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Jochen Hippler

Dialog als Ausweg? –
Anmerkungen zu einem interkulturellen Dialog zwischen westlichen und muslimisch geprägten Gesellschaften

 

 

Im Irak herrscht weiter Krieg und Bürgerkrieg. Als US-Präsident Bush in Mai 2003 triumphalistisch verkündete, die Eroberung des Irak sei erfolgreich abgeschlossen („mission accomplished“), stand die eigentliche Herausforderung um die Kontrolle des Irak noch bevor. Auch die Zahlen an zivilen Opfern würden nach dem vermeintlichen Kriegsende als wesentlich höher erweisen, als während des völkerrechtswidrigen Kriegsabenteuers selbst: Heute liegen sie bereits in höheren sechsstelligen Bereichen.

Die Situation in Afghanistan ist kann ebenfalls nicht als Erfolgsmodell von Außen- und Sicherheitspolitik betrachtet werden. Waren die Taliban im Herbst 2001 politisch schwach und in der Bevölkerung diskreditiert und kaum noch handlungsfähig, haben sie seit 2004 immer stärker vermocht sich zu reorganisieren und zur Offensive überzugehen. Afghanistan wurde zu einem ernsten Streitfall in der NATO, zu ihrer „entscheidenden Bewährungsprobe“. Heute ist vom früheren Optimismus kaum etwas geblieben, es herrschen Ernüchterung und Besorgnis. Durchhalteparolen und eine höhere Dosis alter Rezepte bestimmen das Bild.

In beiden Ländern kam es zu menschenrechtsverletzenden Praktiken der westlichen Führungsmacht, die die Politik Washingtons weltweit diskreditierten: Die Folterpraktiken, Entführungen und andere Skandale, die sich hinter Orten wie Abu Ghraib, Guantanamo und Bagram verbergen, wurden zu Symbolen für den Mißbrauch von Macht.

Die fortgesetzte Besatzungssituation mit ihren Menschenrechtsverletzungen und die israelische Siedlungstätigkeit in Palästina bleiben ein dauerhafter Konfliktherd, der die westlich-arabischen Beziehungen belastet. Und der von den USA und Regierungen in Europa (einschließlich der deutschen Bundeskanzlerin) unterstützte Libanonkrieg von 2006 unterstrich erneut, daß von einer ausgewogenen und völkerrechtsorientierten Politik des Westens im Nahen und Mittleren Osten nicht einmal ansatzweise die Rede sein kann.

In den zwei Jahrzehnten nach Ende des Kalten Krieges kam es zu einer neuen, scharfen Konfrontation – nicht zwischen „dem“ Westen und „dem Islam“, aber doch zwischen starken politischen Kräften in Nordamerika und Europa einerseits, und offensichtlich weit schwächeren des Nahen und Mittleren, aber auch des Fernen Ostens andererseits. Aufgrund der offensichtlich asymmetrischen Machtverhältnisse – allein der Rüstungshaushalt der USA beträgt heute rund die Hälfte aller weltweiten Rüstungsausgaben, dazu kommen die der restlichen NATO und der westlichen Verbündeten (wie Japan, Australien, etc.) – nimmt diese politische und gewaltsame Auseinandersetzung nicht die Form konventioneller Kriege an, sondern äußert sich in Aufständen, paramilitärischen und Guerillakämpfen und durch den internationalen Terrorismus. Die Verbrechen des 11. September 2001, in Madrid und London belegen die Gefährlichkeit auch relativ kleiner, gewaltbereiter Gruppen in solchen asymmetrischen Konflikten.

