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Jochen Hippler

Die Demokratisierung der Dritten Welt
nach dem Ende des Kalten Krieges

 

 

Über Demokratisierung oder die Schwächung und Beseitigung von Demokratie in der Dritten Welt wird zuerst einmal dort entschieden. Die internen Politikstrukturen können von außen beeinflußt, sie können gefördert oder untergraben werden, aber sie sind kaum jemals von außen künstlich zu schaffen. Da aber andererseits viele Gesellschaften in der Dritten Welt wenig gefestigt und oft zerbrechlich und deren Volkswirtschaften meist vom Ausland und Weltmarkt abhängig sind, spielen äußere Einflüße eine besonders große Rolle.

Eine Erörterung von Demokratie in der Dritten Welt darf deshalb die Rolle der Regierungen des Nordens nicht übersehen. Demokratisierung - oder Entdemokratisierung - im Süden spielt sich immer im Spannungsfeld einer internen Dynamik, bei der verschiedene Fraktionen der Machteliten miteinander und mit den unterschiedlichen Sektoren der von der Macht überwiegend ausgeschlossenen Bevölkerung ringen, und der Nord-Süd-Beziehungen ab. Vor allem wirtschaftlich, aber meist auch politisch, kulturell, technologisch und militärisch hat der Norden ein derart überwältigendes Gewicht, daß die interne Machtdynamik im Süden davon wesentlich beeinflußt wird. Warum sonst hätten die Zusammenbrüche der realsozialistischen Regime in Ost und Mitteleuropa ein so großes Echo in Afrika gefunden?

Nach dem Ende des Kalten Krieges beobachten wir eine Tendenz einiger Regierungen in Europa und Nordamerika, die Dritte Welt demokratisieren zu wollen. Entwicklungshilfe wird von demokratischen Reformen abhängig gemacht, südliche Diktatoren müssen sich Belehrungen und Druck gefallen lassen. Selbst die Weltbank hat, wenn auch verklausuliert und oft hinter dem Begriff good governance verborgen, die Demokratie in der Dritten Welt als Ziel entdeckt. Die US-amerikanische Regierung hatte bereits unter Präsident Reagan einen „Kreuzzug für die Demokratie“ ausgerufen, der jetzt unter anderen Vorzeichen von der Clinton-Administration wiederbelebt wird. Die Europäische Union gefiel sich Anfang der neunziger Jahre darin, Entwicklungshilfe von Demokratisierung abhängig machen zu wollen. Und die Wissenschaft hat eine neue „Welle der Demokratie“ ausgemacht, die die Dritte Welt und Osteuropa erfaßt habe. Marc F. Plattner spricht davon, daß Demokratie nicht nur ideologisch attraktiver als ihre Alternativen sei, sondern auch wirtschaftlich und militärisch stärker. Er fährt fort: „... wir befinden uns zumindest am Beginn einer dauerhaften Periode friedlicher demokratischer Vorherrschaft - einer Art ‘Pax Democratica’.“

Dieser mit Missionseifer verknüpfte Optimismus trifft auf ähnliche Tendenzen im Süden, wo ehemals marxistisch-leninistische Befreiungsbewegungen über den Wert freier Wahlen und den Nutzen einer Civil Society diskutieren, vormalige Militärdiktatoren ihren Ländern neue Versionen von Demokratisierung verordnen, Nationale Konferenzen in Afrika ihre Diktatoren sanft entmachten und Nichtregierungsorganisationen (NROs) zu neuen Hoffnungsträgern eines demokratischen Frühlings gemacht werden. Die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) erklärte 1990 die Notwendigkeit „unsere Gesellschaften weiter zu demokratisieren und die demokratischen Institutionen zu konsolidieren“. Und fast jeder zweitklassige Diktator "bekennt" sich routinemäßig zur Demokratie, während er Parteien verbietet, die Presse zensiert, und Oppositionelle in Gefängnissen foltern läßt. Das "Bekenntnis" zur Demokratie, die sich demokratisch gebende Sonntagsrede, tritt damit an die Stelle der Demokratie selbst, häufig unter dem Beifall demokratischer Politiker des Westens.

Das allgemeine Interesse an Demokratie existiert vor dem Hintergrund einer überwundenen Blockkonfrontation, die die Welt politisch und ideologisch für Jahrzehnte in zwei antagonistische Lager gespalten hatte. Die Überwindung dieser Spaltung reflektiert sich ideologisch unter anderem in der breiten Einheit der Demokratiedebatte in Nord und Süd, (dem früheren) Ost und West, bei Basisbewegungen in der Dritten Welt und den Regierungen der Industrieländer. Aber natürlich geht die zunehmende Breite einer Debatte auf Kosten der Tiefe und Schärfe. „Demokratie“ bedeutet für eine NRO in Mindanao etwas anderes als für die National Endowment for Democracy in Washington, und für einen arbeitslosen Jugendlichen in Algerien etwas anderes als für die Weltbank. Die Tatsache, daß sich fast alle relevanten Akteure heute sehr positiv auf „Demokratie“ beziehen, bedeutet eben nicht, daß sie damit etwas ähnliches im Sinn hätten.

In diesem Beitrag geht es um den westlichen Umgang mit Demokratie in der Dritten Welt und die damit verbundene Strategie der Demokratisierung. Überlegungen zu diesem Thema sollten von zwei historischen Voraussetzungen ausgehen: vom bisher höchst widersprüchlichen Charakter der westlichen Politik gegenüber Demokratie im Süden, und vom Verhältnis westlicher Ideologie zu seinen Interessen, wenn es um Einflußnahme in der Dritten Welt ging. Beide Punkte sind nicht sonderlich originell, sie werden aber in vielen Schriften und Reden systematisch ignoriert oder bestritten, weshalb hier an sie erinnert werden muß.
 

Pro- und anti-demokratische Praktiken der Vergangenheit

Die Regierungen des Nordens haben sich während des Kalten Krieges und danach immer deutlich für Demokratie in der Dritten Welt ausgesprochen. Das traf in anderer Form auch auf die Sowjetunion zu. Demokratie war immer ein positiv besetzter Begriff, ein öffentlich erklärtes Ziel. Hinter dieser Ebene der Sonntagsreden gab es allerdings eine lange Reihe von Beispielen, bei denen man Demokratie, freie Wahlen und Menschenrechte immer dann als zweitrangig betrachtete, wenn die eigenen Interessen bedroht schienen. Die von der CIA und anderen Diensten inszenierten bzw. massiv geförderten Staatsstreiche gegen demokratische und gewählte Regierungen im Iran (1953), Guatemala (1954), Brasilien (1964) oder Chile (1973) sind nur einige der bekanntesten Beispiele. Solche Operationen wurden in der Regel mit dem Kalten Krieg begründet, mit einer wie auch immer gearteten sowjetischen Bedrohung. Dies bedeutet nicht, daß es nicht handfeste Gründe für entsprechende Interventionen unabhängig vom Ost-West-Konflikt gegeben hätte, wie etwa die westlichen Ölinteressen im Iran als wesentlicher Antrieb zur Förderung des Umsturzes von 1953. Der damalige US-Außenminister John Foster Dulles erläuterte den Zusammenhang von Interessen und Ideologie 1954 am Fall Guatemala. Dort hatte eine demokratische gewählte Regierung eine Landreform durchgeführt, und so die Interessen des US-amerikanischen United Fruit Konzerns beeinträchtigt, der in dem mittelamerikanischen Land unter anderem riesiege Bananenplantagen betrieb.

„Selbst wenn die Probleme von United Fruit gelöst würden, wenn sie uns für jede Banane ein Stück Gold gäben, würde das Problem des Zustandes kommunistischer Infiltration in Guatemala bleiben. Darin besteht das Problem, nicht in United Fruit.“

Es ist schwer zu sagen, ob Dulles die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen durch einen Putsch nur anti-kommunistisch verbrämen wollte, oder ob sie wirklich zweitrangig waren - schließlich war sowohl er, als auch sein Bruder und CIA-Direktor Allen Dulles der United Fruit wirtschaftlich verbunden. Außerdem war der Fall Guatemala besonders interessant, da von einer kommunistischen Unterwanderung auch bei großzügiger Interpretation keine Rede sein konnte. Die Regierung war eher sozialdemokratisch, pragmatisch-nationalistisch orientiert, und sie war aus freien Wahlen mit breiter Mehrheit hervorgegangen. Trotzdem wurde sie durch die CIA Operation Success gestürzt und durch eine ungemein blutige Diktatur ersetzt. Der Diktator wurde mit dem Flugzeug des US-Botschafters zur Machtübernahme in die Hauptstadt geflogen.

Solch extreme Fälle einer direkten Zerstörung einer Demokratie durch westliche Regierungen hat es mehrfach gegeben, aber natürlich waren die oben erwähnten Fälle die Ausnahmen. Wesentlich häufiger waren Praktiken, in denen Demokratien unter Druck gesetzt, Militärs gegenüber zivilen Politikern gestärkt, oder hinter den Kulissen Einfluß darauf genommen wurde, Gewerkschaften, linke Parteien oder Bauernverbände von der Macht fernzuhalten. Darüber hinaus gab es Situationen, in denen man auf Wahlen drängte, dann aber mit deren Ergebnissen unzufrieden war und deshalb ihren ordnungsgemäßen Ablauf bestritt - wie in Nicaragua im November 1984, obwohl zahlreiche kompetente internationale Beobachter sie für fair und frei erklärten. Umgekehrt konnte man auch sehr schnell bei der Hand sein, um erkennbar gefälschte Wahlen als demokratisch und korekt zu akzeptieren. Genau das hatte man sechs Monate zuvor in Panama getan, als General Manuel Noriega ebenso plump wie offensichtlich die Wahlen manipulierte. Selbst nachdem alle Fakten lange auf dem Tisch lagen erklärte der zuständige Beamte des US-Außenministeriums, die Wahlen „scheinen Panama in den Strom in Richtung Demokratie zu befördern, der sich in dieser Hemisphäre so mächtig bewegt“.

In anderen Fällen ging man noch darüber hinaus und unterstützte, finanzierte und bewaffnete antidemokratische, menschenrechtsverletzende und zum Teil sogar terroristische paramilitärische Gruppen im Namen von Freiheit und Demokratie. Das bekannteste Beispiel sind die nicaraguanischen Contras, deren Aktivitäten vom Ex-CIA Chef (unter Carter) Admiral Stansfield Turner als „staatlich unterstützter Terrorismus“ bezeichnet wurden, während die US-Regierung die Contras als Träger der Demokratie rechtfertigte. Der damilge Verteidigungsminister Weinberger erzählte einem Kongreßausschuß, daß sie „Demokratie in ihrem Land erstreben“, während der damalige Außenminister George Shultz kurz zuvor meinte, sie seien „das Produkt einer demokratischen Revolte“. Und Präsident Reagan erklärte, es seien „Freiheitskämpfer“, die „für Demokratie kämpfen“, und verglich sie mit den Gründervätern der USA.

Die Unterstützung der UNITA in Angola oder der Mudschahedin des Gulbuddin Hekmatyar in Afganistan richtete sich zwar nicht gegen demokratisch verfaßte Regierungen, wurde aber ähnlich absurd gerechtfertigt.

