten (was auch völkerrechtlich fragwürdig ist, da dies nicht in die Kompetenz von Besatzungsmächten fällt) und einem pragmatischen trial-and-error, so dass keine wirtschaftspolitische Linie erkennbar wurde.

Zweitens fehlten einer erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung entscheidende infrastrukturelle Voraussetzungen: Ohne zuverlässige Strom- und Wasserversorgung kann eine Ökonomie sich kaum dynamisch entfalten. Und die Infrastruktur blieb katastrophal schlecht. Selbst 2005 gab es im Land durchschnittlich nur 9,3 Stunden elektrischen Strom pro Tag, in Bagdad gar nur 5,1 Stunden pro Tag. 

Drittens stellte die Sicherheitslage eine schwere Belastung der ökonomischen Entwicklung dar: Ausländische Firmen zögerten, sich am Wiederaufbau zu beteiligen oder sahen sich gezwungen, ihre Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen aus dem Irak abzuziehen, und die Kosten von Sicherheitsmaßnahmen von Projekten konnten sich durchaus im Bereich von 20-30 Prozent der gesamten Projektkosten bewegen. Zusätzlich kam es immer wieder zu Anschlägen und Sabotage gegen wirtschaftliche Projekte oder die Infrastruktur.
Und viertens gelang der Wiederaufbau des Ölsektors, insbesondere der Ölexporte nur sehr ungenügend, wozu auch die Anschläge maßgeblich beitrugen. Zwar wurde das – bereits geringe – Vorkriegsniveau der Ölproduktion von 2,5 Millionen barrel pro Tag im Herbst 2004 kurzzeitig wieder erreicht, womit man dem Ziel einer Förderung von drei Millionen barrel für Ende 2004 näher zu kommen schien. Aber aufgrund der zunehmenden Anschläge und Sabotageakte lag die durchschnittliche Förderung im Jahr 2005 bei durchschnittlich nur 1,83 Millionen barrel, ging also gegenüber dem Jahresende 2004 deutlich zurück. Am Jahresende 2005 wurden nur noch 1,57 Millionen barrel produziert, zu Beginn des Jahres 2006 lag die Produktion noch niedriger. Besonders schwer wurde der Export getroffen: Gerade die entscheidende Pipeline von Kirkuk nach Ceyhan (Türkei) wurde immer wieder zum Ziel von Anschlägen. Vom Sturz Saddams im März 2003 bis zum Januar 2006 kam es allein zu etwa 300 Anschlägen auf diese Pipeline. Während über sie vor dem Krieg rund 800.000 barrel pro Tag exportiert wurden, fiel diese Menge 2005 auf nur noch ein Zwanzigstel.  Da die Pipelines nach Syrien seit 2003 und die nach Saudi Arabien seit 1991 geschlossen sind, ist diese Exportmöglichkeit neben der Pipeline über Basra von strategischer Bedeutung. Die Schwierigkeiten bei der Ölproduktion und vor allem dem Export wurden zum Teil durch die hohen Ölpreise kompensiert, stellten aber insgesamt eine schwere Belastung der gesamten Wirtschaftsentwicklung und der staatlichen Finanzen dar, da der Irak wirtschaftlich fast völlig vom Ölsektor abhängig ist.
 