Diese Konfrontationen lassen gewaltige Spuren im Denken und Fühlen der Öffentlichkeit in beiden Regionen, in Nordamerika und Europa einerseits wie dem Nahen und Mittleren Osten. Wechselseitige Bedrohungsvorstellungen gerieten zunehmend ins Zentrum der Politik. Diese konnten durchaus auf reale Gewalterfahrungen verweisen – die erwähnten Anschläge, Kriege und Besatzungssituationen liefern reichlich Beispiele für die Gefährlichkeit der jeweils „anderen Seite“. Kompliziert wird die Lage noch dadurch, daß die realen machtpolitischen Konflikte immer stärker kulturalisiert und zu Identitätsfragen umgeformt wurden. Dies galt im Westen wie im Nahen und Mittleren Osten: Hier wurde ernsthaft ein „Clash of Civilizations“ diskutiert, dort ein „Krieg gegen den Islam“ unterstellt. Solche Kulturalisierungen führen dazu, die ohnehin schwierigen und komplexen Konflikte noch schwierger lösbar werden zu lassen, als sie es ohnehin bereits sind.

Im Zentrum der damit verbundenen Debatten stand und steht die Frage der politischen Gewalt. Im Westen gerieten Muslime leicht unter Generalverdacht, gewaltbereit oder gewalttätig zu sein – die emotionalisierenden Bilder des 11. September 2001 waren im Fühlen vieler Amerikaner und Europäer tatsächlich mit „dem Islam“ verknüpft – während die säkularen  und religiösen Kräfte im Nahen und Mittleren Osten für bombardierte Hochzeitsgesellschaften, getötete Frauen und Kinder in Afghanistan und dem Irak, Gefangenenmissbrauch bis hin zur Folter, und insgesamt das erschreckende Ausmaß an zivilen Opfern durch die Kriege und Besatzung die USA oder „den Westen“ verantwortlich machen. Die internationale Politik dreht sich seit dem 11. September 2001 verstärkt um die Frage des Umgangs mit politischer Gewalt, um Terrorismus und Krieg, und diese Frage polarisiert und emotionalisiert. Wer heute an einem besseren Verständnis und einer Verbesserung der Beziehungen zwischen westlich und muslimisch geprägten Ländern interessiert ist, muß selbstverständlich über die Lösung der konkreten Gewaltkonflikte nachdenken, die das Verhältnis vergiften, kommt aber um die Frage der kulturalisierenden Konfliktwahrnehmung nicht herum. In diesem Zusammenhang reicht es aber bei weitem nicht aus, über die vorgeblich so unterschiedlichen „Werte“ von westlichen und muslimisch geprägten Gesellschaften zu räsonnieren, sondern gerade die Frage des Umgangs mit Gewalt sollte dabei im Zentrum stehen. Ein interkultureller Dialog kann sie nicht vermeiden, sondern muss sie ins Zentrum stellen, wenn er nicht von vornherein als ideologisches Ablenkungsmanöver erscheinen soll. Die Frage interkultureller Perzeption sollte dabei kein Selbstzweck sein, sondern in den Zusammenhang ziviler Konfliktbearbeitung und der Möglichkeiten einer zivilen Gewaltprävention eingebettet werden. Dabei ist selbstverständlich, daß die konzeptionelle Bearbeitung konfliktverschärfender Kulturalisierung allein und für sich genommen Gewalt weder vermeiden noch beenden kann. Hier wären Illusionen nicht angebracht. Allerdings: In Verbindung mit anderen Ansätzen der Konflikt- und Gewaltbearbeitung – politischer, ökonomischer, sozialer und sicherheits- und friedenspolitischer Art – kann sie einen relevanten Beitrag leisten.

Es war in den letzten Jahren häufig von einem „Dialog mit der islamischen Welt“ die Rede, um das wechselseitige Verständnis zu verbessern und langfristig neuer Gewalt vorbeugen zu helfen. Häufig allerdings waren solche Dialogversuche wenig hilfreich, weil sie sich zu oft auf die wechselseitige Versicherung von Kooperation und auf die Beteuerung beschränkten, dass sowohl der Westen als auch „der Islam“ eigentlich ganz friedfertig seien. Ein höflicher Austausch von Beschwörungsformeln durch die Wohlmeinenden beider Seiten hat sicher nicht geschadet – genützt allerdings hat er kaum. Dafür gibt es vor allem drei Gründe: erstens den nicht zu übersehenden Tatbestand, dass die Deklaration wechselseitiger Friedfertigkeit zu offensichtlich im Widerspruch zu den Tatsachen stand und steht – die sehr realen Erfahrungen von Terrorismus und Krieg lassen es nicht zu, sich durch die Erklärung guter Absichten über solche harten Realitäten hinwegzumogeln. Es fällt auf, dass terroristische Verbrechen nur zu häufig im Namen „des Islam“ oder beispielsweise der völkerrechtswidrige Irakkrieg im Namen „westlicher Werte“ (wie Demokratie) begangen wurden. Hinweise, dass die westlichen Werte der Aufklärung oder des Humanismus oder die Werte des Islam jeweils friedlich seien, überzeugen dann nur die eigene Seite, wirken für Andere aber hohl.