Einmischungen und Druck der nördlichen Mächte, politische, wirtschaftliche oder militärische Interventionen hat es in der Dritten Welt fast regelmäßig gegeben. Allerdings darf man nicht vergessen, daß solche Praktiken nicht ausschließlich und nicht in erster Linie gegen Demokratie oder Demokratisierung gerichtet waren, oder daß sie notwendigerweise eine Zerstörung oder Schwächung von Demokratie als Ziel gehabt hätten. Es hat sie ebenso häufig und eben so massiv gegen wenig oder gar nicht demokratische Staaten gegeben, etwa die von den USA durchgesetzten Regierungswechsel und Staatsstreiche im damaligen Südvietnam, die verdeckte Intervention gegen die pro-sowjetische Regierung Afganistans, die Operationen gegen die vietnamesisch unterstützte Regierung Kambodschas oder die wenig erfolgreichen militärischen und geheimdienstlichen Maßnahmen der USA gegen Libyen oder Kuba. Auch in solchen Fällen wurde meist der Kalte Krieg zur Rechtfertigung herangezogen.

Umgekehrt aber haben die westlichen Regierungen auch demokratische Entwicklungen gefördert. Die massive, auch finanzielle Unterstützung demokratischer Verhältnisse in Westeuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist das wichtigste Beispiel, aber auch in der Dritten Welt gibt es eine ganze Reihe solcher Fälle. Präsident Kennedys Politik, in Lateinamerika die „Demokratische Linke“ unterstützen zu wollen, Elemente der Menschenrechtspolitik Präsident Carters, oder die politischen und militärischen Machtdemonstrationen der USA auf den Philippinen, die zum Sturz der Marcos-Diktatur und zur Stabilisierung der Präsidentschaft Corazon Aquinos beitrugen. Die Einflußnahme der USA auf das Militär und die Oligarchie in El Salvador, einer Landreform und einer Serie von Wahlen zuzustimmen, Druck auf die Diktatur in Chile in Richtung auf Demokratisierung, oder die gewaltsame Rückkehr zum Parlamentarismus durch Militärinterventionen in Panama und Grenada sind andere Beispiele. Solche Politiken waren von offensichtlichen Widersprüchen gekennzeichnet und nicht immer sonderlich erfolgreich. Sie mögen auch in verschiedener Hinsicht taktisch gemeint gewesen sein, aber selbst wenn sie oft nicht konsequent oder „selbstlos“ betrieben wurden - es gab sie trotzdem.

Der Norden hat in der Vergangenheit keine geschlossene Politik für oder gegen Demokratisierung in der Dritten Welt betrieben, trotz aller entgegengesetzten Rhetorik. Er hat Demokratien zerstört, ist ihnen mit Indifferenz entgegengetreten, oder hat sie massiv unterstützt. Der amerikanische Lateinamerikaexperte Abraham F. Lowenthal hat das in Bezug auf diesen Kontinent ebenfalls festgestellt:

„Vom Beginn dieses Jahrhunderts bis in die achtziger Jahre war die Wirkung der US amerikanischen Politik auf die Fähigkeit Lateinamerikas, ein demokratisches System zu erreichen, in der Regel zu vernachläßigen, oft kontraproduktiv, und nur selten positiv. Und obwohl es zu früh ist um sicher zu sein, scheint diese allgemeine Schlußfolgerung auch für die achtziger und neunziger Jahre zu gelten.“
 

Exkurs: Die historische Ausgangslage von Ideologie und Interessen

Historisch ist die Politik des Nordens gegenüber der Dritten Welt von zwei scheinbar gegensätzlichen, tatsächlich aber eng verknüpften Aspekten geprägt gewesen. Es überrascht kaum, daß es immer um die Mehrung des eigenen Nutzens ging, um die wirtschaftlichen, politischen, strategischen, sogar ideologischen Interessen. Exportmärkte, Zugang zu Rohstoffen, die Ausschaltung lästiger Konkurrenz, Militärstützpunkte, Siedlungsgebiete für "überschüssige" eigene Bevölkerung, die Sicherung von Seehandelsrouten. Diese und weitere Faktoren haben die Politiken des Nordens gegenüber dem Süden geprägt. Kolonialismus und indirektere Formen imperialer Kontrolle wären ohne handfeste Interessen kaum sonderlich interessant gewesen.

Zugleich aber waren Kolonialismus und imperiale Dominanz immer höchst moralische Unternehmungen. Die Kontrolle der Dritten Welt, so nützlich sie auch sein mochte (nicht selten wurde der Nutzen überschätzt), wurde oft altruistisch verklärt. Sie wurde zum zivilisatorischen Akt. Den Barbaren sollten die Segnungen westlich abendländischer Kultur zuteil werden. Imperialismus und Kontrolle der Dritten Welt durch den Norden waren subjektiv häufig Hilfsakte, um die Barbaren aus Unwissenheit und Armut zu retten. Lange Zeit kam dieser missionarische Eifer im religiösen Gewande daher, als Christianisierung. Es galt Seelen zu retten, indem die Barbaren zuerst unterworfen und dann christianisiert wurden. Die Bibel folgte dem Schwert, oder umgekehrt, je nach Bedarf. Und der letzte Akt der Unterwerfung einer fremden Kultur bestand darin, diese zu retten, indem man sie verwestlichte. Nur die Übernahme der Ideologie, der Religion des Nordens würde die Seelen der Barbaren vor der Verdammnis bewahren.

Die Interessen des Nordens waren also auf die Kontrolle des Südens gerichtet, und auf dessen zivilisatorische Durchdringung, die altruistisch oder imperial gemeint sein konnte. Am Ende des zwanzigsten Jahrhundert ist nicht zu erkennen, was sich an dieser Grundstruktur geändert hätte. Die Interessen an einer Kontrolle der Dritten Welt haben andere Gegenstände als vor ein- oder zweihundert Jahren, aber sie sind eher stärker als schwächer geworden. Es geht nicht mehr um Gewürz- oder Sklavenhandel, nicht mehr um Baumwoll- oder Gummiplantagen oder den Seeweg nach Indien. Stattdessen stehen die Weltenergieversorgung (ein schönes Wort für die Kontrolle der Ölregion am Persisch-Arabischen Golf), die Begrenzung der Einwanderung (statt des Exports eigener Bevölkerung), die Sicherung von Arbeitsplätzen im Export, Kapitalexport und Schuldenrückzahlung, die Sicherung strategischer Rohstoffe und die Verhinderung dessen, daß Länder der Dritten Welt die gleichen Massenvernichtungswaffen erwerben, über die der Norden selbstverständlich verfügt im Mittelpunkt. Gerade nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Kontrolle der Dritten Welt eines der Grundprinzipien der Außenpolitik des Nordens. Dies ist im Kern nicht neu, ebensowenig wir die Verbindung von Demokratie und nördlicher Dominanz im Süden. Walden Bello hat darauf hingewiesen, daß die Notwendigkeit, die Filipinos zu demokratisieren (und natürlich zu zivilisieren) eine der zentralen Rechtfertigungen für 48 Jahre kolonialer Herrschaft durch die USA in den Philippinen darstellte.
 

Der Westen als treibende Kraft

Woher aber kommt das Interesse nördlicher Regierungen an einer Demokratisierung des Südens? Und, nicht weniger wichtig, warum kommt es gerade jetzt so nachdrücklich zum Vorschein?

Nach dem Ende des Kalten Krieges kann der positive Bezug auf den Demokratiebegriff nicht einfach fallengelassen werden. Nachdem der Ost-West-Konflikt mehr als vier Jahrzehnte lang unter dem Banner der Demokratie geführte worden war, wäre dies kaum zu vermitteln. Darüberhinaus vermindert das Ende der Systemkonkurrenz die Gefahren und Unsicherheiten, die Demokratie in der Dritten Welt für den Westen mit sich bringt. Während früher Demokratisierung in der Dritten Welt sehr oft die Gefahr nach sich zog, linken Bewegungen und schließlich der Sowjetunion Positionsvorteile zu verschaffen, kann jetzt die Ausdehnung demokratischer Freiheiten der Sowjetunion nicht mehr nutzen.

Eine der Voraussetzungen der Betonung der Demokratie in der Dritten Welt nach dem Ende des Kalten Krieges besteht darin, daß sie heute mit weniger Risiko behaftet ist. Der Toleranzspielraum hat sich erweitert, da ein außer Kontrolle geratener Demokratisierungsprozeß zwar unerfreulich sein mag, aber keinem strategischen Gegner mehr in die Hände spielt. Claude Aké hat diesen Zusammenhang für Afrika formuliert:

„Die Marginalisierung Afrikas gibt dem Westen größeren Freiraum seine Beziehungen zu diesem Kontinent aufgrund von Prinzipien zu führen. In der Vergangenheit stand der Westen Fragen der Menschenrechte und Demokratie in Afrika indifferent gegenüber, um seine wirtschaftlichen und strategischen Interessen und seine von Besessenheit getriebene Suche nach Verbündeten gegen den Kommunismus nicht zu gefährden. Nachdem diese Sorgen verschwunden sind, fühlt sich der Westen jetzt freier, seine Afrikapolitik in größeren Einklang mit seinen demokratischen Prinzipien zu bringen.“

Gleichzeitig ist die politische und moralische Überlegenheit von Demokratie über andere Herrschaftsformen im Westen weitgehend unbestritten, ihre Legitimationskraft ungebrochen. Beides allerdings hat nur eine begrenzte Bedeutung: Demokratie ist eine attraktive Ideologie mit großer Ausstrahlung, und der Toleranzrahmen für demokratische Experimente im Süden hat sich erweitert. Das mag einige politische Rahmenbedingungen ausleuchten, aber es erklärt noch lange nicht, warum westliche Regierungen in ihrer realen Politik die Demokratisierung tatsächlich betonen. Nicht jede beliebte Politikkonzeption mit einem gewissen Gestaltungsspielraum wird so prominent.

Warum also die demokratische Offensive des Westens? Muß er nicht fürchten, auf diese Weise an Einfluß zu verlieren? Müßte eine Demokratisierung im Süden nicht westliche Interessen hinter die der einheimischen Bevölkerungsmehrheit zurückstellen, und würde damit die Kontrolle des Nordens über den Süden vermindern? Würde Demokratisierung letztlich nicht bedeuten, daß die Dritte Welt "außer Kontrolle" gerät? Schließlich ist es einfacher, wenn westliche Regierungen durch verwestlichte Eliten im Süden indirekt Macht ausüben, indem sie diese am Nutzen ihrer Kontrolle beteiligen, als gewählten Repräsentanten gegenüberzusitzen, die ihren Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig wären. Nehmen wir ein Beispiel: das militärische Atomprogramm ist in Pakistan ausgesprochen populär, kaum jemand glaubt, auf Atombomben verzichten zu können, da der indische Nachbar ebenfalls welche besitzt. Je demokratischer der politische Prozeß in Pakistan organisert ist, desto weniger läßt sich die pakistanische Bombe verhindern.