Gewaltkriminalität
Die Beurteilung der Sicherheitslage muss verschiedene Aspekte berücksichtigen. Dazu gehören die Sicherheit der Bevölkerung im täglichen Leben, insbesondere vor Gewaltkriminalität; die Sicherheit der irakischen Polizei, des irakischen Militärs und anderer staatlicher Organe selbst; die Sicherheit der Besatzungstruppen und der Aufbau neuer irakischer Sicherheitskräfte nach der Auflösung der unter Saddam Hussein bestehenden.
Direkt nach dem Sturz Saddam Husseins kam es im größten Teil des Irak (Ausnahme: die kurdische Autonomiezone) zu einer dramatischen und umfassenden Welle der Plünderungen, die trotz des Fehlens von irakischen Sicherheitskräften von den Besatzungstruppen ignoriert wurde. Dabei wurden nicht allein Möbel, medizinische Geräte, Waffen und Kulturgüter, sondern auch wirtschaftsstrategisch entscheidende Güter wie Öl und sogar die Kabel von Überlandstromleitungen gestohlen. Diese Plünderungen waren nicht allein wirtschaftlich katastrophal, sondern hatten eine große psychologische und symbolische Bedeutung, da sie dramatisch demonstrierten, dass die öffentliche Ordnung völlig zusammengebrochen war und organisierte Kriminalität sich lohnte und straflos blieb. Es kam zur massiven Ausweitung der Gewaltkriminalität, insbesondere in den Bereichen Raub, Körperverletzung, Entführungen, Vergewaltigung und Mord. Sind solche kriminellen organisatorischen Strukturen erst einmal in der Abwesenheit staatlicher Sicherheitsbehörden entstanden, sind sie nicht leicht zurückzudrängen. Das Ergebnis bestand in einer beträchtlichen Unsicherheit im Alltagsleben der Bevölkerung, die sich teilweise selbst bei Tätigkeiten wie Einkaufen oder kurzen Fahrten innerhalb der eigenen Stadt bedroht fühlen musste. So kam es nach dem Krieg bis zum Februar 2006 zu insgesamt 268 Entführungen von Ausländern, während Ende 2005 pro Tag bis zu 30 Iraker entführt wurden.

In den Jahren 2004 und 2005 stieg die Mordrate in Bagdad von etwa 70 auf 95 Fälle pro 100.000 Einwohner.  Zum Vergleich: In Deutschland liegt sie bei etwa 1,1 zu 100.000, in den USA bei 5,6. Die Gefahr eines irakischen Zivilisten in Bagdad, durch Gewaltkriminalität zu sterben, liegt damit bei mehr als einem Zehntel der Todeswahrscheinlichkeit US-amerikanischer Kampftruppen.
Frauen litten in besonderem Maße unter der wachsenden Kriminalität, da diese besonders der Gefahr von Entführung, Vergewaltigung und anderer Gewalt ausgesetzt waren.
 

Politische Gewalt
Die politische Gewalt im Irak hat viele Facetten. Wenn wir von der Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte oder regierungsnaher Kräfte gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle (insbesondere sunnitische Araber) einmal absehen, lassen sich vor allem drei Ebenen unterscheiden: Einmal begrenzte Gewaltakte innerhalb der ethno-politischen Gruppen, vor allem die selektiven Aufstandsversuche der Miliz von Muqtada Sadr in den schiitischen Siedlungsgebieten des Jahres 2004; zweitens die Gewalt von außen infiltrierter, ideologisch geprägter arabischer Kräfte, die sich gegen US- und andere fremde Truppen, gegen die irakischen Sicherheitskräfte und deren politisches Umfeld, westliche oder als pro-westlich wahrgenommene Ausländer, gegen Schiiten und die Infrastruktur richtet, und drittens existiert gewaltsamer Widerstand seitens sunnitischer, arabischer Iraker, der sich vor allem gegen die Besatzungstruppen und die eigene Marginalisierung im politischen Prozess richtet. Dabei gilt es, aufstandsähnliche Gewaltaktionen mit unterschiedlichem Grad an Verankerung in der Bevölkerung von terroristischen Operationen zu unterscheiden, wobei einzelne Organisationen durchaus beide Taktiken anwenden. Angriffe gegen Kombattanten – also ausländische oder irakische bewaffnete Kräfte – werden hier nicht, gezielte Gewaltakte aus politischen Gründen gegen Zivilisten und Nichtkombattanten sehr wohl als Terrorismus definiert, unabhängig von den Tätergruppen.
Auch wenn für die nächsten Jahre eine Zunahme der inner-schiitischen politischen Gewalt nicht ausgeschlossen werden kann, so richten wir hier das Augenmerk vor allem auf die sunnitisch-arabische Gewalt.