Zweitens litten – und leiden - die Dialoge auch daran, dass sie nicht außerhalb der politischen Realität stattfinden können. Jeder neue Terrorakt und jeder neue Luftangriff auf arabische oder afghanische Zivilisten demonstriert, dass gut gemeinte Worte und Versicherungen an der Substanz politischer Interessenskonflikte und militärischen Absichten allein nichts ändern. Anders ausgedrückt: der Dialog fand in einem engen Käfig der konfrontativen politischen Rahmenbedingungen statt, die ihn an seiner Entfaltung hindern. Solange die tatsächliche politische Gewalt immer wieder die Verständigungsabsichten eines Dialoges dementiert, wird er nur sehr geringen Spielraum haben.

Drittens: Die Wahl der Dialogthemen trug zusätzlich dazu bei, die Wirksamkeit des Austausches zu vermindern. Wenn Dialog auf das Feld der Religion oder auf die Diskussion allgemeiner – und notwendigerweise vager – „Werte“ verengt wird, führt ihn das leicht in ein Ghetto: Religiöse oder Wertediskussionen sind selten schädlich, reichen aber nicht aus und verlagern die Debatte zugleich ins kaum Greifbare und Sekundäre: Anstatt die harten Interessen und Konflikte ins Zentrum zu rücken, die in aller Regel zu Gewalt führen, die dann erst religiös oder durch „Werte“ gerechtfertigt werden, führen quasi-religiöse oder kulturalistische Diskurse oft zu unverbindlichen Bekenntnissen, dem Formulieren von Meinungen und Ansichten übereinander – insgesamt also auf ein Feld des Austauschs von Subjektivitäten. Wenn dieser aber von den harten politischen Erfahrungen und Realitäten getrennt bleibt, wirkt ein solcher Dialog schnell steril, irrelevant und als Ablenkungsmanöver. Dies bedeutet nicht, das interreligiöser (also hier: christlich-muslimischer) Dialog nicht wichtig sei – aber es bedeutet, dass er die Aufgabe der Religionsgemeinschaften und nicht die der Auswärtigen Kulturpolitik oder der gesamten Gesellschaften ist. Gerade auch die Fokussierung auf die interreligiöse Ebene führt leicht dazu, dass wir die Christen im Nahen Osten, die Nicht-Frommen oder säkulare muslimische Gemeinschaften wie die Alewiten selbst ausgrenzen oder deren Ausgrenzung fördern, und so den religiösen Homogenisierungsdruck in der Region noch unterstützen. Das kann nicht Aufgabe eines interkulturellen Dialoges sein.

Mit dieser Kritik an manchen Dialogströmungen ist der interkulturelle Dialog mit muslimisch geprägten Gesellschaften allerdings nicht abgetan. Es muss vielmehr darum gehen, neu über mögliche Wege nachzudenken, die bisherige Praxis fortzuentwickeln.

