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Jochen Hippler

 

Ende der Erstarrung - Umbruch im Nahen und Mittleren Osten

 

 

Die Herrscher des Nahen und Mittleren Ostens haben Grund zur Beunruhigung, spätestens seit die Demonstranten in Tunesien den langjährigen Diktator Ben Ali zum Rücktritt zwangen. Die internationale Öffentlichkeit hat ihre Aufmerksamkeit von dort nach Ägypten und dann nach Libyen verschoben. Zugleich schwanken die professionellen Beobachter zwischen der These eines Dominoeffekts, nachdem ein Umsturz den nächsten nach sich zöge, und der Annahme, daß die Länder der Region so unterschiedlich sind, daß ein solcher Effekt kaum vorstellbar sei. Beides ist für sich genommen plausibel. Die schnelle Abfolge der Massenmobilisierung in Tunesien, Ägypten, Libyen und zahlreichen anderen Ländern dürfte kaum zufällig sein, nachdem es so lange ruhig geblieben war. Zugleich trifft es zu, daß etwa Libyen, Ägypten, Tunesien, Bahrain, der Yemen oder andere arabische Länder so unterschiedlich sind, daß eine einzige, gemeinsam Ursache der Umwälzungen kaum unterstellt werden darf. Es besteht die Gefahr, daß entweder durch die dramatischen Entwicklungen in einzelnen Ländern der regionale Gesamtblick verloren geht, oder daß umgekehrt die einzelnen Entwicklungen alle über einen gesamtarabischen Leisten geschlagen werden. Die Lösung dieses Widerspruchs dürfte in der Dialektik regionaler und lokaler Entwicklungen liegen.

So sollte daran erinnert werden, daß die gegenwärtige Entwicklung nicht erst in Tunesien begann und auch nicht auf arabische Länder beschränkt ist. Bereits 2005 begehrte ein großer Teil der libanesischen Bevölkerung gegen ihre pro-syrische Regierung und die syrischen Besatzungstruppen auf - die Regierung stürzte, die syrischen Truppen zogen noch im gleichen Jahr ab. 2007/2008 kam es zu Massendemonstrationen in Pakistan, also außerhalb der arabischen Welt, die den Militärherrscher Musharraf zum Rücktritt zwangen. 2009 demonstrierten im Iran bis zu drei Millionen Menschen gegen die Wahlfälschung des Regimes und forderten Demokratie, wenn auch nicht unbedingt nach westlichem Muster. Diese Bewegung wurde - zumindest bis heute - durch Einschüchterung und Gewalt niedergeschlagen, ohne daß der Konflikt dauerhaft gelöst wäre. Anfang 2011 begannen dann die Demonstrationen und Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen, wo in wenigen Wochen langjährige Diktatoren stürzten und in Libyen das herrschende Regime bis in die Grundfesten erschüttert wurde. Große Demonstrationen im Jordanien, dem Yemen und in Bahrain konnten von den herrschenden Eliten nicht mehr ignoriert werde, aber auch in Ländern wie Marokko, Algerien, dem Irak, erneut dem Iran, dem Oman und - wenn auch in kleinerem Umfang - in Saudi Arabien kam es zu Demonstrationen und Reformforderungen. Auch wenn alle diese Länder in sehr vielem grundlegend unterscheiden, würde es doch die Vorstellungskraft übersteigen, hier an ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen glauben zu wollen. Manchmal lag der Zusammenhang auf der Hand, wenn etwa in Teheran Demonstranten ihre Solidarität mit dem ägyptischen Umbruch ausdrücken wollten, nur um von der Polizei zusammengeschlagen zu werden, deren Regierung offiziell ebenfalls den ägyptischen Umsturz begrüßt hatte. In anderen Fällen war der regionale Zusammenhang weniger deutlich, aber vorhanden.

Trotz aller Unterschiede zwischen den Ländern der Region scheint es also Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten zu geben, die die nahezu zeitgleichen Massenbewegungen erklären. Dazu gehören die Eigenschaften des Staatsapparates und sein Verhältnis zur Bevölkerung. Vor Beginn der gegenwärtigen Umwälzungen hatte der Arab Human Development Report 2004 eine sehr hellsichtige Bestandsaufnahme der arabischen Staatsapparate unternommen und dabei das Fehlen von freien und fairen Wahlen, massive Beschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit, Mißachtung der Menschenrechte und die Instrumentalisierung der Justiz durch die Regierung diagnostiziert.

"In einem solchen Regime wird selbst die regierende Partei zu einem bloßen Teil des Verwaltungsapparates, der von ‚Beamten geführt wird, die weder über Energie noch Effizienz’ verfügen. … Wir können dieses Modell mit einem ‚Schwarzen Loch’ vergleichen, also mit dem astronomischen Phänomen erloschener Sterne, die sich zu einem Materieball verdichten und zu gigantischen Magnetfeldern werden, aus denen nicht einmal Licht entkommt. Der moderne arabische Staat nähert sich in einem politischen Sinn diesem Modell, bei dem der Verwaltungsapparat einem Schwarzen Loch gleicht, das seine soziale Umgebung so umformt, dass sich nichts mehr bewegt und dem nichts entrinnen kann."

