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Jochen Hippler


Gewaltkonflikte, Konfliktprävention und Nationenbildung -
Hintergründe eines politischen Konzepts

 


Viele außenpolitische Diskussionen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wurden – neben den Auflösungs- und Neustrukturierungsprozessen im ehemaligen Ostblock – von einer Reihe von Regionalkonflikten bestimmt. Besonders hervortraten der Irak (Golfkrieg 1991, Irakkrieg 2003), Somalia, die Auflösungskriege des ehemaligen Jugoslawiens (vor allem in Bosnien und dem Kosovo), Afghanistan und die Kriege und Gewaltexzesse in Afrika (Rwanda, Burundi, Kongo, Liberia und andere). Seit den frühen 1990er Jahren hatte sich die Perspektive verschoben, da nicht mehr jeder Konflikt ins schlichte Schema des Kalten Krieges gepresst werden konnte. Die internen Konfliktursachen gerieten stärker ins Blickfeld, wobei neue Moden auftraten, etwa kulturalistische Interpretationen (Clash of Civilizations) oder die reflexartige Zuschreibung „ethnischer“ Ursachen. Neben anderen Konzepten – etwa dem von failed states – tauchte der Begriff „Nation-Building“ insbesondere in der angelsächsischen Debatte zunehmend auf. Dies war in der politischen Diskussion zu bemerken, etwa beim ehemaligen US-Außenminister Alexander Haig oder UN-Generalsekretär Boutros-Ghali (Haig 1994; UN Chronicle 1994), in den Medien, wie in Newsweek oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Newsweek 1994; FAZ 1994), oder in der wissenschaftlichen Analyse, wie etwa durch die Arbeiten von Eriksen (1993) oder Lenhart (1992). Zu Beginn wurde häufig über Prozesse und Probleme von Nation-Building oder dessen Scheitern diskutiert, der Begriff aber vermieden. Inzwischen wird der Begriff zunehmend benutzt, aber kaum ausgeführt oder theoretisch bearbeitet.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat sich der Begriff Nation-Building auf breiter Front durchgesetzt, er wurde zum selbstverständlichen Bestandteil der politischen wie wissenschaftlichen Debatte. Die Erfahrungen der internationalen Gemeinschaft in Ländern wie Somalia, auf dem Balkan, in Afghanistan und dem Irak haben den Blick dafür geschärft, dass Staatszerfall und die Fragmentierung von Gesellschaften Gewaltkonflikte entweder auslösen oder unlösbar werden lassen können. Solche Situationen können wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung längerfristig zum Scheitern bringen, große humanitäre Katastrophen nach sich ziehen, ganze Regionen destabilisieren und sogar zu Quellen eines transnationalen Terrorismus werden – insgesamt also auch weit entfernte Länder berühren und westliche Politikziele in Frage stellen. Vor allem in diesen Zusammenhängen wird Nation-Building international diskutiert: entweder als präventive Politikoption zur Vermeidung von Staatszerfall und gesellschaftlicher Fragmentierung, als Alternative zu militärischer Konfliktbearbeitung, als Bestandteil militärischer Interventionen oder als Element der Konfliktnachsorge. Eine Politik des Nation-Building bildet danach ein Scharnier zwischen Außen-, Entwicklungs- und Militärpolitik, das Gewaltkonflikten vorbeugen oder sie bearbeiten, lokale und regionale Stabilität erreichen und Entwicklung ermöglichen soll.

Nation-Building ist aber weder einfach noch problemlos. Die Chancen, dieses Ziel von außen zu erreichen, werden sehr unterschiedlich, oft skeptisch beurteilt; die Wege und Instrumente zum Erfolg sind häufig unklar, und ob der zeitliche und finanzielle Aufwand durch externe Akteure lange genug durchgehalten werden kann, ist nicht selten fraglich. Ein externes Nation-Building kann die fremden Akteure in lokale Machtkämpfe hineinziehen, aus denen sie schwer wieder herausfinden. Auch Fragen der Legalität sind oft schwierig zu beantworten, da das Einmischungsverbot der UN-Charta zwar oft missachtet wird, aber weiter mit gutem Grund besteht. Und schließlich ist oft nicht klar, was Nation-Building eigentlich bedeuten soll.