Dazu können unter anderem folgende Ansätze beitragen:

1. Dialog muss die Bereitschaft beinhalten, zuerst den Balken im eigenen Auge zu bemerken, bevor man den Splitter im fremden zum Thema macht. Das gilt für beide Seiten: Westliche Dialogpartner dürfen nicht verdrängen, dass auch sie für viele Menschen des Nahen und Mittleren Ostens bedrohlich erscheinen, dass die Erfahrungen des Kolonialismus, der westlichen Dominanz, der Kriege und Besetzungen durch westliches Militär oder die Unterstützung nahöstlicher Diktatoren zu Recht als Ausdruck westlicher Gewaltsamkeit erscheinen. Umgekehrt dürfen Partner aus dem Nahen und Mittleren Osten nicht ignorieren, dass aus muslimischen Gesellschaften auch Gewalttäter wie Saddam Hussein oder Usama bin Ladin erwachsen sind, dass auch aus muslimisch geprägten Ländern nach innen und außen grauenvoll Gewalttaten ausgeübt wurden und werden. Gewalt ist ein gemeinsames Problem westlicher und muslimisch geprägter – und aller anderen – Gesellschaften.

2. Dialog darf nicht allein auf die Gegenseite zielen, sondern muss auch die eigenen Denkvoraussetzungen neu reflektieren. Im Westen tun wir häufig so, als hätten sich aus unserer Geistesgeschichte – etwa der Aufklärung – ausschließlich Werte und Praktiken der Humanität entwickelt – während die westlich geprägte Moderne tatsächlich auch gesellschaftliche Monstren wie den Stalinismus, Kolonialismus, den wissenschaftlichen Rassismus und den Faschismus hervorbrachte. Unsere Moderne, auf die wir oft so offensiv stolz sind, verfügt über ein Doppelgesicht von Humanität und bürokratischer Entmenschlichung, und wir sind keine glaubwürdigen Gesprächspartner, wenn wir nur unsere positive Tradition beschwören und die dunkle Seite unserer Geschichte unter den Teppich kehren. Umgekehrt ist es ebenso nutzlos, wenn Muslime reflexartig aus dem Islam und der muslimischen Geistestradition und Geschichte nur die Friedfertigkeit und Verständigungsbereitschaft herauslesen wollen, und Unterdrückung, Brutalität und Gewalt systematisch übersehen. Dialog muss bedeuten, auch über uns selbst neue Sichtweisen zu lernen bereit zu sein, sonst wird er leicht zum wechselseitigen Monolog.

3. Dialog muss vor allem über die schwierigen und schmerzhaften Dinge sprechen. Er muss vor allem um die tatsächlichen Konflikte, Auseinandersetzungen, Interessen und Probleme geführt werden, und darf sich dem nicht durch eine Flucht ins Abstrakte entziehen. Er muss zwar in der Form höflich und respektvoll sein, darf sich aber in der Sache gerade den schwierigen Konfliktpunkten nicht verweigern. Deshalb scheint es angebracht, gerade die politische Gewalt ins Zentrum der Debatte zu rücken – diese bestimmt die politische Tagesordnung, sie prägt die wechselseitigen Ängste voreinander und emotionalisiert die Beziehungen, sie kann deshalb nicht ausgeklammert werden, sondern muss kritisch und selbstkritisch thematisiert werden. Darüber hinaus sollte Dialog mit der Absicht konkreter Problemlösung betrieben werden und sich nicht auf bloßen Meinungsaustausch beschränken.

4. Dialoge müssen auch mit politischen Gegnern geführt werden, nicht primär mit den eigenen Spiegelbildern oder Geistesverwandten. Das galt im Kalten Krieg, als Dialog und Entspannungspolitik bedeuteten, gerade mit der Sowjetunion zu sprechen, von der sich der Westen bedroht fühlte – heute müssen auch die gesprächsbereiten islamistischen Kräfte am Dialog teilhaben. Dialog bedeutet nicht die Übernahme gegnerischer Positionen oder die politische Verbrüderung, sondern die respektvolle Auslotung von Gemeinsamkeiten und Differenzen zur Findung praktischer Lösungen – wo dies möglich ist. Gerade die Entwicklung in der Türkei (etwa die Herausentwicklung der gegenwärtigen Regierungspartei AKP aus der islamistischen Refah Partisi) und einigen anderen Ländern hat gezeigt, dass auch der Islamismus kein homogener, unveränderlicher Block ist, sondern wandelbar und durchaus Reformpotential für die eigenen Gesellschaften enthalten kann. Auch deshalb wären Berührungsangst und Diskussionsverweigerungen gegenüber gesprächsbereiten islamistischen Strömungen kontraproduktiv.