Wenn die Bequemlichkeit und die eigenen Interessen den Westen so sehr vor einer Demokratisierung der Dritten Welt warnen sollten, warum dann dessen lautes Interesse daran? Handelt es sich um einen der so seltenen Fällen, in denen Akteure aus moralischen Gründen gegen ihre eigenen Interessen handeln? Die sogenannte „realistische Schule“ der Politikwissenschaft hat nicht selten ähnliche Fragen gestellt. Tony Smith bezieht sich darauf, wenn er schreibt:

„Einige finden es direkt gefährlich, Demokratie für andere zu propagieren. Sie argumentieren, daß man so die Illusion erzeuge, daß jeder, überall, und zu jeder Zeit demokratisch leben könne, wenn die USA ihnen nur zeigen würde wie.“

Es wird kritisch angemerkt, daß die Demokratiepolitik nur „demokratische Großsprecherei“ sei, „wenig mehr als patriotisches Flaggenschwenken“, und „ungeeignet für die praktische Anleitung der amerikanischen Außenpolitik“.

Diese Skepsis wird oft von einem geräuschvollen und gesinnungsschweren Impuls verdeckt, der Welt die Demokratie zu bringen, dies gar als historische Pflicht zu betrachten. Der Buchtitel von Gregory Fossedal ist typisch für dieses Gefühl: „Der demokratische Imperativ - Die amerikanische Revolution exportieren“. Der Text selbst bleibt hinter dieser programmatischer Aussage nicht zurück, wenn der Autor formuliert: „Das hohe Ziel ist eine Diplomatie der Demokratie, durch die Demokratie, und für die Demokratie: eine Außenpolitik, die die Rechte für alle Menschen erringt. (...) Entweder wird Amerika dazu beitragen, die Rechte der Menschheit für alle und überall zu gewinnen, oder Amerika selbst wird als ein freier und demokratischer Staat vergehen.“

Die Politik der Demokratisierung der Dritten Welt wird also etwas von oben herab als leeres Gerede kritisiert, oder als westlicher Fundamentalismus ins Zentrum aller Außenpolitik gestellt. Beide Extrempositionen sind offensichtlich unbefriedigend, um die westliche Politik zu erklären. Der pro-demokratische Fundamentalismus hat offensichtlich wenig mit den Realitäten der letzten Jahrzehnte zu tun, zumindest hält die Geschichte so zahlreiche und krasse Fälle anti-demokratischer Politik bereit, daß große Skepsis angebracht ist. Auch die Vorstellung, daß Großmächte vor allem „die Rechte der Menschheit für alle und überall“ fördern würden, ist so romantisch wie realitätsfremd. Andererseits - wenn eine westliche Politik der Demokratisierung der Dritten Welt nur so realitätsuntüchtig und idealistisch wäre, wie einige der akademischen „Realisten“ kritisieren, wie soll man dann erklären, daß eine ganze Reihe ausgesprochen interessen- und machtbewußter Regierungen in den letzten Jahren - und in anderer Form gelegentlich weit länger - eine solche Politik betrieben haben? Will man Carter, Reagan und Clinton pauschal als naiv und idealistisch kategorisieren, weil sie ihre „Kreuzzüge für die Demokratie“ verkündeten? Oder kann es sein, daß sich hinter dieser hohen und idealistischen Formulierungen eine „realistische“ Politik verbirgt?
 

Innerwestliche Identitätsstiftung

Der ideologische Ausgangspunkt des westlichen Kreuzzuges für die Demokratie ist relativ einfach: während des Kalten Krieges hatte man sich selbst und die eigene Politik immer wieder damit legitimiert, daß man "demokratisch" in Form und Inhalt sei, und sich darin vom Gegner Sowjetunion unterscheide. Demokratie versus Kommunismus, das war die grundlegende Losung des Westens während des Kalten Krieges. Dabei handelte es sich einerseits um ein außenpolitische Parole, um eine ideologische Waffe im Ost-West Konflikt. Die Demokratie gegen das Prinzip einer kommunistischen Diktatur zu vertreten legitimierte die eigene Existenz, die eigene Politik, selbst die eigenen Verbrechen. Die Unterstützung einer noch so repressiven Diktatur in der Dritten Welt oder die Organisierung von Staatsstreichen gegen gewählte Regierungen konnten noch gerechtfertigt sein, wenn sie dem Kampf gegen den - antidemokratischen - Kommunismus nützten. Die schöne Unterscheidung von „autoritären“ und „totalitären“ Diktaturen wurde durch Jeanne Kirkpatrick in die akademische und politische Debatte eingeführt: Die „autoritären“ Diktaturen sollten zum Kampf gegen die „totalitären“ vom Westen unterstützt werden. Die Unterstützung Pinochets oder Mobutus, oder die Putsche in Guatemala und dem Iran sind beliebig ausgewählte Beispiele. Die Tatsache, daß solche Praktiken oft wenig mit dem Kommunismus (und natürlich noch weniger mit Demokratie), viel aber mit den eigenen Interessen zu tun hatten, ändert am Mechanismus ebensowenig wie der Tatbestand, daß die sowjetische Seite zu sehr ähnlichen Legitimationsverfahren griff.

Zugleich aber war die Demokratie ein wichtiger Bestandteil westlicher Selbstperzeption und Identität. Der Ost-West Konflikt war nicht nur eine Frage der internationalen Politik, sondern auch eine Krücke, die den politischen Systemen und zahllosen Individuen eine bequeme und positive Selbstdefinition gestattete. Sich selbst als Gegenpol zur anderen Seite zu definieren war das eine, und der positive Bezug auf Demokratie das andere. Anti-Kommunismus und Demokratie waren zwei Seiten einer Medaille: sie begründeten sich gegenseitig. Dieser Gegensatz gestattete es dem Westen und seinen Bürgern, sich selbst als gut, und den Gegner als schlecht zu interpretieren. Präsident Reagans Formulierung von der Sowjetunion als dem „Reich des Bösen“ gewann seine Plausibilität für viele nur durch deren undemokratischen Charakter.

Mit dem Zerbrechen der Sowjetunion und dem Verschwinden des Kommunismus als glaubhafter Bedrohung wird auch der Anti-Kommunismus obsolet. Er kann kaum noch zur Selbstdefinition dienen, da er auf einen inzwischen verschwundenen Gegenpol angewiesen ist. Der Demokratiebegriff bleibt damit, trotz seines Verlustes an antikommunistischer Substanz, von hoher Bedeutung für die eigene, positive Identitätsstiftung, wird darin möglicherweise sogar noch wichtiger, da er zumindest einen Teil der Identitätslücke füllen muß, die durch das Verschwinden der negativen Selbstdefinition entstanden ist.

Auch deshalb ist es wenig überraschend, daß in den Ländern des Nordens eine Tendenz existiert, Demokratie mit sich selbst zu identifizieren. Damit verliert der Begriff seine Unbestimmtheit und gewinnt zugleich an Charme. Für diese angenehme Gleichsetzung gibt es eine Reihe höchst unterschiedlicher Gründe, die meist miteinander verknüpft sind. Zuerst einmal handelt es sich um ein Produkt verkürzter Logik. Der Westen - bzw Norden - ist demokratisch, wie sein Kampf gegen den Kommunismus belegt, und er respektiert im großen und ganzen die Regeln repräsentativer Demokratie und der Menschenrechte. Schnell werden westlich und demokratisch zu Synonymen.

Aber wir leben in der Zeit nach dem Kalten Krieg. Westliche Identität kann sich nicht mehr dauerhaft auf die alten Schemata stützen. Es ist daher kein Zufall, daß neue Freund-Feind-Zurechnungen Hochkonjunktur haben, neue Identitätsdefinitionen auf große Nachfrage treffen. Das gilt nicht nur auf der Straße, beim Wideraufleben des Nationalismus und rassistischer Politik, sondern auch im politischen und politikwissenschaftlichen Diskurs. Der unvermeidliche und bereits erwähnte Samuel Huntington hat seinen berüchtigten Aufsatz zum „Kampf der Zivilisationen“ genau auf diese Marktlücke hingeschrieben. Er postuliert einen Kampf „des Westens gegen der Rest der Welt“ („The West against the rest“), was ja ansich schon Identität definiert, und bennent die „westlichen Ideen“, als Substanz westlicher politischer Identität. Westliche Ideen sind für ihn:

„Individualismus, Liberalismus, Verfassungsmäßigkeit, Menschenrechte, Gleichheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, der Freie Markt, die Trennung von Kirche und Staat.“

Wir wollen nicht kleinlich daran herummäkeln, daß hier manches schief ist (so macht die „Trennung von Kirche und Staat“ sowieso nur in christlichen Gesellschaften Sinn, da „Kirche“ ein christlicher Terminus ist, und im Judentum, Islam, Buddhismus oder Hinduismus wie zahllosen anderen Religionen auf Unverständnis stoßen würde). Aber es muß doch angemerkt werden, daß dadurch, diese „Ideen“ (ist der Freie Markt eine „Idee“, ein „Wert“, eine moralische Kategorie?) zu westlichen zu erklären, sie anderen Kulturen abgesprochen und verweigert werden. Denn wenn es sich um universelle Werte handeln würde, ergäbe ja ein „Kampf der Zivilisationen“ keinen Sinn, der ja gerade durch die Verschiedenheit der Kulturen bedingt sei. Freiheit und Demokratie sind also, neben den anderen Substantiven, Kerne westlicher Identität, und die Menschen im Süden werden so intellektuell vor die Scheinalternative gestellt, entweder sich selbst für „westlich“ halten zu müssen, wenn sie für Freiheit und Demokratie sind, oder gegen beide Werte opponieren zu müssen, wenn sie nicht westlich sein wollen. Über solchen intellektuellen Imperialismus könnte man sich wohl lustig machen, wenn er nicht in breiten Kreisen ernstgenommen worden wäre.

Der Kern der Übung ist aber innerwestliche Identitätsstiftung nach dem Ende des Kalten Krieges. Wir, der Westen, sind erstens eine Einheit (diesmal kulturell), zweitens von außen bedroht („the West against the rest“, im gleichen Huntington-Aufsatz schön und bunt ausgemalt), und drittens moralisch und kulturell überlegen (Demokratie und die anderen hohen Werte sind schließlich „westliche“ Werte). Solche Übungen mögen bei Menschen im Westen, die mit ihrem Feindbild des Kalten Krieges ein Stück ihrer Identität verloren haben, eine neue Behaglichkeit bewirken, für den Süden sind sie eher bedrohlich. Ein westlicher Export von Demokratie würde in diesem Kontext nämlich nicht bedeuten, daß die so oft von Diktatoren unterdrückten Menschen des Südens sich endlich selbst regieren könnten - er müßte als Export einer westlichen Ideologie, als ideologische Waffe gegen den „Rest der Welt“ aufgefaßt, als Strategie der Verwestlichung gebrandmarkt werden. In dieser Konsequenz trifft sich Huntington mit den chinesischen Marktstalinisten, anderen Diktatoren Ostasiens, und islamistischen Demokratiefeinden etwa Algeriens, vor denen er ja solche Angst zu haben sich entscheidet. Wenn Demokratie im Kern ein westlicher Wert wäre, dann wäre Demokratieexport ideologischer Imperialismus.

Die Verbindung zwischen Demokratie und globaler westlicher Vorherrschaft nach dem Kalten Krieg wird tatsächlich oft und offen gezogen. Plattner formuliert: „Und so finden wir uns nach dem Kalten Krieg in einer Welt mit nur einem vorherrschenden Prinzip der politischen Legitimität, der Demokratie, und nur einer Supermacht, den USA.“

Daß beides eng zusammengehört, da besteht für die meisten Autoren kein Zweifel. Plattners bereits zitierte Formulierung von der „friedlichen politischen Hegemonie - einer Art Pax Democratica“ bringt die Sache auf den Punkt: wenn Demokratie westlich ist, dann ist eine Pax Democratica (wie die alte Pax Americana) die Herrschaft des Westens über die Welt, wenn auch durch „friedliche politische Hegemonie“.