Nation-Building: frühere Diskussionen
Nation-Building ist ein alter Begriff, der bereits eine Zeit der Blüte und eine des Niedergangs erlebte. Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren war Nation-Building ein Schlüsselkonzept der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Damals stand er in einem engen Kontext mit den in diesen Jahren modischen Modernisierungstheorien, die den Entwicklungsprozess in der Dritten Welt vor allem als ein Nachholen westlicher Modelle begreifen wollten. Gesellschaften sollten „modernisiert“, also strukturell den Industriestaaten angepasst werden: aus „traditionellen“ oder „tribalen“ Gesellschaften müssten „moderne“ Nationalstaaten werden, wobei das europäische Modell implizit oder explizit als Ziel gedacht wurde.
Die Nationalität und der Nationalstaat waren Grundkategorien. Wirtschaftliche und politische Entwicklung sei nur in diesem Rahmen Erfolg versprechend. Rivkin (1969, 156) formulierte auf Afrika bezogen:

„Nation-Building und wirtschaftliche Entwicklung (...) sind parallele Ziele und eng miteinander verknüpfte Aufgaben. Sie teilen zahlreiche Probleme, sind mit vielen gleichen Herausforderungen konfrontiert und stehen auf vielen Ebenen der öffentlichen Ordnung und der praktischen Umsetzung in einer Wechselbeziehung.“ 

Wirtschaftliche Entwicklung setze Marktwirtschaft, politische Entwicklung den Nationalstaat voraus. Politische Entwicklung als Bestandteil oder Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung wurde damit vor allem als Nation-Building-Prozess betrachtet. Beides zusammen, die Durchsetzung des Marktmechanismus und die des Nationalstaats, wurden als eng verknüpft und als „Modernisierung“ betrachtet.
Es ist offensichtlich, dass diese Sichtweise von „Entwicklung“ – Modernisierung, Nationalstaat und Nation-Building – westlich-europäische Erfahrungen eher schematisch auf die Dritte Welt übertrug. In einigen Fällen wurden sogar explizit westliche Staatsbildungsprozesse neu aufgearbeitet, um Lehren für Nation-Building in der Dritten Welt zu ziehen (etwa Lipset 1963).
Zugleich fand Nation-Building in den 1950er und 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts auch im Kontext des Ost-West-Konflikts statt und bildete ein westliches Strategem zur Einhegung des Sozialismus und der Sowjetunion in der Dritten Welt. Wie andere Konzepte sollte es eine Alternative zum Sieg von Befreiungsbewegungen und zur „Revolution“ darstellen. Rückblickend formulierte dies der Chef der US-Entwicklungsbehörde USAID, Brian Atwood (1994, 11), folgendermaßen:

„Vor dreißig Jahren war Nation-Building im Wesentlichen ein postkoloniales Phänomen, ein ehrgeiziges Programm, um die neuen unabhängigen Länder dabei zu unterstützen, die Institutionen, die Infrastruktur, die Wirtschaft und den sozialen Zusammenhalt von fortgeschritteneren Nationen zu erlangen.“
Der Nation-Building-Begriff geriet im Verlauf der 1970er Jahren fast in Vergessenheit: durch seine ständige Betonung im Vietnamkrieg, seine Verbindung mit militärischen Strategien und seine konzeptionelle Verknüpfung mit ausgesprochen brutalen Politikformen einer „Pazifizierung“ des Landes kompromittiert, kam er politisch und akademisch aus der Mode. Erst eine knappe Generation später kam er – wie erwähnt – erneut zu Ehren, indem er zuerst eher zufällig, dann aber auch systematisch im Kontext komplexer Gewaltkonflikte wieder belebt wurde, vor allem, wenn diese starke ethnische Dimensionen oder Elemente des Staatszerfalls aufwiesen.