Sprechen wir von „westlicher“ oder „muslimischer“ Gewalt, stellt sich sofort das Problem, wen wir genau mit diesen Begriffen meinen. Wir neigen dazu, die jeweils andere Seite mit pauschalisierenden Begriffen zu belegen, auch wenn wir genau wissen, dass die eigene sehr heterogen und differenziert strukturiert ist. Was oder wen meinen wir eigentlich, wenn wir von „der muslimischen Welt“ sprechen? Es kann sich kaum um eine religiöse Begriffsbestimmung handeln, weil wir damit ja religiöse Minderheiten (z.B. Christen in Ägypten, Palästina, dem Libanon oder Hindus in Malaysia) ebenso ausschließen würden wie säkulare, agnostische oder a-religiöse Strömungen. Außerdem: wenn wir von „der muslimischen Welt“ (oder Kultur, Zivilisation, etc.) sprechen, gruppieren wir sehr unterschiedliche Gesellschaften zusammen, die objektiv und subjektiv nur wenig gemeinsam haben. Die algerische, yemenitische, pakistanische und indonesische Gesellschaften beispielsweise mögen alle vom Islam auf die eine oder andere Art geprägt worden sein, sind aber trotzdem in vielen Kernbereichen kaum vergleichbar. Sie alle in einer Gruppe begrifflich zusammenzufassen kann leicht in die Irre führen und ein Merkmal betonen, das für ihr Verständnis nicht immer zentral sein muss. Nicht selten wehren sich auch muslimische arabische Intellektuelle mit gutem Grund, von Beobachtern im Westen primär als Muslime, und nicht zuerst als Araber, als Intellektuelle, oder als z.B. Ägypter oder Marokkaner wahrgenommen zu werden. Wenn wir also pauschalisierende Begriffe – wie „die muslimische Welt“ – verwenden, gilt es, sorgfältig im Auge zu behalten, dass wir der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der dortigen gesellschaftlichen, ethnischen, nationalen, ideologischen, religiösen, politischen und anderen Realitäten nicht wirklich gerecht werden. Das gilt in besonderem Maße, wenn wir über die Frage des Gewaltpotentials in muslimisch geprägten Gesellschaften sprechen. Aussagen darüber, wie gewalttätig oder friedfertig muslimisch geprägte – oder westliche – Gesellschaften allgemein sind, müssen also mit größter Zurückhaltung getroffen werden, wenn man sich nicht auf Klischees beschränken möchte. Insgesamt gilt es daher, den Dialog mit den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens zu führen und sich nicht auf deren religiöse Strömungen zu konzentrieren. Selbstverständlich gehören die religiösen Kräfte dazu, aber sie sind nur ein Teil der dortigen Realität. So wenig wie sie ausgeschlossen werden dürfen, so wenig dürfen sie zu den alleinigen oder zentralen Diskussionspartnern gemacht werden.

Ein wichtiges Hemmnis offener, selbstreflektiver Diskussion besteht – darauf wurde hingewiesen – in einer wechselseitig oft pauschalisierenden Wahrnehmung. Dabei zeigt sich, dass manche Denk- und Argumentationsmuster uns immer wieder im Wege stehen, die andere Seite auch nur realistisch wahrzunehmen – was einen Dialog erschwert. Bezogen auf die westlichen Wahrnehmungskurzschlüsse lassen sich beispielhaft die folgenden Mechanismen nennen:

1. Vergleich unterschiedlicher Realitätsebenen
Es wird "der Westen" mit "dem Islam" oder "den islamischen Staaten" verglichen, oder die gesellschaftliche Realität Europas und Nordamerikas mit einer Religion. Selten werden Islam und Christentum gegenübergestellt, kaum Europa und der Nahe Osten. Dadurch entstehen Wahrnehmungsverzerrungen, die in den eigenen Begrifflichkeiten bereits angelegt sind: Wer den Westen mit „dem Islam“ vergleicht, wird im letzteren reflexartig vor allem religiöses, weniger Interessensgegensätze oder verschiedene Akteursgruppen erkennen und auch die im Nahen und Mittleren Osten vorhandenen säkularen Trends leicht übersehen.