Dabei wird deutlich, dass die einheimischen sunnitischen Gewaltakteure – zu nennen sind hier vor allem die „Islamische Armee des Irak“, die „Armee Muhammeds“ und die „Al-Haq Armee“ – sich zunehmend von den infiltrierten ausländischen Jihadisten – insbesondere um Abu Musab al-Zarqawi und seiner inzwischen als „Al-Qaida Jihad in Mesopotamien“ operierenden terroristischen Gruppe – absetzen. Seit dem Sommer 2005 kam es mehrfach zu Kämpfen zwischen den Gruppen des irakischen Aufstandes und den Jihadisten, denen insbesondere ihre Brutalität gegen Zivilisten und Terrorangriffe auf die schiitische Bevölkerung sowie eine Politik der Dominanz vorgeworfen wird. Seit dem Herbst 2005 führen US-Dienststellen außerhalb des Irak geheime Verhandlungen mit Vertretern des internen Aufstandes, um zu gemeinsamen Aktionen gegen die Jihadisten zu gelangen. Bemerkenswerterweise bestehen darüber hinaus beträchtliche Meinungsverschiedenheiten zwischen der Al-Qaida-Führung im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet und Al-Qaida im Irak unter Zarqawi, die in einem abgefangenen Brief des Usama bin-Ladin Stellvertreters Zawahiri an Zarqawi ihren Ausdruck fanden. Dabei plädiert Zawahiri unter anderem für die Transformation des „Jihad“ in einen breiteren Volksaufstand und in diesem Kontext für ein Ende der Angriffe auf schiitische Zivilisten.  Demgegenüber bemüht sich die Gruppe um Zarqawi, durch terroristische Angriffe auf Schiiten einen Bürgerkrieg auszulösen. Diese Gefahr wurde bei der Welle der Gewalt im Frühjahr 2006 (unter anderem bei der Zerstörung der Goldenen Moschee in Samarra) deutlich, und inzwischen spricht selbst US-Präsident Bush von der Gefahr eines Bürgerkrieges.
Die Schätzungen der Zahl der Aufständischen und ausländischen Jihadisten schwanken beträchtlich. Insgesamt setzt sich eine Sichtweise durch, die Zahl der Aufständischen in einer Größenordnung von 16-20.000 anzunehmen, während die der ausländischen Jihadisten auf 700-2.000 geschätzt wird.
 

Anschläge und Anschlagsopfer
Im Jahr 2005 nahm die Zahl der Anschläge und Sabotageakte durch Aufständische deutlich zu. Ihre Summe erhöhte sich von 26.496 im Jahr 2004 auf 34.131 in 2005. Dabei kam es zu einem leichten Sinken der Zahl der getöteten US-Soldaten (von 714 auf 673) und einem deutlichen Rückgang der US-Verwundeten (7.990 auf 5.639) , während sich die Verluste der irakischen Sicherheitskräfte deutlich erhöhten. Dies dürfte an zwei Entwicklungen gelegen haben: Einmal operierten die US-Truppen in 2005 zurückhaltender als im Vorjahr (so gab es z.B. keine große Militäroperation gegen eine Stadt, wie in Falludscha im November 2004, mit relativ hohen eigenen Opferzahlen) und das US-Militär bemühte sich, die Aufrechterhaltung der Sicherheit zunehmend auf irakische Einheiten zu übertragen. Darüber hinaus scheinen die Aufständischen ihre Angriffe verstärkt auf die irakischen Sicherheitskräfte zu verlagern, da diese leichter zu treffen sind. Im Gegensatz zu den Angaben über US-Verluste sind Zahlen über irakische allerdings kaum vorhanden und unsicher, da die irakische Regierung sie selten oder nur bruchstückhaft veröffentlicht. Die US-Regierung stellte allerdings fest, dass zwar 80 Prozent aller Angriffe auf Ziele der „Multinationalen Koalition“ (also die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten) erfolgten, 80 Prozent aller Opfer aber irakisch seien.
Allein im Jahr 2004 wurden vermutlich mehr als 2000 irakische Polizisten Opfer von Anschlägen.  2005 kam es weiter zu zahlreichen gewaltsamen Angriffen auf irakische Sicherheitskräfte. Insgesamt ergibt sich ein Bild, nach dem gezielt hohe Sicherheitsfunktionäre, Polizeireviere und andere Orte mit hoher Polizeidichte, Freiwillige und Rekruten zum Ziel gemacht wurden.