Zur Klärung des Begriffs
Der Begriff des Nation-Building wird heute ausgesprochen vage und widersprüchlich verwandt. Vereinfachend können wir Begriffsverwendungen unterscheiden, die entweder auf den realen Ablauf, die Beschreibung oder Analyse (vergangener oder gegenwärtiger) historisch-gesellschaftlicher Prozesse abzielen oder normativ orientiert sind und ein Zielsystem bzw. politische Strategien ins Zentrum rücken (Hippler 2002). Beides überlappt sich im Sprachgebrauch häufig.
Nation-Building ist einerseits ein Prozess sozio-politischer Entwicklung, der idealtypisch – meist über eine längere historische Zeitspanne – aus zuerst locker verbundenen Gemeinschaften eine gemeinsame Gesellschaft mit einem ihr entsprechenden „National“-Staat werden lässt. Ein solcher Prozess kann aufgrund politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller und anderer Dynamiken in Gang kommen. Allerdings gibt es keinen Automatismus, dass solche Nation-Building-Prozesse erfolgreich verlaufen. Sie können höchst unterschiedliche Dimensionen und Instrumentarien beinhalten, etwa wirtschaftliche Verflechtung, kulturelle Integration, politische Zentralisierung, bürokratische Kontrolle, militärische Eroberung oder Unterwerfung, die Schaffung gemeinsamer Interessen, Demokratisierung und Etablierung gemeinsamer citizenship oder Repression und „ethnische Säuberungen“.
Es hat es eher friedliche und ausgesprochen blutig verlaufende Prozesse des Nation-Building gegeben, sowohl in Europa als auch in der Dritten Welt. Sie sind also nicht per se friedfertig oder ein Beitrag zur konstruktiven Konfliktbearbeitung, aber auch nicht notwendigerweise gewaltsam. Diese Prozesse verknüpfen „naturwüchsige“ Entwicklungen wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Art, die durch einzelne Akteure kaum zu steuern sind, mit strategischen Entscheidungen und aktiver Politik von Schlüsselakteuren, die die von ihnen nicht zu verantwortenden Entwicklungen einbeziehen und für sich nutzen.

Nation-Building kann andererseits eine politische Zielvorstellung, auch eine Strategie zur Erreichung konkreter Politikziele sein. Interne oder externe Akteure streben die Schaffung oder Stärkung eines nationalstaatlich verfassten politischen und sozialen Systems an, wenn dies ihren Interessen zu nützen scheint, wenn es bestimmte funktionale Erfordernisse besser erfüllt als ein zuvor bestehendes Arrangement oder wenn es ihre Macht stärkt oder ihre Gegner schwächt.
In einem solchen Zusammenhang dient der Begriff des Nation-Building nicht der Beschreibung oder Analyse gesellschaftlicher und politischer Prozesse, sondern trägt programmatischen oder konzeptionellen Charakter. Entweder streben interne Akteure nach der Durchsetzung nationalstaatlicher Herrschaftsmodelle oder externe verfolgen das gleiche Ziel. In beiden Fällen kann dies aus funktionalen Gründen erfolgen, etwa der Stärkung gesellschaftlicher Stabilität oder wirtschaftlicher Entwicklungschancen, aber auch um  Dominanz und Kontrolle in der entsprechenden Gesellschaft zu gewinnen. Nation-Building kann also eine Entwicklungs-, aber auch eine imperiale Strategie sein, je nach den politischen Umständen und Akteuren.
Beide Varianten bei der Verwendung des Begriffs Nation-Building, die deskriptive oder analytische einerseits, die normativ-strategische andererseits, sind sehr facettenreich und heterogen. Gerade bei der zweiten Variante ist dies offensichtlich, da mit Nation-Building strategisch höchst unterschiedlich umgegangen werden kann, was die konkreten Ziele, Akteure, Instrumente und Ergebnisse betrifft. Deshalb implizieren beide Begriffsverwendungen nicht allein verschiedene Sichtweisen auf den gleichen Gegenstand, sondern beinhalten sehr unterschiedliche Dimensionen im Hinblick auf den Zeitfaktor, die Mechanismen und die Ergebnisse. Allerdings gibt es in allen Prozessen von Nation-Building bestimmte Kernelemente, ohne die der Prozess kaum dauerhaft erfolgreich verlaufen könnte.