Ein Jahr zuvor hatte das American Enterprise Institute, ein rechter think tank in Washington ein Buch von Joshua Muravchik publiziert, dessen Titel auf deutsch lauten würde: „Demokratie exportieren - Amerikas Schicksal erfüllen“. In seinem letzten Abschnitt wird der oben skizzierte Zusammenhang bereits vorweggenommen und auf den Punkt gebracht. Die USA sollten die Demokratie weltweit exportieren, sich dabei aber auf die beiden wichtigsten Länder konzentrieren, China und die (damals gerade noch existierende) Sowjetunion.

„Wenn uns das gelingt, werden wir eine Pax Americana erkämpft haben wie noch kein früherer Friede war, eine der Harmonie, nicht der Eroberung. Dann wird das einundzwanzigste Jahrhundert zum Amerikanischen Jahrhundert, und zwar aufgrund des Triumphes der humanen Idee, die im Experiment Amerika geboren wurde: daß alle Menschen gleich geschaffen und mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden.“

Mag da die Siegestrunkenheit anläßlich des Zerfalls der Sowjetunion noch das Wunschdenken beflügeln - aber der zuletzt zitierte Autor spricht selbst gern und oft von der Notwendigkeit des „ideologischen Kampfes“ („ideological combat“) und ist sich durchaus bewußt, daß seine Vorstellung von Demokratieexport im Kern der Export des Amerikanischen Modells ist. Gerade das ist ja sein Ziel. Der Export von Demokratie und der Export des amerikanischen Modells sind identisch, da der Westen (hier also die USA) und Demokratie zwei Ausdrucksformen derselben Sache sind. Nach außen offensiv, nach innen identitätsstiftend - so nützlich kann Demokratie sein.
 

Demokratisierung des Südens im Selbstverständnis nördlicher Außenpolitik

Nun wäre es voreilig, die publizistischen und akademischen Zielvorgaben mit den Auffassungen politischer Entscheidungsträger automatisch gleichzusetzen, auch wenn in den USA die Kluft zwischen Universitäten, think tanks und Politik wesentlich geringer ist als in der Bundesrepublik. Und so wie Wissenschaftler in Nordamerika ihre Rolle oft in der direkten Beratung und Zuarbeit zur Politik sehen, so fühlen Politiker nicht selten den Drang, ihre Praxis ideologisch zu überhöhen, wobei sie gern auf die gängigen intellektuellen Moden zurückgreifen.

Anthony Lake ist der Nationale Sicherheitsberater Präsident Clintons, und gehört in dieser Funktion gemeinsam mit dem Außenminister zum engsten außenpolitischen Machtzirkel. Lake hielt im September 1993 in der Johns Hopkins University eine Grundsatzrede, in der er die Demokratisierung der Welt zu einer zentralen Aufgabe der Clinton-Administration erklärte. Darin setzte er sich explizit von der Vorstellungen eines „Kampfes der Zivilisationen“ ab und erklärte das Streben nach Freiheit für universell, nicht nur westlich.

Lake faßt die Perspektive der US-Regierung folgendermaßen zusammen:

„Wir betrachten die Individuen als gleich geschaffen und mit einem von Gott gegebenen Recht auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück ausgestattet [Begriffen aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung; J.H.]. Deshalb vertrauen wir der Weisheit freier Individuen, diese Rechte zu verteidigen. Sie tun es durch die Demokratie, als den besten Prozeß zur Erfüllung der gemeinsamen Bedürfnisse trotz konkurrierender Wünsche; und durch den Markt als den Prozeß, der die privaten Bedürfnisse am besten auf eine Weise erfüllt, die die Möglichkeiten aller ausweitet.

Beide Prozesse stärken sich gegenseitig: Demokratie allein kann Gerechtigkeit hervorbringen, aber nicht die materiellen Güter, die Individuen zu ihrem Erfolg brauchen; Märkte allein können den Wohlstand vergrößern, aber nicht den Sinn von Gerechtigkeit, ohne den zivilisierte Gesellschaften vergehen.“

Lake erinnerte an Präsident Woodrow Wilson. Dieser „verstand, daß unsere Sicherheit vom Charakter ausländischer Regierungsformen geprägt wird.“ Darauf aufbauend formuliert Lake ein umfassendes Konzept für die US-Außenpolitik in der Zeit nach dem Kalten Krieg:

„Während des Kalten Krieges verstanden selbst Kinder unsere Sicherheitspolitik. Wenn sie auf diese großen Landkarten in den Klassenzimmern sahen, dann wußten sie, daß wir die Ausbreitung dieses großen, roten Bereichs einzudämmen versuchten. Heute könnte man - um den Preis der Übervereinfachung - die Aufgabe unserer Sicherheitspolitik als die Ausdehnung dieser „blauen Gebiete“ der marktwirtschaftlichen Demokratien kennzeichnen. Der Unterschied besteht natürlich darin, daß wir nicht versuchen, die Reichweite unserer Institutionen durch Gewalt, Subversion oder Unterdrückung auszudehnen.“

Damit besteht das Ziel der US-Amerikanischen Außen- und Militärpolitik in der „Ausdehnung der Reichweite unserer Institutionen“, wenn auch gewaltfrei. Das bemerkenswerte an Lakes Formulierungen besteht aber auch darin, daß nicht die Ausdehnung und der Export der Demokratie als solcher zum Ziel gemacht wird, sondern das der marktwirtschaftlichen Demokratien. Der Grund liegt darin, daß dies „protects our interests and security; and because it reflects values that are both American and universal. unsere Interessen und unsere Sicherheit schützt, und zugleich Werte reflektiert, die zugleich amerikanisch und universal sind“. Die Politik, den eigenen Bereich und marktwirtschaftliche Demokratien (market democracies) auszudehnen, soll also zugleich interessegeleitet und moralisch sein - wobei die amerikanischen moralischen Werte allgemeingültig sind und sich von den universellen Werten nicht unterscheiden.

„Unsere Strategie muß pragmatisch sein. Unser Interesse an Demokratie und Märkten steht nicht allein. Andere amerikanische Interessen werden uns zeitweise dazu bewegen, undemokratischen Staaten zu unterstützen oder sie sogar zu verteidigen, wenn es für beide Seiten nützlich ist. (...) Der zweite Imperativ unserer Strategie muß darin bestehen, der Ausdehnung von Demokratie und Märkten dort zu helfen, wo wir die größten Sicherheitsinteressen und den größten Einfluß haben. Das ist kein demokratischer Kreuzzug, es ist eine pragmatische Verpflichtung die Freiheit dort verankern zu helfen, wo uns das am meisten nutzt. Daher müssen wir unsere Anstrengungen auf Staaten konzentrieren, die unsere strategischen Interessen beeinflussen, also über große Wirtschaftskraft verfügen, strategisch günstig liegen, über Atomwaffen verfügen oder möglicherweise große Flüchtlingsströme zu uns oder unseren Freunden und Verbündeten verursachen können.“

Einen demokratischen Kreuzzug - da hat Lake Recht - kann man das tatsächlich nicht nennen. Die Strategie läuft darauf hinaus, Demokratie allgemein mit Sympathie zu betrachten, sie dann aber mit Marktwirtschaft zu verknüpfen und beides zum Begriff der market democracies zu verschmelzen. Diese seien wiederum dort zu unterstützen, wo es im strategischen Interesse der USA liege. Förderung von Demokratie fällt damit in zwei Bereiche auseinander: in den einer abstrakten Sympathie des Begriffs und der mit ihm verbundenen „Werte“ einerseits, und seiner Instrumentalisierung für wirtschaftliche und strategische Zwecke andererseits. Seine Schlüsselformulierung, daß die USA From Containment to Enlargement übergehen würden, also von der Eindämmung der Sowjetunion zur Ausdehnung des eigenen Machtbereichs der Marktdemokratien, ergibt so seinen Sinn. Und in bezug auf die Instrumentarien hält der Nationale Sicherheitsberater einige Enttäuschungen für jene bereit, die in der Zeit des Kalten Krieges davon träumten, die UNO (oder wenigstens andere multilaterale Gremien) zum zentralen Politikinstrument zu machen:

„Wir sollten multilateral handeln, wenn das unsere Interessen fördert, und unilateral, wenn das unseren Zielen am besten dient. Die einfache Frage ist folgende: Was funktioniert am besten?“

Lakes Rede haben wir so ausführlich zitiert, weil sie nicht nur grundsätzlichen und programmatischen Charakter trug, sondern innerhalb der Regierung sorgfältig abgestimmt war. Der Außenminister, die UNO-Botschafterin und Präsident Clinton selbst bekräftigten alle von Lake vertretenen Positionen, Bill Clinton sogar in seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im September 1993. Auch vor diesem herausgehobenen Forum sprach er von „Der Ausdehnung und Stärkung der Gemeinschaft marktwirtschaftlicher Demokratien“, nicht der Demokratie an sich.

Drei Monate nach seiner Rede und mit der Rückendeckung des Präsidenten ging Lake noch einen Schritt weiter. Er machte klar, auf welche Art seiner Meinung nach Demokratie und Markt miteinander verknüpft waren. Anlaß dafür war eine Rede vor dem Council on Foreign Relations in New York. Er erläuterte erneut das Konzept von enlargement, der Ausdehnung der Marktdemokratien:

„Die Vorteile für Amerika sind klar. Wenn alte Kommandoökonomien sich dem Markt zuwenden, führt das zu einem großen Bedürfnis nach amerikanischen Exporten. Außerdem schaffen freie Märkte eine Mittelschicht. Mittelschichten begünstigen die Herausbildung demokratischer Regierungen, die für ethnische Unterschiede Raum haben, die Rechte ihrer Bürger schützen und Stabilität fördern.“

Damit ist die Priorität geklärt: von Exportchancen einmal abgesehen, was hier zweitrangig ist, ist die Marktwirtschaft die Grundkategorie, die Ausgangsposition. Die Märkte schaffen einen sozialen Akteur, der wiederum die Demokratie schaffen soll. Märkte und Demokratie sind danach nicht gleichgewichtig, sondern Demokratie die nachgeordnete Kategorie, die durch wirtschaftliche Reformen erst ermöglicht wird. Demokratie ist die wünschbare Folge von Kapitalismus. Daß es sich dabei um kein Versehen handelt, macht er wenig später klar, wenn er die Strategie des enlargement auf Lateinamerika bezieht, wo „eine wachsende Zahl von Nationen sich um die Öffnung ihrer Märkte bemüht, ihre Wirtschaft privatisiert und ihre Demokratien durch better governance funktionsfähiger macht.“

Erneut sind die Öffnung der Märkte - für den Westen, für wen sonst? - und die Privatisierung der Ökonomie die Hauptkategorie, erst dann geht es um Demokratie. Und es geht um deren bessere „Funktionsfähigkeit“, nicht um die demokratische Substanz. Das Mittel dafür ist good governance, eine etwas eigentümliche Formulierung, die vor allem auf höhere administrative Kompetenz zielt. (Zur Bedeutung dieses Begriffs siehe die Beiträge von Susan George und Basker Vashee in diesem Band.)