2. Übernahme fundamentalistischer Erklärungsmuster
Häufig werden "der Islam" und seine Gefährlichkeit durch Zitate fundamentalistischer oder islamistischer Führer "erklärt". Dabei übernehmen viele westliche Autoren solche Positionen und tragen sie als "islamisch" weiter. Das gleiche Verfahren funktioniert auch ohne Zitate: dann werden die Positionen von Islamisten als "der wahre Islam" unterstellt. Beispiel: Religion und Politik seien im Islam nicht zu trennen – eine historisch eher neue Forderung (Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts), die in der Region höchst umstritten und eher Forderung und Beschwörungsformel denn Realität ist. Wenn Muslime mit einer solchen Forderung nicht übereinstimmen, wird gelegentlich gar gezweifelt, ob es „richtige“ Muslime sind – anstatt zu erkennen, daß zentrale Fragen im islamisch geprägten Kulturraum eben umstritten sind und es sehr unterschiedliche Sichtweisen von Muslimen geben kann.

3. religiöse Interpretation säkularer Politik
Erklärungen nahöstlich-islamischer Akteure werden zum Nennwert genommen. Die Benutzung religiöser Formeln wird automatisch als Zeichen von Religiosität aufgefasst, die Möglichkeit einer bewussten Instrumentalisierung von Religion ignoriert. Westliche Beobachter merken in der Regel schnell, wenn westliche Politiker christliche Formeln nur rhetorisch oder zu Zwecken politischer Instrumentalisierung benutzen. Sobald allerdings muslimische Politiker islamische Formulierungen ebenso verwenden – und das ist keine Seltenheit, sondern weit verbreitet – neigen Menschen in Europa und den USA dazu, dies als Zeichen von Religiosität und nicht von politischer Absicht zu deuten.

4. Die Unterstellung dessen, was bewiesen werden soll
Anstatt den Anteil und die Bedeutung religiöser Aspekte bei Politik im Nahen und Mittleren Osten zu untersuchen, wird von Vornherein eine religiöse Begründung von Politik unterstellt, um dann in einem zweiten Schritt einen angeblich religiösen Charakter von Politik festzustellen. Religiöse Ursachen in fremdes Verhalten hineinzuprojizieren sollte nicht dazu führen, die eigenen Projektionen anschließend für die Realität halten. Dabei ist noch bedeutsam, daß man von der Tatsache, daß religiöse Fragen eine Rolle spielen mögen, nicht darauf schließen darf, daß sie verursachend oder entscheidend seien.

5. Verwechslung von Islam als Religion und islamischer Kultur und Tradition
Die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens sind oft vom Islam kulturell geprägt. Diese Prägung ist in die Alltagskultur übergegangen. Viele scheinbar religiöse Äußerungen haben inzwischen mehr mit Tradition, mit kultureller Identität, auch mit Konservatismus zu tun als mit Religion. Das gilt nicht allein bei Bekleidungsfragen, die ja in unterschiedlichen muslimisch geprägten Ländern, Regionen oder gesellschaftlichen Sektoren sehr unterschiedlich gehandhabt werden, sondern allgemein: Religiöse Sprache ist oft ein Symbolsystem, um ganz säkulare Fragen zu artikulieren. Auch der deutschsprachige Ausruf „Gott sei Dank“ drückt ja eher allgemeine Erleichterung als tiefe Frömmigkeit aus.