Elemente von Nation-Building
Es lassen sich drei zentrale Elemente für erfolgreiches Nation-Building unterscheiden, die meist eng verknüpft sind: eine gemeinschaftsbildende, überzeugungskräftige Ideologie, die Integration der Gesellschaft und ein funktionsfähiger Staatsapparat.
 Auf Dauer erfolgreich wird Nation-Building nur sein, wenn es entweder aus einer integrativen Ideologie entspringt oder ab einem bestimmten Punkt eine solche hervorbringt. Eine grundlegende Umstrukturierung von Politik und Gesellschaft bedarf besonderer Legitimierung, sowohl was die Rechtfertigung der Politik als auch die soziale Mobilisierung zu ihren Zwecken betrifft. Als klassische Ideologie des Nation-Building müssen offensichtlich die verschiedenen Spielarten des Nationalismus gelten – wobei „Nationalismus“ hier alles meint, das von der sinnstiftenden Herausbildung gemeinsamer nationaler Identität bis zur auch gewaltsamen Abgrenzung von anderen nationalen oder ethnischen Gruppen reicht. Nation-Building setzt notwendigerweise die Herausbildung einer „Nation“ voraus, die allerdings höchst unterschiedlich konstituiert sein kann. Solange in einer Region die Menschen sich primär als Paschtunen, Maroniten, Bayern, Yussufzai (ein paschtunischer Stamm), Ismaeliten oder Mitglied eines bestimmten Clans definieren, ist Nation-Building entweder unvollendet oder gescheitert. Die Existenz der jeweiligen Identitäten ist dabei nicht an sich das Problem, sondern deren Verhältnis zu einer gruppenübergreifenden, „nationalen“ Identität . Man vermag durchaus zugleich Pakistaner oder Afghane und Paschtune oder Schiit sein, wenn beides ideologisch als möglich konstruiert wird, wie man ja auch Bayer, Muslim und Deutscher sein kann. Solange aber die primäre Identität und Loyalität beim Stamm, Clan oder einer ethnischen oder ethno-religiösen Gruppe liegt und die „nationale“ Identitätsebene nachgeordnet bleibt oder fehlt, wird ein Nationalstaat prekär bleiben. Allerdings ist es nicht unbedingt erforderlich, dass eine solche integrierende Ideologie als Basis für Nation-Building immer und automatisch „national“ ausgerichtet ist. Auch andere Werte- und Identitätsmuster können an die Stelle treten, zumindest eine Zeit lang: Verfassungspatriotismus, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, säkulare Ideologien (zum Beispiel Sozialismus) oder Religion können die gleiche Funktion oder Hilfsfunktionen übernehmen. Die Fälle der Staatsgründungen Pakistans und Israels sind hier illustrativ: als Staaten für „die Muslime Indiens“ bzw. „die Juden“ gegründet, wurden diese eigentlich religiösen Bestimmungen zunehmend „national“ uminterpretiert.

Die zweite Voraussetzung für einen erfolgreichen Prozess von Nation-Building besteht in der Integration einer Gesellschaft aus den zuvor bestehenden, lose verbundenen Gruppen. Paschtunen, Belutschen und Pundschabis müssen nicht allein davon überzeugt sein, zu einer gemeinsamen Nation zu gehören, diese Vorstellung muss sich in der sozialen Realität auch wieder finden. Dazu ist es nötig, dass sich die Kommunikationsmuster zwischen den sozialen Gruppen so weit verdichten, dass Kommunikation nicht im Wesentlichen innerhalb der Gruppen stattfindet. Auch wenn die Binnenkommunikation der (ethnischen, religiösen und anderen) Gruppen weiterhin stärker bleiben mag als die zwischen ihnen, so ist ein bestimmtes Maß der Kommunikationsdichte zwischen ihnen ein Erfordernis für erfolgreiche und dauerhafte Nationenbildung. Dies hat allerdings nicht allein politisch-kulturelle Voraussetzungen, sondern auch praktische: Nation-Building braucht eine „nationale“ Infrastruktur. Verkehrs- und Kommunikationswege, die Herausbildung einer „Nationalökonomie“ aus regionalen oder lokalen Wirtschaftsbereichen, landesweite Massenmedien für die Etablierung eines nationalen politischen und kulturellen Diskurses sind Schlüsselvariablen.

