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Jochen Hippler

Afghanistan: Von der Volksdemokratie bis zur Herrschaft der Taliban




Einleitung
Im April 1992 war der damaligen Allianz der Mudschahedin der Sturz Präsident Nadschibullahs und die Ausrufung einer „Islamischen Republik“ gelungen. Der überwältigende Teil der Bevölkerung erhoffte und die meisten westlichen Beobachter erwarteten damit ein Ende des Krieges und den Beginn einer Periode des friedlichen Wiederaufbaus. Beide wurden enttäuscht: eine neue Phase politischer Konflikte und militärischer Auseinandersetzung trat an die Stelle der alten, unsicheren Halbstabilität. Der Krieg wurde verstärkt zwischen den unterschiedlichen Mudschahedingruppen weitergeführt. 1993/94 entwickelte sich als Reaktion auf diese Verhältnisse ein neuer politisch-militärischer Machtfaktor in Form der Miliz der „Taliban“, der religiösen Studenten. Der Krieg änderte seine Form und trat in eine neue Phase ein. Im September 1996 nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul ein, im Mai 1997 brachten sie auch einen Teil des Nordens unter ihre Kontrolle, so daß sie über mehr als 70 Prozent des Territoriums verfügten. In der zweiten Jahreshälfte 1997 und dem nächsten Jahr dürfte sich die Zukunft des Landes entscheiden: eine völlige Kontrolle Afghanistans durch die Taliban oder deren schrittweiser Verlust an sozialer Basis und militärischer Kraft.

Afghanistan bis in die siebziger Jahre
Schon vor Beginn der letzten beiden Jahrzehnte des Krieges war Afghanistan ein extrem armes und wirtschaftlich kaum entwickeltes Land. Weder aufgrund seiner internen ökonomischen Entwicklung, noch aufgrund eines (fehlenden) Reichtums an Bodenschätzen hat Afghanistan es zu auch nur bescheidenem Wohlstand gebracht. Rosinen, Tierhäute, Halbedelsteine und - immerhin – etwas Erdgas waren die wichtigsten Exportprodukte. Industrien im nennenswerten Umfang gibt es nicht. Der ökonomische Standard wurde dadurch gekennzeichnet, daß nicht einmal Statistiken über den Umfang des Bruttosozialproduktes existierten und es sie natürlich auch heute nicht gibt. Schätzungen besagen, daß vor dem Krieg etwa 80 % der Afghanen von der Landwirtschaft lebten.
Die politische Tradition entspricht diesen Bedingungen - und den geographischen und topographischen Gegebenheiten: große Teile des Landes sind zerklüftet oder sonstwie schwer zugänglich, die Infrastruktur im Verkehrsbereich ist höchst mangelhaft. Entsprechend zersplittert waren in Afghanistan traditionell die politische Macht und der ökonomische Einfluß. Stammesoberhäupter, traditionelle Anführer eines Dorfes oder einer kleinen Region, religiöse Führer (insgesamt etwa eine Viertelmillion bei einer Bevölkerung von 13-19 Millionen) bestimmten das Leben auf dem Land. Darüber, entrückt und oft einflußlos, "regierte" eine Regierung in Kabul, die in aller Regel auf die Kooperation der jeweiligen Dorf- und Stammesgrößen und religiösen Führer angewiesen war, wenn sie außerhalb der Städte etwas erreichen wollte. Nicht einmal eine so grundlegende Staatstätigkeit wie das Steuerwesen funktionierte auf dem Land, einflußreiche Stämme entzogen sich dem Militärdienst, ohne daß die Regierung dagegen hätte vorgehen können. Einer zersplitterten und traditionalistischen islamischen Gesellschaft stand damit ein Staatsapparat gegenüber, der im größten Teil des Landes nur eingeschränkt handlungsfähig war.