6. Geschichtslosigkeit
Ereignisse der Gegenwart brauchen angeblich nicht analysiert zu werden, da sie ja religiös zu erklären sind - und damit aus dem Koran und der Sunnah abgeleitet werden können. Die historischen Entstehungsbedingungen heutiger Erscheinungen werden durch Verweis auf die islamische Frühgeschichte ersetzt. Dies ist bei aktuellen politischen Konflikten allerdings fast immer unsinnig: Die Motivation serbischer, kroatischer oder bosniakischer Kämpfer in den Balkankriegen sollte nicht aus Bibel und Koran abgeleitet werden, sondern aus realen Konflikten und Interessensdifferenzen und deren Genese. Entsprechendes gilt selbstverständlich auch im Nahen und Mittleren Osten.

7. Verzicht auf Analyse von Interessen
Aktuelle Probleme oder Konflikte werden ohne Analyse sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Realitäten und Interessen durch "den Islam" erklärt, wobei der Islam noch auf seine Schriften und die Äußerungen der Theologen verkürzt wird. Wer sich allerdings darum bemühen möchte, die Konflikte in Palästina, Afghanistan oder dem Irak zu verstehen, sollte zuerst nach den Interessen der jeweiligen Akteure fragen – und erst danach deren ideologische Artikulierung dazu in Beziehung setzen. Selbstverständlich läßt sich dann oft ein Rückgriff der Akteure auf theologische Symbolsysteme beobachten – aber deren Sinn bleibt so lange unverständlich, wie sie von den realen Auseinandersetzungen und Interessen getrennt bleiben.

8. Kulturelle Überheblichkeit
Aus der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit des Westens über die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens wird die eigene kulturelle und moralische Überlegenheit geschlossen.

9. Das Verwenden unterschiedlicher Maßstäbe
Was dem Westen erlaubt ist, kann dem Nahen Osten durchaus verboten sein: etwa ABC-Waffen, die im Westen friedensstiftend, anderswo gefährlich sind.

10. Psychologisierung
Was im Westen "Machtpolitik" wäre, wird im Nahen und Mittleren Osten leicht zur "Verrücktheit", "Größenwahn", "Irrationalität". Statt Interessenkonflikte werden psychologische Kategorien erörtert.

Solche Wahrnehmungsverzerrungen können hier nur angedeutet werden. Im Nahen und Mittleren Osten gibt es fast spiegelbildliche auch in Bezug auf „den Westen“. Hier auf beiden Seiten unsere Sprache und unser Denken von bequemen Klischees zu befreien, würde die Chancen für dialogischen Austausch wesentlich verbessern.

Das Problem der Pauschalisierung stellt sich natürlich nicht allein bezüglich muslimischer Gesellschaften, sondern auch bei der Verwendung der Begriffe „der Westen“ oder „westliche Gesellschaften“. „Westen“ klingt wie eine geographische Bezeichnung, meint aber einen Typus der politischen Kultur, der sich nach überwiegender Auffassung aus der griechischen Antike über das christliche Europa des Mittelalters und die Aufklärung bis zur modernen „westlichen“ Gesellschaft entwickelt habe. Zwar gibt es dabei auch eine geographische Dimension – eine so verstandene westliche Welt stammte aus Europa und weitete sich von dort auf andere Weltgegenden aus (etwa nach Nordamerika oder Australien/Neuseeland), fokussiert aber auf ein bestimmtes Set an Philosophie, politisch-kultureller Werte und gesellschaftlicher Mechanismen. Dabei ergeben sich allerdings zwei Problemebenen: einerseits bleibt „der Westen“ ebenso diffus, heterogen und widersprüchlich wie sein Gegenpart, die „muslimische Welt“. Skinheads, Punker und Londoner Bankiers, der Vatikan, Habermas, George W. Bush, Goethe und Britney Spears, Befreiungstheologen in Lateinamerika, weiße Suprematisten in den USA und europäische Atheisten – all diese und zahlreiche andere Kräfte und Persönlichkeiten gehören offensichtlich zum „Westen“, und es ist ausgesprochen schwierig, ihn inhaltlich näher zu bestimmen, wenn man nicht seine persönlichen ideologischen Vorlieben in den Begriff hineinprojizieren möchte. Nicht alle Menschen im Westen sind fraglose Vertreter der Menschenrechte und der Aufklärung, die ja selbst bereits rassistische Denkansätze enthielt – wären sie dann keine Teile der „westlichen“ Kultur?