 Eine entscheidende Komponente von Nation-Building ist die Herausbildung eines funktionsfähigen, sein Staatsgebiet tatsächlich kontrollierenden Staatsapparats. Dies impliziert einmal, dass die entsprechende Gesellschaft sich als politische Gemeinschaft konstituiert hat, was mit den beiden oben skizzierten Prozessen korrespondiert, insbesondere der Herausbildung einer sich selbst bewussten, gemeinsamen Gesellschaft. Der Staat wird so zur politischen Organisationsform einer handlungsfähigen Gesellschaft – wenn er nicht schon zuvor bestand und eine Schlüsselrolle bei der gesellschaftlichen Integration spielte. State-building ist ein Schlüsselaspekt von erfolgreichem Nation-Building. Es setzt eine Reihe praktischer Fähigkeiten voraus, etwa die Schaffung einer finanziellen Basis für einen funktionierenden Staatsapparat, also ein wirksames Steuerwesen, ein organisiertes Polizei- und Rechtssystem, einen Verwaltungsapparat, der im ganzen Land wirksam und akzeptiert wird. Der Staat braucht loyales Personal, das sich eben nicht primär mit einzelnen sozialen, ethnischen oder religiösen Gemeinschaften identifiziert, sondern mit ihm und der „Nation“. Insbesondere muss der Staatsapparat sein Gewaltmonopol auf dem ganzen Staatsgebiet durchsetzen, um dauerhaft erfolgreich zu sein.
Zusammengenommen ergibt sich für erfolgreiches Nation-Building ein Dreieck aus den jeweils sehr komplexen Elementen state-building, gesellschaftlicher Integration und ideologischer Legitimation. Bestimmte Komponenten können relativ leicht von außen bereitgestellt werden, etwa Teile der Infrastruktur, andere können von außen schwer oder gar nicht erbracht werden, zum Beispiel beim ideologischen Nation-Building. Erst das sich gegenseitig verstärkende Ineinandergreifen wird allerdings über Erfolg oder Scheitern von Nation-Building entscheiden. In der Regel werden externe Akteure Nation-Building daher erleichtern oder erschweren, aber kaum jemals erzwingen oder völlig verhindern können, wenn die internen Faktoren dem entgegenstehen.


Nation, Staat und soziale Mobilisierung
Die politischen Kerne von Nation-Building bestehen im Nationalstaat und einem höheren Niveau sozialer Mobilisierung und politischer Integration. Dabei steht der Staat nicht allein deshalb im Zentrum, weil seine moderne, nationalstaatliche Form eines der wichtigsten Ergebnisse von Nation-Building, sondern weil er meist zugleich der entscheidende Akteur ist.
Entgegen der seit der deutschen Romantik hierzulande vorherrschenden Auffassung, eine Nation bestehe a priori und müsse – oder solle – sich schließlich in einem Staat konstituieren, verliefen die meisten historischen Prozesse wesentlich komplexer und häufig sogar umgekehrt. „Nationen“ sind nicht einfach vorhanden, sondern entstehen wie viele andere soziale Phänomene in einem schwierigen und widersprüchlichen Prozess – oder eben auch nicht. Und in den meisten Ländern ging die Existenz eines Staates der einer Nation voraus, selbst in den Musterbeispielen europäischer Nationalstaaten Frankreich und England (Greenfeld 1992). Nicht selten schufen Staatsapparate aus sehr praktischen Gründen, absichtlich oder eher nebenbei, eine ihnen entsprechende Nation: die alten Monarchien basierten praktisch nie auf ethnischen oder nationalen Grenzlinien, sondern auf religiösen oder personalen Legitimationsmechanismen und Zwang. Ihre spätere Form nahmen sie durch Eroberung oder Heirat mit anderen Herrscherhäusern an, nicht durch ein irgendwie definiertes Selbstbestimmungsrecht der Nationen, die es noch nicht gab. Und erst über oft lange historische Prozesse formten die stärker und bürokratischer werdenden Staatsapparate beispielsweise durch das Zurückdrängen lokaler Machthaber, eine zunehmend alle Menschen betreffende Verrechtlichung der sozialen Beziehungen und des Steuerwesens, den Homogenisierungsdruck einer gemeinsamen Religion und später durch landesweite Schulsysteme oder eine allgemeine Wehrpflicht eine Nation aus diversen sozialen Gruppen.