Dieses Grundmodell gilt nicht für alle Staaten der Region im gleichen Maße, gibt aber doch präzise die wichtigsten Charakteristika an - unabhängig davon, ob es sich um Monarchien oder Republiken handelt, oder um "linke", säkulare oder religiös legitimierte Regime. In einigen Ländern kommt es dadurch zu Abweichungen, daß der Staat die Gesellschaft weniger durchdrungen hat, etwa weil Stämme noch Bereiche und Regionen dominieren, in denen der Staatsapparat keine durchgreifende Kontrolle ausübt (Yemen), oder die Fragmentierung der Gesellschaft eine umfassende Kontrolle der Gesellschaft durch den Staat erschwert oder verhindert (Libanon). In solchen Fällen beschränkt sich die überwältigende Rolle des Staates entweder auf Teile des eigenen Landes (erneut der Yemen), oder wird durch ein starkes Element der Instabilität ergänzt, das immer wieder in Gewalt umschlagen kann, wie dort, aber auch im Libanon. Im nicht-arabischen Nachbarland Pakistan besteht durch sein Pendeln zwischen Militärherrschern und einer deformierte Demokratie ein Staatsmodell, das neben Gemeinsamkeiten auch erkennbare Unterschiede zum arabischen aufweist. Der Iran allerdings hat sich trotz aller ideologischen Unterschiede gerade unter Präsident Ahmadinejad diesem Modell angenähert und erinnert im Charakter seines Staatsapparates in manchem an das säkulare Syrien. Allerdings ist die iranische Gesellschaft in vieler Hinsicht bereits deutlich selbstbewußter als die syrische.

Interessant ist die Rolle politischer Ideologien in der Region, wo sie von den Regierungen noch offensiv propagiert werden: Wenn große Sektoren der Bevölkerungen auch über ausgeprägte nationale oder religiöse Identitäten verfügen, so sind entsprechende Staatsideologien weitgehend diskreditiert. Das "Grüne Buch" Muammar Ghaddafis beispielsweise wird schon seit langem selbst von den meisten Staatsbeamten nicht mehr ernst genommen, der Arabische Nationalismus oder Panarabismus mag zwar in Teilen der arabischen Bevölkerungen noch Sympathien wecken, ist als Staatsideologie aber lange völlig diskreditiert, auch die ehemals links-nationalistischen Ideologien der Baath-Parteien in Syrien und im Irak Saddam Husseins sind lange verdorrt und unglaubwürdig, wie auch im Iran die Instrumentalisierung des Islam als staatliche politische Ideologie selbst bei gläubigen Muslimen diskreditiert ist. Die Staatsideologien haben ihre legitimatorische Funktion lange verloren - wo sie nicht ohnehin in den Hintergrund traten, dienen sie in den letzten Jahren primär dazu, den Bevölkerungen deutlich zu machen, wo im Lande die Macht liegt: Der Zwang einer öffentlichen Unterwerfung unter eine unglaubwürdige Ideologie wurde zum Machtinstrument, gerade weil sie diskreditiert war. Andere Regime machten sich kaum noch die Mühe, eine legitimierende Ideologie zu simulieren.

Hinter der Fassade einer Erstarrung und Versteinerung der politischen Verhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten die Gesellschaften deutlich weiterentwickelt: Die Mittelschichten von Marokko bis Pakistan sind stärker und selbstbewußter geworden, in vielen Ländern ist das Bildungsniveau deutlich gestiegen - beides wichtige Voraussetzungen für politische Mobilisierung und Opposition. Die Nutzung moderner Kommunikationsmittel - wie Facebook und Twitter - ist hier eher ein Symptom grundlegenderer Änderungen als Ursache der Mobilisierung. Zugleich kam es zu einem beträchtlichen sozioökonomischen Problemstau, etwa bezüglich der (insbesondere Jugend)-Arbeitslosigkeit, der Korruption und geringen staatlichen Kompetenz, während die Geduld selbstbewußter Mittelschichten angesichts dieser Probleme sank. Schließlich muß berücksichtigt werden, daß die Legitimität der Regime nicht allein aufgrund ihrer Inkompetenz, Korruption, ihres repressiven Verhaltens und der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit dramatisch sank, sondern daß in vielen Fällen die eigenen Diktatoren nur mehr als Marionetten ausländischer Mächte wahrgenommen wurden - Ben Ali und Mubarak in Tunesien und Ägypten sind klassische Beispiele.

Insgesamt also hat sich in der gesamten Region eine Konstellation entwickelt, bei der sich diverse Konfliktursachen miteinander verbanden - die allerdings in den unterschiedlichen Ländern durchaus unterschiedlich gewichtet sind. Überraschend sind deshalb nicht die Massenmobilisierungen an sich, sondern nur ihre Geschwindigkeit und zeitliche Synchronismus.