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Offensive der Demokratisierung, wie sie von der Clinton-Administration verkündet und betrieben wird, genau nicht zum Hauptziel hat, Menschen in der Dritten Welt die Bestimmung ihres eigenen Schicksals zu ermöglichen. Sie hat auch nicht die marginalisierte, arme Bevölkerungsmehrheit im Blick, die meist am Rande oder außerhalb des politischen Prozesses steht, sondern die Mittelschichten. Und schließlich ist Demokratisierung hier nur eine Instrumentelle Übung, die marktwirtschaftliche Reformen flankiert und ergänzt, und im wesentlichen auch nur dort unterstützt wird, wo es den US-Interessen nützlich erscheint.

Diese Feststellungen sind im engeren Sinne nicht als moralische Kritik der US-Politik gemeint, da es wenig überrascht, wenn eine Großmacht ihre Politik nicht an den Interessen marginalisierter Bevölkerung in dritten Ländern, sondern ihren eigenen Interessen orientiert. Aber sie sollen davor warnen, in idealistischer oder naiver Weise die Politik, Intentionen und Strategien der USA - und der westlichen Regierungen insgesamt - mißzuverstehen. Auch wenn Regierungen von „Werten“ sprechen und eine Strategie der Demokratisierung der Dritten Welt verkünden, sollte das nicht mit Weltverbesserei verwechselt werden. Es geht in aller Regel um die Wahrnehmung von Interessen, und demokratische Reformen sind nur so lange interessant, wie sie etwas dazu beizutragen haben.
 

Der Kampf um den Begriff

Wenn die US-amerikanische oder westliche Regierungen insgesamt der Auffassung sind, daß Demokratie nur die politische Ausprägung von Kapitalismus ist, wenn sie Demokratie nur dann unterstützen wollen, wenn sie für andere Zwecke instrumentierbar ist, dann eröffnet das zwei Problemkomplexe. Einmal stellt sich die Frage nach dem Demokratiebegriff, nach der Substanz von Demokratie. Wie soll es möglich sein, „Demokratie“ im Süden als Herrschaftsmittel des Nordens zu nutzen, ohne sie jeder Bedeutung zu entleeren? Wie fassen die westlichen Regierungen eigentlich den Demokratiebegriff? Die zweite Frage ist eher praktischer Art: wie läßt sich denn konkret Demokratie als Herrschaftstechnik gegen den Süden nutzen? Beginnen wir mit der ersten Frage.

"Demokratie" und "Demokratisierung" sind nicht klarer definiert als "Freiheit" - fast jede politische Richtung, fast jedes politische Regime versucht die Begriffe für sich zu reklamieren und zu instrumentalisieren. Das bedeutet nicht, daß sie automatisch bedeutungslos wären oder nicht verwendet werden könnten. Aber es demonstriert zweierlei: die Notwendigkeit zu erläutern, wie und mit welcher Absicht die Begriffe verwendet werden, und die Tatsache, daß es sich meist nicht um analytische Kategorien handelt, sondern um Kampfbegriffe. Der Demokratiebegriff selbst ist ein Schlachtfeld.

Wer den Demokratiebegriff glaubhaft und erfolgreich besetzen kann und letztlich (im eigenen Sinne) definiert - der hat sich einen unschätzbaren politschen Positionsvorteil verschafft. Und wer umgekehrt seine politischen Gegner erfolgreich als "undemokratisch" zu etikettieren vermag, hat schon halb gewonnen. Fast niemand akzeptiert diese Charakterisierung freiwillig, fast alle politischen Kräfte kämpfen darum, den Demokratiebegriff für sich zu besetzen. Pluralistisch-liberale Regierungsformen Westeuropas und Nordamerikas, der stalininistische "demokratische Zentralismus", zahlreiche diktatorische oder autoritäre Regime der Dritten Welt, sie alle haben Wert darauf gelegt, "demokratisch" zu sein, oder gar das eigentliche Modell einer wahren Demokratie zu verkörpern.

Demokratie war immer ein Kampfbegriff entweder zur Eroberung oder zur Verteidigung von Macht. Und dieser Tatbestand wird durch die Unklarheit des Begriffs erst möglich. Es hilft kaum, Demokratie als "Herrschaft des Volkes" zu definieren, eine zweifellos zutreffende aber nicht klarere Begriffsbestimmung. Was genau soll oder kann „Herrschaft“ bedeuten? Bedeutet es die Übernahme der Regierungsämter, oder ist die völlige Macht gemeint? Kann oder muß solche Herrschaft durch juristische oder andere Mittel begrenzt werden, oder würde das eine Einschränkung der Volksherrschaft bedeuten? Wäre eine Diktatur der Mehrheit möglich, und könnte sich diese in der Diktatur einer Partei manifestieren? Bedeutet "Herrschaft des Volkes" automatisch Parteienpluralismus? Und, last not least, wer eigentlich ist das "Volk"? Ist es eine ethnisch nationale Kategorie, oder die Wohnbevölkerung einer geographischen Einheit? Wann werden Einwanderer zum "Volk"? Was ist mit nationalen, sprachlichen, religiösen, oder politischen Minderheiten, wann gehören sie zum Volk, das ja herrschen soll, wann nicht? Die meisten dieser Fragen sind alles andere als neu, aber sie sind nicht erledigt. Liisa Laakso weist außerdem auf die Unterschiede von einer instrumentellen und einer substatiellen Verwendung des Demokratiebegriffes hin (in diesem Band).

Der Begriff der „Volksherrschaft“ ist unter anderem deshalb so unklar, weil jede politische Kraft, weil jeder letztlich selbst definieren kann, was unter "Herrschaft" und unter "Volk" zu verstehen ist. Anthony Lake scheint das Subjekt von Demokratie vor allem auf die Mittelschichten und die Akteure des freien Marktes zu beschränken, während ihn die weitere Marginalisierung großer Bevölkerungskreise offensichtlich nicht stört. Man kann an die politische und ökonomische Selbstbestimmung konkreter, real existierender Menschen und Gruppen denken, oder dieselben einem abstrakteren Gedanken von Volksherrschaft opfern, der gegen den Widerstand oder die Interessen vieler Einzelner erst durchgesetzt werden muß. Dieser Rousseau’sche Gedanke mag im Faschismus und im Stalinismus seine Erfüllung gefunden haben, aber auch den demokratischen Modernisierern ist er nicht fremd: solange nur die Mittelschichten im Namen und für die gesamte Gesellschaft durch den freien Markt an die Macht kommen und demokratische Instanzen aufbauen, dient das dem ganzen „Volk“, auch wenn dessen Mehrheit durch den Marktmechanismus verelendet. Die Bevölkerungsmehrheit um ihre Meinung zu fragen oder gar entscheiden zu lassen, würde bei einer solchen Demokratisierung nur hinderlich sein.

Wer vor diesem Hintergrund glauben möchte, ein bloßes "Bekenntnis zur Demokratie" würde ausreichen oder hätte auch nur ein Minimum an Aussagekraft, macht sich selbst Illusionen oder versucht, andere zum Bekenntnis zu seiner eigenen Demokratieinterpretation zu bewegen. Demokratie ist offensichtlich nichts, zu dem man sich einfach "bekennen" müßte oder könnte, sondern eine sehr unsichere Kategorie, deren Definition im Zentrum vieler politischer Auseinandersetzungen steht. Wer die Optionen auf "Demokratie - ja oder nein" einengen möchte und so den Streit über deren Charakter, Grenzen und Existenzbedingungen ausblenden will, der setzt sich dem Verdacht aus, den Demokratiebegriff für sich zu instrumentalisieren. Ein Bekenntnis zur Demokratie, Demokratie - ja oder nein: das sind häufig demagogische Mechanismen, die eine Freund-Feind-Zurechnung hinter dem Schleier eines unangreifbaren Begriffs verbergen wollen. Die Demagogie besteht darin, die Demokratie in der Regel mit sich selbst, und den politischen Gegner mit dem Gegenteil zu identifizieren, und genau auf dieser Grundlage ein Bekenntnis zur Demokratie einzufordern. Darin besteht zum guten Teil der politisch-ideologische Kern der Demokratieoffensive westlicher Regierungen. Der Begriff wird von den Siegern im Kalten Krieg für sich reklamiert, implizit mit den eigenen Inhalten beladen und so zum Mittel ideologischer Dominanz. Wer könnte den USA als „Wiege der Demokratie“ - das alte Griechenland ist zu lange vergangen - die Autorität absprechen, den Begriff zu besetzen?

„Demokratie“ wird im Diskurs der westlichen Eliten mit „Freiheit“ identifiziert, und Freiheit mit ökonomischer Freiheit, die wiederum mit „freier Marktwirtschaft“ gleichgesetzt wird. Auf diese Weise werden Demokratie und freie Marktwirtschaft zu Synonymen. Demokratie ist dann die politische Form des Kapitalismus. Das ist der Kern und die Hauptthese der Unterstützung „marktorientierter Demokratien“ durch die Clinton-Administration. Da es aber nach dem Ende des Kalten Krieges keine relevant vertretene Alternative zum Kapitalismus gibt, engt sich der Demokratiebegriff politisch auf die Konzeption des Westens ein, ihn nur als liberale politische Organisationsform einer Marktwirtschaft zu begreifen, die bestimmten Minimalregeln von Wahlmechanismen und politischen Bürgerrechten genügt. Ohne Marktwirtschaft gibt es danach auch keine Demokratie, weil ohne sie die ökonomische Freiheit des Bürgers, und damit die Demokratie selbst aufgehoben wäre. Demokratie ist in diesem Diskurs die Organisierung politischer, der Kapitalismus die entsprechende Form wirtschaftlicher Freiheit, die beide gemeinsam am besten gedeihen. Andererseits ist Demokratie in dieser Denkweise nichts anderes als die Anwendung des Kapitalismus, des freien Marktes auf die Politik: Die Parteien und Politiker sind Anbieter von Dienstleistungen, die um die Kunden (Wähler) konkurrieren. Die Wählerstimmen entsprechen dem Geld, die Stimmabgabe einer Kaufentscheidung. Die demokratische Offensive westlicher Regierungen wird so im Kern zur ideologischen Komponente der Offensive des Kapitalismus, der seinen Sieg im Kalten Krieg nutzen will. Die letzten Widerstandsnester oder weißen Flecken auf der Landkarte des global siegreichen Kapitalismus sollen überwunden werden.

Dabei geht es um die globale Durchsetzung des westlichen Wirschafts- und Entwicklungsmodells. Allerdings bedeutet das nicht, daß in diesem Rahmen alle Länder der Dritten Welt dem westlichen Weg folgen könnten oder sollten. Es impliziert weder, daß sämtliche Länders des Südens politische Abziehbilder westeuropäischer oder nordamerikanischer politischer Systeme werden könnten, noch - beispielsweise - die „soziale Marktwirtschaft“ bundesdeutscher Prägung oder die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der USA übernehmen sollten. Dafür fehlt in aller Regel jede Basis, und das ist auch nicht angestrebt. Es geht vielmehr um die globale Durchsetzung des westlichen Modells in dem Sinne, daß die westlichen Länder Zugang zu den Märkten und Macht- und Marktstrukturen aller Länder erhalten, daß ihre Dominanz im globalen Maßstab gesichert wird. Wir erinnern uns an die Formulierungen von einer Pax Democratica, die eigentlich eine Pax Americana bedeute, ein neues westliches (oder amerikanisches) Jahrhundert.