In vielen multiethnischen (Proto)-Gesellschaften ging und geht der Impuls zur Durchsetzung gesellschaftlicher Integration und der Schaffung eines Nationalstaats vom Staatsapparat selbst aus, wobei unter anderem materielle Anreize (finanzielle, ökonomische, Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst etc.), kulturelle Mittel (Sprachenpolitik, Bildungswesen, Religionspolitik) oder Zwang eingesetzt werden. In vielen Fällen kam und kommt es dabei zu einer Verknüpfung interner und externer Ursachen: etwa dem Versuch einer schwachen oder rudimentären Regierung, ihre Position in der eigenen Gesellschaft zu festigen (und ihre Steuerbasis auszudehnen oder lokale Machtfaktoren zurückzudrängen) und außenpolitische Herausforderungen besser bestehen zu können, insbesondere kriegerischer Art. Gerade die Interessen an einem von lokalen Adeligen oder Kriegsherren unabhängigen Steuersystem und an einem gut organisierten und schlagkräftigen Militär stellten wichtige Antriebe dar, Staatsapparate organisatorisch zu entwickeln und neu zu legitimieren. Die meisten Fälle von Nation-Building dürften in diesem Sinne von oben nach unten dominiert worden sein, nicht durch ein naturwüchsiges Wachstum des Nationalstaates aus der Gesellschaft heraus. Und fast immer entstand aus einem solchen staatlich induzierten Nation-Building eine komplexe Dialektik zwischen Staatsapparat und gesellschaftlichen Gruppen (sowie zwischen verschiedenen Teilen des Staatsapparates und zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen).

Zugleich bedeutet Nation-Building immer auch einen Prozess gesellschaftlicher Mobilisierung, entweder von unten oder von oben. Das gilt häufig besonders in der Konstituierungsphase. Der ideologische und politische Prozess der Bildung von Nation impliziert eine Teilhabe ihrer Mitglieder an Politik, ein Eintreten zahlreicher Personen in die politische Sphäre. Während über lange historische Perioden die Politik – und damit Herrschaft – einer kleinen Gruppe oder schmalen Schicht Bevorrechtigter vorbehalten und die Bevölkerung das Objekt von Politik war, ändert sich dies grundlegend. Die Konstituierung von „Nation“ bedeutet, dass nun zuerst ideologisch (prinzipiell) alle ihre Mitglieder zu politischen Subjekten werden, anstatt nur Untertanen zu sein und Politik der Herrscher zu erdulden. In diesem Sinne enthält die Nationenbildung ein demokratisches Potenzial, da die Zugehörigkeit zur Nation nicht durch edle Geburt oder religiösen Stand, sondern durch Staatsbürgerlichkeit oder ethnisch-nationale Gemeinsamkeit definiert wird. Zumindest dem Anspruch nach liegt die Herrschaft nun nicht mehr etwa bei einem durch die Gnade Gottes erwählten König, sondern bei der neu konstituierten Gesellschaft. Dass diese ihre prinzipielle Souveränität nicht unbedingt demokratisch wahrnehmen muss, sondern oft klientelistisch, elitär, diktatorisch organisiert sein kann, ist sehr bedauerlich, ändert aber nichts an der legitimatorischen Bindung von Herrschaft an die „Nation“, also an eine zumindest behauptete Gemeinschaft aller. Nation-Building öffnet also demokratisches Potenzial, aber nicht unbedingt die Tür zu tatsächlicher Demokratie, im Gegenteil: Herrschaft „im Namen“ der Nation kann repressiver sein als Feudalismus oder Gottesgnadentum, von „traditionellen“ Herrschaftsformen zu schweigen.
Nation-Building macht die Mitglieder einer Nation also prinzipiell zu politischen Subjekten, auch wenn in der Realität die Wahrnehmung partizipativer Rechte oft genug verweigert wird. Nation-Building „politisiert“ die Bevölkerung zu einer Nation, es mobilisiert gerade im Konstituierungsprozess weite Teile der Gesellschaft. Das impliziert meist bestimmte soziale Voraussetzungen: etwa setzt es ein bedeutsames Maß an innergesellschaftlicher Kommunikation voraus, was wiederum durch einen hohen Alphabetisierungsgrad und entsprechende Massen- und Kommunikationsmedien begünstigt wird (in bestimmten historischen Phasen war dies die Erfindung des Buchdrucks, später Zeitungen, Radio oder Fernsehen).