Den wirtschaftlichen und politischen Zuständen im Land entsprachen die sozialen Lebensbedingungen. Noch in den siebziger Jahren war das Rechtswesen in den Händen religiöser Gerichtshöfe, auf dem Land existierte kaum ein ordentliches Schulwesen, Frauen wurden für Brautgelder gekauft oder verkauft. 90 % der Bevölkerung insgesamt, 98 % der Frauen konnten weder lesen noch schreiben. Der jämmerliche Lebensstandard der Bevölkerung wurde durch ein Geflecht persönlicher Abhängigkeiten und Loyalitäten zementiert, Hoffnung auf sozialen Wandel und wirtschaftliche Entwicklung war gering.
Verschiedene Regierungen in Kabul haben versucht, diese Zustände zu durchbrechen. Amir Abdur Rahman hatte sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit Zwang, britischer Hilfe und einigem Geschick bemüht, die Zentralgewalt auf Kosten der Stämme zu stärken. Dabei konnte er, ebenso wie König Amanullah in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, nur begrenzte Erfolge verbuchen. In historischer Perspektive müssen die Ereignisse im Gefolge der "April-Revolution" von 1978 - einschließlich Bürgerkrieg - in diesem Zusammenhang betrachtet werden: als einer der periodisch wiederkehrenden und bisher immer gescheiterten Versuche, den Staatsapparat in Afghanistan zu stärken, funktionsfähig zu machen, und die entgegenstehenden partikularen Interessen zurückzudrängen. Eine nationalstaatliche "Modernisierung" und die Zurückdrängung oder Zerschlagung der anachronistischen sozialen und politischen Strukturen stand auf der Tagesordnung. Der Militärkorrespondent der liberalen britischen Tageszeitung The Independent, Mark Urban, formulierte treffend: "Wenn jemals ein Land eine Revolution nötig hatte, dann war es Afghanistan." Bis zum Ende der siebziger Jahre hatten alle möglichen, unterschiedlichen Regierungen die zentralen Aufgaben des Landes nicht einmal annähernd lösen können. "Aufeinander folgende Regierungen waren daran gescheitert, die Völker Afghanistans zu alphabetisieren, hatten nicht vermocht, Respekt und eine bessere Lage für Frauen durchzusetzen, oder versäumt, dem Land irgend eine substantielle Regierungs- oder industrielle Infrastruktur zu geben." Die traditionelle afghanische Gesellschaft bot ebenfalls keine Lösungsperspektive: sie war das Grundproblem.

Von der „April-Revolution“ bis zum Abzug der Sowjetunion
Im April 1978 erfolgte in Afghanistan ein Umsturz, den seine Urheber als „April-Revolution" bezeichneten. Einige progressive Militäreinheiten, deren Offiziere mit der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (PDPA) verbunden waren, stürzten die Regierung des Präsidenten Daoud, der 1973 selbst durch einen Putsch den König Zahir Shah von der Macht verdrängt hatte. Wenn aber der Ablauf des Regierungswechsels einem klassischen Staatsstreich glich, so ging es in der Substanz doch um weit mehr als um das bloße Austauschen von Personen: das Ziel war offen revolutionär, es ging um nichts weniger als eine völlige Umgestaltung der ökonomischen und politischen Verhältnisse des Landes, um eine nachholende Modernisierung, die die tradierten Machtstrukturen aufbrechen sollte. Diese Ziele waren nicht nur legitim, sie waren für die zukünftige Entwicklung Afghanistans und eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen auch sinnvoll und notwendig. Über die konkrete Praxis der PDPA ist damit allerdings noch nichts ausgesagt.
Die "Revolution" des April war keine Revolution im klassischen Sinne. Die Revolutionspartei PDPA war im Land kaum verankert. Ihre soziale Basis war höchst schmal, sie erstreckte sich im wesentlichen auf Intellektuelle, Studenten, Staatsbeamte, Lehrer oder Offiziere, geographisch gesehen auf die Hauptstadt und einige andere Städte. In der Landbevölkerung, also bei der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, verfügte die PDPA praktisch über keinen Anhang. Anders ausgedrückt: die „April-Revolution“ war nicht mehr als die Revolte bestimmter Teile der städtischen Mittelschichten gegen anachronistische Sozialstrukturen und einen inkompetenten und zunehmend repressiven Staatsapparat.