US-Außenminister Warren Christopher hat im Anschluß an die Positionen der Reagan- und Bush-Administrationen immer wieder und in Übereinstimmung mit Präsident Clinton den Anspruch der USA auf Führerschaft der Welt angemeldet. Ein Beispiel:

„Amerika muß führen. Die Notwendigkeit für Amerikas Führungsrolle ist unverändert groß. Wir sind eine gesegnete und mächtige Nation. Wir tragen die Verantwortung für die Führung der Welt.“

Kurz darauf erläuterte er, daß „die Notwendigkeit der amerikanischen Führerschaft eines der grundlegenden Lehrsätze der Clinton-Administration“ sei. Er ging so weit, die US Führungsrolle in der Welt als ein zentrales Element einer „Clinton-Doktrin“ zu bezeichnen.

Die Demokratisierungsoffensive der US-Regierung steht nicht im Widerspruch dazu, sondern sie ist ihr Ausdruck. Und die westliche Offensive entspricht dem, sie ist ein Element der westlichen Dominanz der Weltpolitik nach Ende des Kalten Krieges.
 

Demokratie als Herrschaftstechnik über den Süden

Wenn der Demokratieexport aus der Perspektive von Regierungen - nicht aus der vieler NROs, Menschenrechtsorganistionen und ähnlicher Gruppen - ein Element von Dominanzpolitik sein soll, bedeutet das nicht automatisch, daß dies auch wirksam der Fall ist. Es stellt sich die Frage, ob es sich um eine bloß ideologische Offensive handelt, oder ob es westlichen Regierungen gelingt, Demokratisierung der Dritten Welt auch praktisch und konkret als Herrschaftsinstrument zu nutzen. In diesem Kontext sind zwei Ebenen von Interesse: Demokratisierung als Element von Strategien von Kriegführung niedriger Intensität (low-intensity warfare), vor allem bei akuter oder vorbeugender Aufstandsbekämpfung, und in Verbindung mit Weltbankprogrammen wirtschaftlicher Strukturanpassung.

a) Aufstandsbekämpfung. Militärische Planer sind sich darüber einig, daß Aufstandsbekämpfung keine rein militärische Aufgabe darstellt, sondern ganz wesentlich von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen abhängt. Hier ist nicht der Ort, das allgemeine Konzept von low-intensity warfare und deren Variante der Aufstandsbekämpfung darzustellen, aber einige Anmerkungen sind doch erforderlich. Da die rein militärische Niederwerfung von Guerillabewegungen in der Regel ausgeschlossen ist (u.a. wegen einer Vermischung von Guerilla und Zivilbevölkerung), bilden zivile Maßnahmen den Schlüssel zum Erfolg. Letztlich geht es nicht um militärischen Sieg, sondern um die Kontrolle der Bevölkerung. Diese kann durch Elemente des Zwangs abgesichert werden, aber sie kann auf Dauer nur erreicht werden, wenn man ihr positive Anreize bietet. Eine zu repressive Politik wird die Bevölkerung der Guerilla noch verstärkt zutreiben. Ansatzpunkt muß daher sein, die Bevölkerung zumindest neutral, besser noch freundlich zu stimmen, und das kann nur gelingen, wenn man ihr das Gefühl vermitteln kann, im Rahmen der bestehenden Ordnung ihre Situation verbessern zu können. Es geht letztlich darum, ihr Hoffnung zu ermöglichen, daß sie auch ohne bewaffneten Widerstand eine Zukunftsperspektive hat, und daß die Guerilla - nicht die Regierung oder Armee - das Haupthindernis zur Verbesserung der Situation darstellt. Das ist kaum jemals durch bloße Propaganda möglich, es erfordert Reformen. Eine Verbesserungen der Menschenrechtssituation, eine Landreform, und demokratische Veränderungen sind Standardelemente solcher Konzeptionen. Das Problem besteht nun unter anderem darin, Reformen zu implementieren, die einerseits ernsthaft genug sind, um Anlaß zu Hoffnung zu geben und nicht als reine Kosmetik erscheinen, andererseits aber die Machtstruktur im Land durch diese nicht grundlegend zu verändern. Schließlich soll die Aufstandsbewegung ja gerade überwunden werden, um die (wenn auch notfalls reformierten) Machtverhältnisse zu stabilisieren, andererseits könnte eine erschütterte Machtbalance das ganze Land zusätzlich destabilisieren, und so der Aufstandsbekämpfung ihre Grundlage entziehen.

Hier braucht uns nur der Demokratisierungsaspekt zu interessieren. Zwei Elemente sind dabei entscheidend: einmal die Überwindung einer verhaßten Diktatur. Repressive Diktatoren haben einen Mobilisierungseffekt, sie bündeln und einigen den Widerstand in einem betroffenen Land und können Konflikte wesentlich verschärfen. Eine Befriedung der Philippinen setzte Mitte der achtziger Jahre den Sturz der Marcos-Diktatur voraus, sonst wäre die Massenmobilisierung eskaliert und hätte sich radikalisiert. „Demokratisierung“ - hier nur im Sinne des Sturzes eines unbeliebten Diktators - beugt in diesem Sinne politischer Radikalisierung vor, zumindest dann, wenn dieser Sturz kontrolliert erfolgt. Entscheidend ist dabei natürlich, daß die Macht aufgrund einer eigenständigen Dynamik des Prozesses nicht an die radikale Opposition übergeht, sondern an „gemäßigte“ Kräfte. Zweitens ist aber erforderlich, nach diesem notwendigen Reinigungsprozeß Wahlmechanismen zu institutionalisieren, die glaubwürdig sind. Sie dürfen nicht von zu offensichtlicher Wahlfälschung gekennzeichnet sein, und müssen gewissen Mindeststandards entsprechen. Anderseits aber dürfen sie natürlich nicht zu einem Wahlsieg derjenigen Kräfte führen, die man gerade von der Macht fernhalten möchte: einer Guerillabewegung, die man besiegen möchte, die Macht per Wahl zu überantworten, würde den Planern solcher Kampagnen unsinnig erscheinen.

Standardverfahren zur Organisierung solcher Wahlen sind unter anderem: die Spaltung der Opposition in kooperationsfähige („gemäßigte“) Gruppen und „Militante“, die von der Wahlteilnahme grundsätzlich oder praktisch ausgeschlossen werden; die Formulierung von Bedingungen für eine Wahlteilnahme (etwa das Niederlegen der Waffen durch die Opposition, obwohl die Regierungsarmee ihre Waffen behält, oder die formelle Akzeptierung der Legitimität der Regierung, gegen die man kämpft); Entführungen, „Verschwindenlassen“ oder politische Morde an Oppositionsführern, um der Opposition die Führung eines Wahlkampfes zu erschweren oder ihn zu verhindern; die Einschränkung der Medienberichterstattung über die Opposition; die Nichtregistrierung von Flüchtlingen oder Bewohnern bestimmter Gebiete als Wähler; oder ein Wahlrecht, das Gebiete unter Regierungskontrolle oder die Regierungsparteien begünstigt. Notfalls können die Risiken einer Wahl noch durch begrenzte Manipulationen bei der Stimmauszählung reduziert werden, solange dies nicht zu massiv oder offensichtlich geschieht. Die Restriktionen zielen in der Regel vor allem auf die ärmeren oder marginalisierten Bevölkerungsgruppen und ihre Organisationen, während die Mittelschichten in wesentlich geringerem Maße betroffen werden. Kleinbauern, Landarbeiter, Arbeitslose und squatter werden durch massive Militärpräsenz in den entsprechenden Wohngebieten oder am Wahltag zusätzlich eingeschüchtert, während den gebildeten und wohlhabenderen Sektoren der Bevölkerung eine möglichst saubere Wahl geboten wird. So soll nicht nur die Opposition gespalten werden (möglichst in Wahlteilnehmer und Boykottfraktionen), sondern auch eine soziale Trennung zwischen den unteren Sektoren der Gesellschaft und den potentiellen Führungselementen in der Mittelschicht vollzogen werden.

Diese Maßnahmen werden in der Regel wirksam genug sein, um die Opposition entscheidend zu schwächen, aber jeweils einzeln keinen ausreichenden Anlaß bieten, sich von den Wahlen zurückzuziehen. Geschieht das doch, läßt sich die Opposition als „undemokratisch“ diffamieren oder behaupten, sie habe deshalb nicht teilgenommen, weil sie die Wahlen verloren hätte. Ein Teil der Restriktionen erfolgt in solchen Zusammenhängen politisch, also durch die Regierung, ein Teil administrativ, etwa durch Regelungen einer Wahlkommission, und ein weiterer durch offiziell nicht mit der Regierung verbundene Gruppen, Todesschwadrone, Milizen, Polizei- oder Armeeoffiziere außerhalb der Dienstzeit oder angeheuerte Gruppen von Leuten, die man früher „Lumpenproletariat“ genannt hätte.

Zusammengenommen kann das Ergebnis darin bestehen, daß eine vermutlich gespaltene und geschwächte Opposition die Wahlen verliert (soweit sie diese nicht boykottiert), während Beobachter zwar Kritik an zahlreichen Einzelpunkten äußern mögen, einen technisch sauberen Ablauf aber bestätigen können. Auch wenn viele Bürger Zweifel an der Sauberkeit des Prozesses haben mögen, so können sie doch der Meinung sein, daß die Demokratie zumindest einen Anfang gemacht habe.

Ein zentrales Ziel eines solchen Wahlprozesses besteht einmal in der Entfremdung der Mittelschichten von den harten Kernen der Opposition und in sozialer Demobilisierung. Es kommt darauf an, den Mobilisierungsgrad und die politische Partizipation der vor allem ärmeren Bevölkerung zu reduzieren, und die Politik möglichst auf den Wahlakt zu beschränken. Wenn dies gelingt, haben die herrschenden Eliten einen Erfolg zu verbuchen: je geringer die soziale Mobilisierung, umso sicherer können sie sich fühlen. Und nach der Geburt dieser Demokratie ist es wesentlich schwerer als zuvor, militanten Widerstand zu rechtfertigen, da er jetzt ja gegen eine gewählte Regierung erfolgen würde, selbst wenn die Wahl selbst noch „nicht perferkt“ oder „mit Mängeln behaftet“ war.

b) Strukturanpassung. Eine vermutlich noch wichtigere Ebene, auf der Demokratisierung zum Herrschaftsinstrument lokaler Eliten und nördlicher Regierungen (beides hängt in der Regel eng zusammen) wird, besteht in der Koppelung von Demokratisierungsprozessen mit Programmen wirtschaftlicher Strukturanpassung, wie sie von vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank betrieben werden.