Cordesman schätzt, dass 2005 deutlich über 2.700 irakische Regierungsbeamte, Polizisten und Soldaten getötet wurden. Auch die Taktik der Aufständischen änderte sich, indem sich etwa die Zahl der Autobomben gegenüber dem Vorjahr auf 873 mehr als verdoppelte und die Zahl der Selbstmordattentate (durch Autofahrer oder Träger von Bombengürteln) von 140 auf 478 stieg.  Insgesamt ist deutlich, dass zwar die Zahl an US-Opfern 2005 leicht zurückgegangen war, die Sicherheitslage sich allerdings deutlich verschärft hatte.
 

Aufbau neuer Sicherheitsapparate
Ein Faktor bei der Entwicklung einer dauerhaft heiklen Sicherheitslage war der zögerliche und zuerst erfolglose Aufbau der neuen irakischen Sicherheitskräfte. Insbesondere die US-Besatzungstruppen hatten kein besonderes Interesse daran, selbst die Sicherheit für die irakische Bevölkerung und den politischen Prozess im ganzen Land sicherzustellen und verfügten auch über viel zu wenig (und dazu falsch ausgebildetes) Personal zu dieser Aufgabe. Zugleich wollten die US-Streitkräfte ihre Truppenstärke im Irak aus Kosten- und Sicherheitsgründen möglichst schnell und umfassend reduzieren. Insbesondere, als im Sommer 2003 der gewaltsame Widerstand massiv begann, setzten die Zivilverwaltung und das US-Militär auf eine schnelle Übertragung der Sicherheitsfunktionen auf neue irakische Polizei- und Militäreinheiten, die daraufhin überstürzt aufgebaut wurden. Dazu bemühte man sich, „saubere“ Offiziere des alten irakischen Militärs zur Mitarbeit zu bewegen und zugleich möglichst schnell möglichst viele Polizisten und Soldaten neu auszubilden. Das Ergebnis bestand in meist nur vier- bis zehnwöchigen Schnellkursen, die oberflächlich blieben. Weder die Kompetenz, noch die Organisation, Logistik und Ausrüstung oder Motivation dieser neuen Sicherheitskräfte genügten auch nur minimalen Standards. Darüber hinaus fiel es den Aufständischen aufgrund des überstürzten Aufbaus relativ leicht, die neue Polizei und das neue Militär zu infiltrieren.

Insgesamt war es deshalb wenig erstaunlich, dass die neuen Sicherheitskräfte trotz ihres sprunghaft steigenden Umfangs den schwierigen Herausforderungen nicht einmal ansatzweise gerecht wurden, was spätestens im November 2004 deutlich wurde, als bei den Kämpfen um und in Falludscha kaum eine irakische Einheit die ihnen von den US-Truppen zugewiesenen Funktionen bewältigen konnte, sondern Soldaten in hoher Zahl desertierten oder sich gar den Aufständischen anschlossen. Erst im Verlauf des Jahres 2004, insbesondere aber 2005 kam der Aufbau irakischer Sicherheitskräfte substanziell voran. Nach Angaben des US-Außenministeriums verfügte der Irak im Januar 2006 über insgesamt 227.300 Angehörige der Sicherheitskräfte, davon 120.400 Polizisten des Innenministeriums und 106.900 Soldaten unter dem Kommando des Verteidigungsministeriums.  Damit existierte im Irak zu Beginn des Jahres 2006 ein ausgesprochen umfangreicher Sicherheitsapparat: Neben den irakischen Kräften noch rund 21.000 britische und andere Nicht-US Kräfte, vermutlich noch mehr Personal von privaten Sicherheits- und Söldnerfirmen, plus etwa 160.000 US-Soldaten (ab Januar 2006 noch 136.000) – zusammen rund 450.000 Bewaffnete, die mit begrenztem Erfolg den Aufstand, die Instabilität und den Terrorismus bekämpfen. (Zum Vergleich: Die US-Vorkriegsplanung erwartete, die eigenen Truppen bis zum Herbst 2003 auf ca. 35.000 vermindern zu können,  und im Mai 2003 plante man den Aufbau einer neuen irakischen Armee von nur drei Divisionen, ca. 36.000 Mann, bis Mitte 2005. )