Der Prozess der Konstituierung von Nation und die stärkere Partizipation und politische Mobilisierungsfähigkeit der zur „Nation“ gewordenen Bevölkerung bedeutet allerdings, dass in der Gesellschaft zuvor schlummernde Konflikte, die durch den Ausschluss der Bevölkerung von der Politik nur geringe Artikulationsmöglichkeiten hatten, verstärkt wirksam werden können. Umso mehr wird dies zutreffen, wenn die Bestimmung dessen, wer eigentlich zur „Nation“ gehört, ungeklärt oder umstritten ist, also insbesondere in multi-ethnischen oder multi-religiösen Gesellschaften, die sich nicht auf gemeinsame Staatsbürgerschaft als Gemeinschaftskriterium einigen können. Wenn die Zugehörigkeit zur Nation nicht auf der Basis der staatsbürgerlichen Gleichheit, sondern nach Sprache, ethnischer Abstammung oder Religion bestimmt werden soll, kann dies leicht zwei problematische Folgen zeitigen: Zum einen besteht die Gefahr, dass die Ethnisierung des politischen Diskurses in einem Kontext latenter Konflikte und sozialer Mobilisierung die Gewaltschwelle senkt und Gewaltkonflikte auslöst und ethnisch strukturiert. Zum anderen transformiert ein solcher Kontext den Nation-Building-Prozess: statt eine gesamtgesellschaftliche Integration anzustreben oder zu erreichen, stellt sich dann die Alternative, Nation-Building entweder als repressives Projekt der Vorherrschaft einer Ethnie über andere zu betreiben oder eine Situation der Konkurrenz unterschiedlicher Nation-Building-Projekte der verschiedenen Ethnien herbeizuführen. Beides führt zur Verschärfung bestehender Konflikte und öffnet die Gefahr, dass diese zukünftig gewaltsam ausgetragen werden.

Jeder Prozess des Nation-Building beinhaltet die Schaffung neuer politischer und gesellschaftlicher Strukturen und Mechanismen, zugleich aber die Überwindung und Zerstörung alter. Deshalb ist er immer und notwendigerweise mit der Neuverteilung von Macht verbunden: Nation-Building hat politisch, ökonomisch und sozial Gewinner und Verlierer – und deshalb kann es auch als Mittel eingesetzt werden, um der eigenen politischen oder sozialen Gruppe Vorteile zu verschaffen.
Die Durchsetzung einer Zentralregierung, wo es zuvor vielleicht nur regionale oder lokale Machthaber oder weitgehend autonome dörfliche Gemeinschaften gab, die bürokratische Verregelung eines politischen Systems, das früher auf personalen Bindungen, Klientelbeziehungen oder charismatischer Herrschaft beruhte, stellen nicht einfach Elemente einer eher technischen „Modernisierung“ gesellschaftlicher Strukturen dar, sondern eine Machtumverteilung, die von manchen Gruppen als positiv, von anderen als bedrohlich empfunden wird. Darum ist Nation-Building immer ein konfliktiver Prozess, der politisch, kulturell, sozial, ökonomisch oder militärisch ausgekämpft wird. Sobald eine Gesellschaft in dieser Situation zusätzlich zu den ökonomischen, sozialen und anderen Konfliktlinien auch noch ethnisch oder religiös gespalten ist, wird dem bestehenden Konfliktpotenzial eine weitere Dimension hinzugefügt, die den Konfliktverlauf sowohl verschärfen, als auch völlig neu strukturieren kann. So können etwa Verteilungs- und Machtkonflikte ethno-religiös ideologisiert werden, was den sozialen Mobilisierungsgrad weiter erhöht und pragmatische Lösungsmöglichkeiten erschwert. Das gilt natürlich auch für Fälle, in denen Nation-Building vor allem als Strategie externer Akteure versucht wird: gleichgültig, ob deren Intentionen humanitär oder imperial sind, im Zielland muss Nation-Building zu passivem oder aktivem Widerstand und einer Verschiebung der Machtverhältnisse führen.

Nation-Building als Konzept
Wenn heute über Nation-Building als Element der Krisenprävention und Mittel der Konfliktnachsorge diskutiert wird, sollten die allgemeinen Hintergründe, Erfahrungen und Probleme im Zusammenhang mit Nation-Building nicht verdrängt werden. Selbstverständlich können stabile, funktionierende Nationalstaaten im Vergleich zu fragmentierenden Gesellschaften und einer Situation des Staatszerfalls besser für die Sicherheit ihrer Bürger, für soziale und wirtschaftliche Entwicklung und für regionale Stabilität sorgen. Deshalb sind behutsame und kluge Politiken zur Unterstützung von Nation-Building-Prozessen sinnvoll. Aber man sollte sich davor hüten, das Konzept für eine einfache Lösung zu halten, die sich unabhängig von den lokalen Voraussetzungen überall anwenden ließe. Dafür sind die Risiken und der Ressourceneinsatz zu hoch (dazu Hippler, im Schlusskapitel dieses Bandes).