Hoch verschuldete Länder der Dritten Welt erhalten von beiden Institutionen (die von den wichtigsten Industrieländern wirksam kontrolliert werden) Kredite, die aber an Bedingungen geknüpft werden, an die Durchführung sogenannter Strukturanpassungsprogramme. Auch auf deren Funktionsweisen kann hier nicht detailliert eingegangen werden. Ihre Inhalte lassen sich aber kurz so zusammenfassen:

  • Abwertung der Landeswährung und Begrenzung der Kreditaufnahme im In- und Ausland; Liberalisierung des Außenhandels
  • Durchsetzung positiver Realzinsen und Verbesserung der Preise für Produzenten und eine Veränderung des Preissystems zugunsten der Erzeuger
  • Beschränkung bzw. Verminderung der Ausgaben im Staatsbudget, insbesondere der Subventionen
  • Reduzierung des Staatseinflusses und der Rolle des Staates durch die Privatisierung bzw. Schließung öffentlicher Unternehmen
  • restriktive Lohnpolitik
  • Streichung von Stellen und Subventionen im öffentlichen Bereich.

In letzter Zeit werden solche Kataloge um die Forderung nach Demokratisierung ergänzt. Stefan Mair faßt beispielsweise die Erwartungen des Pariser Clubs der Geberländer an Kenia Ende 1991 so zusammen: „Zu den geforderten Reformen gehörten Deregulierung der Wirtschaft und Abbau des Haushaltsdefizits, ein hartes Vorgehen gegen die Korruption sowie politische Demokratisierung und Liberalisierung.“

Dieser Katalog von den verschuldeten Ländern auferlegten Maßnahmen gehört in den Zusammenhang dessen, was der Nationale Sicherheitsberater der USA, Anthony Lake, als die „Öffnung der Märkte“ bezeichnete. Die Liberalisierung des Außenhandels ist schließlich nur eine andere Formulierung desselben Ziels. Insgesamt bedeutet die Politik der Strukturanpassung, die Marktorientierung der Dritten Welt zu forcieren, nach innen und nach außen. Weltmarktintegration ist der äußere Aspekt, Privatisierung und Stärkung des Marktes der innere. Wir erinnern uns an die Formulierung von den „marktorientierten Demokratien“, die die demokratische Offensive unterstützen und verbreiten soll. Hier stoßen wir auf den materiellen Kern, der damit gemeint ist. Innenpolitisch bedeutet das für die Dritte Welt eine neue Ordnungspolitik: wirtschaftliche Liberalisierung, Privatisierung, Öffnung zum Weltmarkt und damit des Zugangs der großen internationalen Unternehmen zum lokalen Markt auf der einen, und den Abbau, die Zurückdrängung und Schwächung des Staates als die Rückseite der gleichen Medaille. Beides erfolgt nicht als eigene Politikentscheidung, sondern durch Weltbank und IWF von außen verordnet. Völlige Marktorientierung ist das offensichtliche Ziel dieses Maßnahmenpaketes, damit befindet es sich in völliger Übereinstimmung entsprechender Forderungen aus London, Bonn, und Washington.

Wie aber steht es in diesem Zusammenhang mit der Demokratie? Die offizielle Ideologie macht es sich einfach: danach sind Markt und Demokratie ja Zwillinge, und eine Stärkung des Marktes führt - via einer Förderung der Mittelschichten - direkt oder indirekt zur Stärkung der Demokratie, wenn evtl. auch mit zeitlicher Verzögerung. In der Realität stellt sich das leider anders dar.

Die Strukturanpassungsprogramme zielen auf den Abbau bzw. die Schwächung des Staatsapparates in der Dritten Welt. Aber dabei geht es nicht so sehr um eine vernünftige Entbürokratisierung, um eine Reduzierung aufgeblähter und inkompetenter Staatsapparate. Dagegen wäre nichts einzuwenden. Die Staatsapparate der Dritten Welt, etwa in Afrika, werden nicht effektiviert, und durch Verkleinerung wirksamer. Ihnen werden stattdessen wichtige Funktionen entzogen. Basker Vashee hat einige Auswirkungen dieser Politik in einem Gespräch so ausgedrückt:

„In vielen Ländern der Dritten Welt, vor allem in den ärmeren, ist der Staat sehr wichtig für die Überlebensfähigkeit von Millionen Menschen. Denn es gibt dort keine anderen Einrichtungen, die die Bedürfnisse der Menschen schützen, etwa durch das Erziehungswesen, durch Subventionen für den Lebensunterhalt, durch Nahrungsmittelproduktion, die den allgemeinen Lebensstandard der Menschen absichern. Wenn der Staat dafür kein Geld mehr ausgeben darf, haben die Menschen keine andere Alternative. Das direkte Ergebnis der Schuldenrückzahlung der Regierungen der Dritten Welt besteht darin, daß sie weniger Geld für ihre eigenen Völker haben. Deshalb steigt die Unterernährung, es gibt keine Gesundheitsversorgung mehr, die Leute müssen Geld für den Schulbesuch ihrer Kinder bezahlen und können sich das nicht leisten. Die Kinder müssen die Schule verlassen und reihen sich in die Menge der Arbeitslosen ein. Das allgemeine Niveau der Armut steigt ganz beträchtlich, sobald der Staat seine Ausgaben für Sozialprogramme einstellt.“

Es handelt sich aber nicht allein um die sozialen Auswirkungen in der Dritten Welt, wenn die internationalen Finanzinstitutionen - hinter denen sich ja als Entscheidungsträger die Regierungen der USA, Westeuropas und Japans verbergen - die Regierungen im Süden zum Zwangssparen verurteilen. Es geht darum, daß IWF und Weltbank den Staat aus ideologischen Gründen aushöhlen und ihm seine klassischen, wichtigsten Funktionen nehmen. Eine Reihe der ökonomischen  Staatsfunktionen wird privatisiert, also dem Privatsektor in der Dritten Welt und internationalen Konzernen übertragen. Andere Funktionen, vor allem in der Wirtschafts- und Finanzpolitik (die natürlich andere Politikfelder wie die Sozialpolitik bestimmt), werden internationalisiert, also direkt oder indirekt in Washington oder London ausgeübt, meist durch internationale Finanzinstitutionen. Die zentralen wirtschaftlichen Variablen eines armen, verschuldeten Staates der Dritten Welt werden heute nicht selten zwischen dem lokalen Finanzminister und der Weltbank und IWF (beide mit Sitz in Washington) ausgehandelt, wobei der Finanzminister immer am kürzeren Hebel sitzt. Das lokale Parlament bleibt meist, selbst der Ministerpräsident sehr häufig vom Entscheidungsprozeß oder sogar Information ausgeschlossen. Selbst über den eigenen Staatshaushalt wird in vielen Fällen auf diese Art im Ausland bestimmt - von Weltbank- und IWF-Bürokraten, die nie demokratisch gewählt wurden und kaum jemandem rechenschaftspflichtig sind. Der lokale Staat in vielen Regionen der Dritten Welt wird so entleert. Wer nicht einmal die Hoheit über den eigenen Staatshaushalt besitzt, hat keine Chance, das Schicksal des eigenen Landes zu bestimmen. Zusätzlich regieren die Internationalen Finanzinstitutionen direkt in die betroffenen Länder hinein, legen die Zinssätze fest, bestimmen über Auf- und (vor allem) Abwertung der Währung und diktieren die Anhebung der Brot- oder Energiepreise durch Senkung der Subventionen. Zuvor schwache und mangelhaft funktionierende Staatsapparate werden so nicht funktionsfähig gemacht, sondern fast völlig ihrer Bedeutung entkleidet. Bei armen Ländern führt die Koppelung von Privatisierung und Internationalisierung der ehemaligen Staatsfunktionen dazu, daß nur eine leere Hülle des Staates übrigbleibt - etwas, das Staaten im Norden sich niemals gefallen lassen würden, so sehr ihre Ideologen auch von Privatisierung und Markt schwärmen mögen. Dem Staat bleibt in weiten Bereichen des Südens nur die Polizei, das Militär und die Geheimdienste: das Repressionsinstrumentarium. Dieses läßt sich auch kaum privatisieren oder in den Norden transformieren.

Auf diese Weise entstehen staatliche Gebilde, deren „Marktorientierung“ kaum bestritten werden kann. Eine „Demokratisierung“ dieser Gebilde ist dann eine reine und risikolose Formsache: nachdem der Norden diesen Staaten ihre wichtigsten Funktionen genommen hat, wird die verbleibende leere Hülle „demokratisiert“. Wahlen können stattfinden, möglicherweise sogar frei und fair ablaufen - sie sind aber irrelevant, da die gewählten Vertreter nicht mehr über die Macht verfügen, eine aktive und gestaltende Politik für ihr eigenes Land zu betreiben. Claude Aké nennt das zu Recht eine „Demokratisierung der Machtlosigkeit“. Demokratie wird auf die Verwaltung einer Situation reduziert, die man prinzipiell selbst nicht mehr verbessern kann, sie wird bedeutungslos. So beantwortet sich auch die Frage, warum der Norden vor einer Demokratisierung im Süden keine Angst zu haben braucht: im Kontext der Strukturanpassung ist es nur die leere Hülle von Demokratie, da sie sich auf einen entleerten Staat bezieht.

Ein Ergebnis besteht darin, daß die Bürger im Süden von ihrer „Demokratie“ - und dem Nationalstaat überhaupt - enttäuscht werden und werden müssen, da die von ihnen gewählten Politiker und Regierungen ihrer grundlegenden Probleme weder lösen noch lösen können. Enttäuschung darüber führt zur Abwendung von der Demokratie, zu Apathie oder zu zielloser Rebellion.

Jorge I. Dominguez spricht dieses Problem in Bezug auf die englischsprachige Karibik an:
„Man muß anerkennen, daß die liberale Demokratie nicht überleben kann, wenn man alle Säulen zerstört, auf denen sie erbaut war, ohne sie durch ein anderes Fundament zu ersetzen. Die Gewohnheit des Widerstandes gegen Diktatur könnte sich gegen die liberale demokratische Ordnung wenden.“

Dieses Problem ist auch der Gegenstand des Beitrages von Niala Maharaj über die Chancen der Demokratie in Trinidad in diesem Band.

Der „Nationalstaat“, der ja häufig ohnehin erst in Keimform besteht, wird weiter diskreditiert, andere Identitäten, etwa ethnischer oder ethno-religiöser Art treten in den Vordergrund, Erweckungs- und Erlösungsideologien bekommen Konjunktur. Die Demokratisierungsoffensive des Nordens hat sich als wirksam erwiesen, aber sie hat den Menschen in der Dritten Welt keine Bestimmung ihres eigenen Schicksal gebracht. Sie hat im Zuge der enlargement die Herrschaft der marktorientierten Demokratien vergrößert, sie hat den Einfluß des Nordens im Süden gestärkt, sie hat den Menschen im Norden dadurch ein gutes Gefühl verschafft, sich als die globalen Demokraten zu interpretieren - aber sie hat die Chance zur Selbstbestimmung über das eigene Schicksal weiter vermindert. Trotz aller Elemente und Mechanismen von Demokratie, regelmäßiger und einigermaßen freier Wahlprozesse, ist von einer „Herrschaft des Volkes“ im Süden nichts übriggeblieben.
 