Der interkulturelle Austausch zwischen „dem Westen“ und „der islamischen Welt“ kann deshalb im eigentlichen Sinne kein Dialog, sondern nur ein Polilog sein, also ein Austausch nicht zweier Seiten, sondern vieler unterschiedlicher Stimmen. Diese Vielfalt macht einen „Dialog“ in gewissem Sinne schwieriger, da unübersichtlicher und komplizierter zu organisieren. Aber sie bietet zugleich eine große Chance, da Schwarz-Weiß Denken so schwieriger wird und die angebliche Konfrontation zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“ in viel komplexere Auseinandersetzungen aufgelöst wird. Dabei wird sich schnell herausstellen, dass viele zentrale Konfliktlinien (z.B. um Demokratie, Energieversorgung, Good Governance) nicht zwischen den Kulturkreisen, sondern innerhalb dieser verlaufen.

In diesem Zusammenhang stellt sich zweitens die Frage, wer eigentlich die Subjekte eines interkulturellen Dialoges sein sollten und können. Regierungen sind selten die geeigneten Träger, einen solchen Dialog der Kulturen selbst zu führen. Gerade beim diplomatischen Verkehr sind Machtaspekte besonders ausgeprägt: Regierungen stellen schließlich nichts anderes dar, als eine Bündelung und Organisierung gesellschaftlicher und staatlicher Macht. Ihre Aufgabe besteht gerade auch darin, die eigenen Interessen nach außen auch gegen Widerstände zu fördern oder durchzusetzen. Wer gegen solche Dialogpartner nicht misstrauisch wäre, ist selber Schuld. Verschärft stellt sich das Problem im Nahen und Mittleren Osten. Dort besteht immer noch ein großer Teil der Regierungen aus Diktaturen oder Pseudodemokratien, die jeweils die eigene Bevölkerung von der Macht ausschließen, unterdrücken, oder ihre Rechte einschränken. Mit genau diesen Kräften einen “Dialog” zu führen mag nützlich sein, ist oft unvermeidbar - aber kann kaum der Kern eines Dialoges der Kulturen sein. Stattdessen kommt es darauf an, noch stärker als bisher einen gesellschaftlichen anstatt diplomatischen Austausch zu erreichen, wie dies auch im früher so konfliktbeladenen deutsch-französischen oder deutsch-israelischen Verhältnis zu einem größeren Verständnis beigetragen hat. Dialoge zwischen den Intellektuellen beider Seiten, zwischen Journalisten, Wissenschaftlern, Politikern, Schülern und Studenten und religiösen Organisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft sind bereits im Gange, sollten aber massiv verstärkt und verstetigt werden. Kontinuität und ein gewisser Mindestumfang sind wichtig, um damit Wirkung zu erzielen. Zugleich aber darf auch von solchem Austausch nicht zu viel erwartet werden. Er kann nur gelingen, wenn auf der politischen Ebene weniger Öl ins Feuer gegossen wird, und wenn die symbolträchtigen Schlüsselkonflikte (wie Palästina und Irak) durch größeres Engagement und stärkeren Druck von außen friedlich gelöst werden. Wenn dies versäumt wird oder misslingt, kann interkultureller Dialog nur den Schaden für die Beziehungen zwischen den westlichen und muslimisch geprägten Gesellschaften begrenzen, aber nicht wirklich zu einer Verständigung führen. Der Erfolg des interkulturellen Dialoges hängt von der Schaffung positiver politischer Rahmenbedingungen ab.

 

Quelle:
Jochen Hippler
Dialog als Ausweg? – Anmerkungen zu einem interkulturellen Dialog zwischen westlichen und muslimisch geprägten Gesellschaften,
in: Hans J. Giessmann/Götz Neuneck (Hrsg.), Streitkräfte zähmen, Sicherheit schaffen, Frieden gewinnen - Festschrift für Reinhard Mutz, Baden-Baden 2008, S. 272-281

 

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