Allerdings sind solche Zahlen allein wenig aussagekräftig: Insbesondere die kleineren Kontingente der internationalen Koalition neigen häufig dazu, sich aus gewaltsamen Auseinandersetzungen herauszuhalten und weigern sich zum Ärger Washingtons durchaus von Fall zu Fall, Befehle von US-Kommandanten zu befolgen.  Und auch wenn der Ausbildungsstand der irakischen Polizisten und Soldaten inzwischen erkennbar besser ist als noch 2004, so sind diese doch für schwierige Aufgaben immer noch nur mit Einschränkungen zu gebrauchen.

Durch die schnelle zahlenmäßige Aufblähung der irakischen Sicherheitskräfte ergaben
sich allerdings neue Probleme: Vertreter bestehender Milizen ethnisch oder religiös basierter Parteien (insbesondere der kurdischen und arabisch-schiitischen) gewannen starken Einfluss innerhalb der neuen staatlichen Sicherheitsorgane und es kam zu Fällen massiver Menschenrechtsverletzungen durch diese, insbesondere gegen sunnitische Araber. 2005 befreiten US-Truppen (nun offiziell keine Besatzer mehr) zahlreiche Gefangene aus einem Folterzentrum des irakischen Innenministeriums. Aus sunnitischen Kreisen wird immer wieder behauptet, dass es sogar Todesschwadronen gebe, die gezielt Sunniten verfolgen.
 

Fazit
In der zweiten Jahreshälfte 2006 und im Jahr 2007 dürfte sich die Zukunft des Irak entscheiden. Seit dem März 2003 hat sich im Irak ein komplexes Problembündel gebildet: Wirtschaftliche, infrastrukturelle und soziale Probleme, eine zunehmend schwieriger gewordene Sicherheitslage und die Frage der Herstellung eines integrierenden politischen Systems unter Beteiligung der sunnitischen Araber sind die wichtigsten Herausforderungen. Dazu kommt inzwischen die Gefahr eines Bürgerkrieges. Eine militärische Lösung des Sicherheitsproblems ist nicht möglich, zumindest solange die sunnitische Bevölkerung den Prozess der neuen Staatsbildung nicht annimmt und sich aktiv in ihn integriert. Einerseits ist die Ethnisierung der irakischen Politik weit fortgeschritten und insbesondere (schiitische und sunnitische) islamistische Kräfte haben eine starke Position im politischen System, während die kurdische Politik sich ernsthaft um die Option bemüht, ihre Autonomie zu einer staatlichen Unabhängigkeit auszuweiten. Andererseits sind die sunnitischen Araber seit der Wahl vom Dezember 2005 zum ersten Mal seit dem Sturz Saddams aktive Teilnehmer am politischen Prozess, was sich mittelfristig dämpfend auf das Gewaltniveau im Lande auswirken könnte. Dazu ist es allerdings nötig – außer eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und der Wiederherstellung einer funktionierenden Infrastruktur zu erreichen –, den Sunniten nicht allein einen gleichberechtigten Platz in der irakischen Politik einzuräumen, sondern insbesondere die ethnische Dominanz von Schiiten und Kurden im Sicherheitsapparat zu überwinden und die Menschenrechtsverletzungen an den Sunniten zu unterbinden. Wenn dies gelingen würde, könnte sich trotz der krisenhaften Nachkriegsentwicklung doch noch eine Chance auf eine friedliche Entwicklung eröffnen. Die nächsten anderthalb Jahre werden über die Nutzung einer solchen Chance entscheiden.


 

Quelle:
Jochen Hippler
Der Irak zwischen Dauerkrise, Bürgerkrieg und Stabilisierung
in: Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Corinna Hauswedell, Jochen Hippler, Ulrich Ratsch (Hrsg.),
Friedensgutachten 2006
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH),  Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), u.a
Münster 2006, S. 121-130

 

weitere Texte zum Irak hier

 

[ Home ]    [ zur Person ]    [ Bücher ]    [ Aufsätze ]    [ Texts in English ]    [ Fotos ]    [ Blog ]
> Der Titel der Seite wird von NetObjects Fusion generiert > readonly>