Die Demokratisierung des Südens

Manche Kritiker finden für solche Tendenzen starke Worte. Cyrus Bina formuliert in einem anderen Zusammenhang: „Die globale Hegemonie der USA hat Vorrang über die Sache der Freiheit und das Streben nach Glück“. Er wirft den USA vor, „nach Demokratie zu rufen und sie zugleich zu verhindern.“

Das ist nicht ganz richtig. Der Westen fördert die Demokratie in der Dritten Welt. Aber er tut dies auf eine bestimmte, sehr spezifische Art und Weise, die seinen Interessen dient. Wenn immer es seine Interessen nicht beeinträchtigt, wird er freie und faire Wahlen einer Diktatur vorziehen. Das hat ideologische Gründe und auch materielle: gewählte Regierungen sind legitimer und können so zu einer Basis größerer Stabilität werden. Und nicht selten können demokratisch gewählte Regierungen ihren Völkern auch mehr zumuten als eine anmaßende und illegitime Diktatur. Warum sollte der Westen dann gegen Demokratie sein?

Das Problem besteht eben nicht darin, daß die westlichen Regierungen gegen die Demokratie in der Dritten Welt wären. Es liegt in der Tatsache, daß sie von einer allgemeinen ideologischen Sympathie abgesehen Demokratie im Süden mit großer Selbstverständlichkeit ihren eigenen, wirtschaftlichen und strategischen Interessen unterordnen, und daß sie Demokratie so zu formen versuchen, daß sie auf eine legitime Art des Managements freier Märkte zurechtgestutzt wird. Für sie ist Demokratie ein reales Problem, aber ein Managementproblem. Für die Menschen im Süden stellt sich das offensichtlich anders dar: für sie geht es bei der Frage der Demokratie darum, ihr Schicksal selbst bestimmen zu können, und nicht von einheimischen Diktatoren oder ausländischen Finanzbehörden fremdbestimmt zu werden. Es geht also nicht um die Frage, Demokratie Ja oder Nein, sondern darum, ob Demokratie die grundlegende Kategorie von Selbstbestimmung und Kontrolle über das eigene Schicksal sein soll, oder eine Herrschaftstechnik zur Sicherung der Kontrolle einheimischer Eliten und internationaler Hegemonie.

Aus der Position progressiver - oder auch nicht so progressiver - sozialer Bewegungen im Süden stellt sich die Lage unerfreulich und kompliziert dar. Sie sehen sich häufig einer Situation gegenüber, in der tatsächlich diktatorische oder oligarchische Systeme der Herrschaft geschwächt oder überwunden werden, in denen Wahlprozesse stattfinden, deren Sinn es aber nicht selten gerade ist, sie an den Rand zu drängen. Demokratie in diesem Sinne wird zum Versatzstück von Marktwirtschaft, sie gilt vor allem für die sozialen Eliten und die Mittelschichten, während der größte Teil der Gesellschaft in einer Zuschauerrolle verbleibt. Sie können kaum direkt dagegen aufbegehren, da sie sich sonst leicht in einem Boot mit den alten Kräften der Diktatur und Repression wiederfinden würden. Sie können aber mit der Entwicklung auch nicht zufrieden sein, da sie direkt gegen sie gerichtet ist. Die Versuchung, sich vom Kampf um die staatliche Macht zurückzuziehen, und das als Stärkung der Civil Society noch positiv zu verklären, ist beträchtlich. Aber damit würde man der Instrumentalisierung von Demokratie als Herrschaftstechnik gerade in die Hände spielen.

So wichtig eine lebendige Civil Society auch ist - Demokratie bezieht sich auf den Staat. Es geht heute nicht allein darum, wer den Staatsapparat kontrolliert, obwohl das weiter wichtig bleibt. Es geht auch darum, welche Vision vom Staat progressive Bewegungen, NROs und die Civil Society entwickeln. Der Kampf muß um den Staat geführt werden, um Einfluß und Partizipation der ärmeren und der marginalisierten Sektoren der Bevölkerung im Staatsapparat. Er darf nicht den Eliten und Mittelschichten überlassen werden. Dies gilt übrigens nicht nur aus Gründen der „Gerechtigkeit“: Rueschemeyer/Stephens/Stephens haben bei ihren umfangreichen Untersuchungen gefunden, daß „Die dominierenden Klassen haben sich der Demokratie nur angepaßt, solange das Parteiensystem ihre Interessen wirksam schützte.“

Während die Bevölkerungsmehrheit und vor allem die unteren sozialen Klassen Demokratie brauchen, um überhaupt Einfluß auf die eigene Gesellschaft haben, ist für die Machteliten Demokratie eine Herrschaftsoption neben anderen, die nach Opportunität bevorzugt oder fallengelassen werden kann.

Aber der Kampf muß auch um den Staat in einem Sinne geführt werden, die auf seine Stärkung zielt, auf die Herstellung seiner Funktionsfähigkeit. Es muß darum gehen, ihn vor seiner Aushöhlung zu bewahren und ihn in vielen Ländern der Dritten Welt überhaupt erst zu einer funktionsfähigen sozialen Instanz auszubauen. Ein Staat, der seine Funktionen nicht erfüllen kann lohnt auch keine Wahlen. Die Politik der Schwächung - und anschließenden mittelschichtorientierten Demokratisierung - des Staates in der Dritten Welt durch nördliche Akteure hat auch damit zu tun, dem Süden die einzige Instanz schwächen zu wollen, die nördlicher Dominanzpolitik mit minimaler Aussicht auf Erfolg entgegentreten könnte. Die tendenzielle Auflösung des Staates im Süden bedeutet auch die weitere Atomisierung der Dritten Welt, die dann dem Weltmarkt und den dominierenden Mächten des Nordens nur noch als Objekt, nicht als handelndes und sich verteidigendes oder eigenständiges Subjekt entgegenträte.

Demokratisierung hat zwei wichtige Aspekte. Einmal ist nicht zu bestreiten, daß bestimmte Formen der Demokratie unverzichtbare und wertvolle Errungenschaften sind. Freie und faire Wahlprozesse, die Geltung der Bürger- und Menschenrechte und damit zusammenhängende Abläufe oder juristische Kategorien können und dürfen nicht aufgegeben oder geringgeschätzt werden, weil sie in einem bestimmten politischen Kontext zu Zwecken instrumentalisiert werden, die nördlichen Dominanzinteressen (und der Stabilisierung südlicher Eliten) dienen sollen. Aus der nördlichen Demokratisierungsoffensive trotzig den Schluß zu ziehen, jetzt selbst gegen freie Wahlen und andere Erscheinungsformen von Demokratie zu sein - wie bei einigen Strömungen der Islamisten oder einigen autoritären Herrschern Asiens zur Zeit beliebt - wäre fatal. Es kommt darauf an, diese oft als „formal“ abqualifizierten Demokratieelemente zu stärken, zu verteidigen, auf ihrer Einhaltung zu bestehen und sie weiterzuentwickeln.

Aber dabei sollte man nicht stehenbleiben. Wenn man Demokratie nicht nur als Sammlung nützlicher formaler Techniken des Regierungswechsels, sondern als Organisationsform der Selbstbestimmung von Menschen und Gesellschaften über ihr eigenes Schicksal begreift und erstrebt, muß man sich um den zweiten Aspekt von Demokratie kümmern, um ihre soziale Substanz. Jenseits formaler oder juristischer Gleichheit und der Fiktion oder Realität, daß alle Bürger vor dem Gesetz und an der Wahlurne - also im Staat - die gleichen Rechte hätten, kommt es darauf an, die reale Möglichkeit, und nicht nur das Prinzip von Partizipation der ganzen Bevölkerung zu erzwingen. „Demokratie für wen“ - das ist die entscheidende Frage. Hat nur eine gebildete oder bemittelte Minderheit die reale Chance, an der Gestaltung der eigenen Gesellschaft aktiv teilzunehmen, oder können dies im praktischen, realen Leben auch die großen Mehrheiten der Bevölkerung der Dritten Welt, die am Rande oder außerhalb der globalen Marktwirtschaft stehen? Haben Frauen, landlose Tagelöhner, Marginalisierte, ethnische Minderheiten, Analphabeten, Arbeiter und Arbeitslose eine tatsächliche Chance, in der Politik ihres Landes zuerst einmal gehört zu werden, aber auch reale Macht auszuüben?

Edelberto Torres-Rivas beschreibt die Situation für Mittelamerika so: „In Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua wird die Demokratie in den Zentren praktiziert, den Hauptstädten und einigen anderen Städten. An der ländlichen Peripherie ist sie schwächer. Die oberen Klassen nehmen an ihr Teil und erfreuen sich direkter Partizipation, während es für die Kleinbauern immer noch die Politik der Klientelbeziehungen gibt, die rein formale Übung der Stimmabgabe, und die Repression.“

Genau gegen die Teilnahme der Bevölkerungsmehrheit zielt ja die westliche Version von Demokratie für den Süden. Der praktische Ausschluß dieser Mehrheiten bei gleichzeitig funktionierender Demokratie - das ist der Kern der market democracies als Zielvorstellung. Wer aus dem Markt herausfällt oder nicht konkurrenzfähig ist, der hat praktisch auch keinen Einfluß, selbst wenn er theoretisch und juristisch über die gleichen Rechte verfügen mag.

Ökonomische Marginalisierung führt nicht zu politischer Partizipation, sondern zu politischer Marginalisierung. Menschen am Rande oder unterhalb des Existenzminimums können ihre demokratischen Rechte nicht wirksam wahrnehmen, selbst wenn man es zuließe. Und eine demokratische Entwicklung im Sinne breiter Bevölkerungsmehrheiten ist schwer durchführbar, wenn man zugleich das Erziehungswesen privatisiert und so den meisten Menschen aus finanziellen Gründen vorenthält. Wer Gesellschaften durch die ungezügelte Freisetzung der Marktkräfte nach dem Prinzip des Sozialdarwinismus organisiert, kann trotz aller demokratischen Formen und Abläufe keine Chancengleichheit in der politischen Auseinandersetzung erwarten.

Die gesellschaftlichen und ökonomischen Grundstrukturen - der freie Markt - fördern die Macht sozialer Eliten und begünstigen eine Version von Demokratie, in der Regierungswechsel auf ein sich Abwechseln verschiedener Fraktionen der Elite hinausläuft. Die arme Bevölkerungsmehrheit hat nur die Wahl, ihre Marginalisierung zu akzeptieren und ihre Partizipation auf gelegentliche Wahlakte zu begrenzen, oder durch Organisierung und Mobilisierung zum Machtfaktor zu werden, die Civil Society zu prägen zu versuchen. Aber dieser Dualismus ist nur eine halbe Demokratie: die Eliten haben die Macht, und die Gruppen der Civil Society das Recht, diese zu kritisieren. Das ist besser als nichts, aber es ist nicht die Struktur einer tatsächlich und real demokratisch verfaßten Gesellschaft. Die soziale Substanz von Demokratie wird erst erfüllt, wenn die Civil Society der Machtstruktur nicht äußerlich bleibt, sondern sie prägt.

Das würde aber Demokratie statt Marktdemokratie bedeuten, und es würde die Interessen der politischen und wirtschaftlichen Interessen im Norden beeinträchtigen.
 

 

Quelle:
Die Demokratisierung der Dritten Welt nach dem Ende des Kalten Krieges,
in: Jochen Hippler (Hrsg.), Demokratisierung der Machtlosigkeit - Politische Herrschaft in der Dritten Welt
Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1994, S. 11-45;
gekürzter Nachdruck in: Blätter des iz3w, Nr. 205, April/Mai 1995, S. 10-14

Alle Anmerkungen in der gedruckten Fassung des Aufsatzes

 

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