Es ist auch nicht hilfreich, den Nation-Building-Begriff seines Inhalts zu entleeren und nur als Sammelkategorie aller nicht-militärischen Politikinstrumente oder als synonym mit peace-keeping zu verwenden, wie dies häufig geschieht. Der Prozess der Integration oder Fragmentierung von Gesellschaften und Staaten ist außen-, entwicklungs- und friedenspolitisch zu wichtig, um ihn durch schematische Begriffsverwendungen aus dem Auge zu verlieren. Wie derzeit verwendet, kann Nation-Building ein Euphemismus für imperiale Kontrolle, eine leere Beschwörungsformel zur Verdeckung eigener Hilflosigkeit oder ein Schlüsselkonzept der Entwicklungspolitik und Krisenprävention sein. Im letzteren Fall kommt es allerdings darauf an, den Begriff mit Inhalt zu füllen, seine Grenzen und Fallstricke im Blick zu halten, seine Chancen auszuloten und ihn zu einem anwendungsfähigen Konzept auszugestalten. Zu diesen Zwecken möchten die Autorinnen und Autoren dieses Bandes einige Hintergründe ausleuchten und Probleme wie Vorschläge skizzieren. Der erste Teil konzentriert sich auf wichtige allgemeine Rahmenbedingungen und Querschnittsfragen, der zweite untersucht aktuelle Fallbeispiele von Nation-Building und im dritten Teil werden Fragen möglicher Politikansätze diskutiert.
 

 


Literatur

Atwood, J. Brian, 1994: Nation Building and Crisis Prevention in the Post-Cold War World, in: Brown Journal of World Affairs, Jg. 2/1 (Winter), S. 11-17.

Eriksen, Thomas Hylland, 1993: A Future-Oriented, Non-Ethnic Nationalism? – Mauritius as an Exemplary Case, in: Ethnos, Jg. 58, S. 197-221.

FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), 1994: Mit und bald ohne Aristide taumelt Haiti wieder ins Ungewisse, in: FAZ, 16. Dezember 1994, S.  8.

Greenfeld, Liah, 1992: Nationalism: Five Roads to Modernity. Cambridge 1992.
Hippler, Jochen, 2001: Kultur und Wissen: Trends und Interdependenzen, in: Stiftung Entwicklung und Frieden, Globale Trends 2002 – Fakten, Analysen, Prognosen, hg. von Ingomar Hauchler, Dirk Messner, Franz Nuscheler. Frankfurt/M. 2001, S. 135-155.

Hippler, Jochen, 2002: Ethnicity, State, and Nation-Building – Experiences, Policies and Conceptualization, Manuskript.

Lenhart, Lioba, 1992: Indonesien: Die Konzeption einer nationalen Kultur im Kontext des nation building, in: Orientierungen – Zeitschrift zur Kultur Asiens, Sonderheft Indonesien, S. 83-103

Lipset, Seymour Martin, 1963: The First New Nation: The United States in Historical and Comparative Perspective. London 1963.

Newsweek, 1994: Can Haiti be Saved? – Nation-Building: Clinton is Avoiding the Term, but That’s the Job He’s in, in: Newsweek, 3. Oktober 1994, S. 16f.

Rivkin, Arnold, 1969: Nation-Building in Africa: Problems and Prospects. New Brunswick 1969.

UN Chronicle, 1994, hg. von United Nations Organization. New York Juni.
 

 

Quelle:
Jochen Hippler (Hrsg.),
Nation-Building – ein sinnvolles Instrument der Konfliktbearbeitung?,
Dietz Verlag (Bonn), Reihe Eine Welt der Stiftung Entwicklung und Frieden, erscheint im Dezember 2003
 

 

weitere Texte zu Gewaltkonflikten, Friedens- und Sicherheitspolitik hier

 

 

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