Bemerkenswert ist auch ihr Charakter, insbesondere ihre soziale und ideologische Breite. In Pakistan, dem Iran, Tunesien und Ägypten beteiligten sich wirtschaftlich und sozial benachteiligte und schwache Bevölkerungsgruppen ebenso wie Intellektuelle, Staatsbeamte, alte und neue Mittelschichten, sogar Unternehmer. Rechte, linke, religiöse, islamistische und säkulare Strömungen sind vertreten. Religiöse und islamistische Gruppen und Parteien sind zwar beteiligt, aber weder organisatorisch noch ideologisch dominant. Hier spiegelt sich die langsame Schwächung des Islamismus, der nur von den Kriegen in Afghanistan und dem Irak eine Zeitlang aufgehalten wurde. Die ägyptischen Muslimbrüder erklärten öffentlich und zu Recht, daß es sich nicht um eine "islamische" Bewegung, sondern um eine anti-diktatorische und demokratische handele. Der erstaunlichen Breite der Bewegung entspricht ihr Mobilisierungspotential, das sich in zum Teil riesigen Demonstrationen manifestierte. Zugleich aber ist der Organisationsgrad der Bewegungen oft gering, informelle Netzwerke dagegen ausgeprägt. Der bis vor kurzem fast jede soziale und politische Initiative und Organisation erstickende Staatsapparat ist wesentlich dafür verantwortlich, daß Parteien und andere Organisationen der Zivilgesellschaft noch eher schwach vertreten sind - so können die Oppositionsbewegungen zwar von den Repressionsorganen schlecht bekämpft werden, stellen aber kaum eine organisierte Machtalternative dar. Dies könnte sich in den nächsten Jahren allerdings ändern, wenn der nun erkämpfte Spielraum für den Aufbau handlungsfähiger und in der Gesellschaft verankerter Organisationen genutzt wird.

Diese Konstellation ist auch eine Ursache dafür, daß die Umstürze nicht sofort zur Machtübernahme der Opposition führten, sondern zu Übergangsregierungen, in denen Vertreter der alten Eliten weiter stark vertreten sind oder den Übergangsprozeß gar leiten. Deshalb wäre es verfehlt, in Ägypten und Tunesien schon von einem Sieg der Opposition auszugehen. Der Kampf um die grundlegende, demokratische Umgestaltung der Länder der Region hat gerade erst begonnen, und sein Ausgang wird erst ein einigen Jahren abzusehen sein. Es ist noch nicht ausgeschlossen, daß der überfällige Reformprozeß steckenbleiben wird und es Teilen der alten Machteliten gelingen kann, durch begrenzte Reformen ihre Position zu sichern. Die Ergebnisse des libyschen Umbruches, bei dem die anti-diktatorische Mobilisierung schnell in einen bewaffneten Aufstand und Bürgerkrieg überging, sind gegenwärtig noch weniger prognostizierbar.

Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, daß der Nahe und Mittlere Osten zur Erstarrung der Vergangenheit zurückkehren wird. Vieles spricht dafür, daß die Entwicklung der nächsten Jahre widersprüchlich verläuft. Der bisherige Erfolg der Reformbewegungen und der massive Druck aus den Gesellschaften in vielen anderen Ländern dürfte nur in einzelnen Ausnahmefällen zu entwickelten und konsolidierten Demokratien führen, die aber - falls sie gelingen - eine wichtige Vorbildfunktion hätten. In den meisten Ländern allerdings wäre schon viel gewonnen, wenn es zu autoritär-partizipativen Mischsystemen käme, die die Machteliten unter dem Druck ihrer Gesellschaften schrittweise zugestehen. Das würde gemilderte autoritäre Regime bedeuten, die etwa bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Bevölkerung Ventile öffnen, ihr eine begrenzte Partizipation gestatten und vielleicht gar - vermutlich manchen Einschränkungen unterworfene - Wahlen erlauben. In einigen Ländern sollte aber auch mit der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung harter repressiver Diktaturen und der Fossilisierung der politischen Verhältnisse gerechnet werden. Insgesamt allerdings dürfen wir mit einer mittelfristigen Verschiebung der Regime des Nahen und Mittleren Ostens vom Modell des "Schwarzen Lochs" zu einem kontrollierten Pluralismus erwarten, die autoritäre mit demokratischen Elementen verbände. Damit wäre die Region noch nicht demokratisiert, aber zumindest die Erstarrung durchbrochen und eine Chance eröffnet, daß sich ihre Gesellschaften dynamischer weiterentwickeln könnten.

 

 

Jochen Hippler
Das Ende der Erstarrung - Die arabische Revolution: Von der Diktatur zur Demokratie?
in: Blätter für deutsche und internationale Politik, April 2011, S. 69-73
 

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