Zusätzlich war die neue Regierungspartei PDPA (mit damals schätzungsweise 11-12 000 Mitgliedern) in zwei sich heftig bekämpfende Flügel gespalten, so daß die schwachen Kräfte noch großenteils für interne Machtkämpfe vergeudet wurden. In dieser Situation eigener Schwäche und Isolierung begann die PDPA mit einem ambitiösen Programm sozioökonomischer Umgestaltung der afghanischen Gesellschaft. Die wichtigsten Punkte waren die Förderung der Gleichberechtigung der ethnischen Minderheiten, eine Landreform, Emanzipation der Frau und Erziehung für alle. Damit waren in der Tat zentrale Probleme der afghanischen Gesellschaft, vor deren Lösung alle früheren Regierungen zurückgeschreckt waren, ins Zentrum der Politik gerückt. Doch hinter dieser Ebene guter Vorsätze begannen die Schwierigkeiten.
Das Zusammentreffen des traditionellen, lokalen Autonomiestrebens, der Verkündung und ansatzweisen Durchführung sozialer Reformen und der Unsensibilität und teilweisen Brutalität der PDPA-Kader führten vom Beginn der April-Revolution an zu Widerstand auf dem Land, der - vor dem Hintergrund der afghanischen Geschichte nicht ungewöhnlich - sofort auch gewaltsame Formen annahm.
Die PDPA begriff sich als marxistisch-leninistische Kaderpartei und legte von Anfang an großen Wert auf enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Diese ließ eine gewisse Skepsis erkennen, wollte die machtpolitische Möglichkeit an ihrer Südflanke trotzdem nutzen. Im November 1978 wurde die Unterzeichnung eines afghanisch-sowjetischen Freundschaftsvertrages angekündigt und wenige Wochen später vollzogen. Etwa seit Mitte 1979 begann eine verstärkte Lieferung von Militärmaterial, insbesondere von Flugzeugen und Kampfhubschraubern. Im Herbst begannen die ersten Vorbereitungen der Intervention, im Verlauf des Dezember 1979 wurden bereits sowjetische Truppen nach Afghanistan verlegt, Weihnachten erfolgte dann die Intervention: Präsident Amin wurde militärisch gestürzt, er kam bei einem Feuergefecht in seinem Amtssitz ums Leben. Babrak Kamal wurde neuer Präsident, da die Sowjetunion ihn als Vertreter der "gemäßigteren" Parcham-Fraktion für geeigneter hielt, sich eine stärkere Verankerung im Land zu verschaffen und politischen Übereifer zu vermeiden. Als er die Sowjetunion um die Entsendung von Truppen "bat", waren bereits 15-20.000 sowjetische Soldaten im Land.
Die sowjetischen Militäreinheiten waren außer zur Durchsetzung des Regierungswechsels ins Land gekommen, um die militärische Lage zu stabilisieren und einem Zusammenbruch der Armee vorzubeugen. Die kurzfristigen Ergebnisse der Intervention waren aber genau entgegengesetzt: sie fügte dem Widerstand gegen die Regierung einen neuen, durchschlagenden Grund hinzu, nämlich den Kampf gegen die fremden Eindringlinge. Die rund 110 000 sowjetischen Soldaten beteiligten sich an Counterinsurgency-Operationen, versuchten aber nicht, das Land insgesamt militärisch zu kontrollieren oder zu erobern, sondern konzentrierten sich vornehmlich auf fest umrissene Funktionen wie Luftunterstützung, Kontrolle der Städte oder Straßen (wozu offensive Operationen gegen benachbarte Mudschahedin-Gruppen gehörten), Logistik, das Unterbrechen des Nachschubs des Kriegsgegners oder unternahmen gemeinsame Operationen offensiven Charakters gegen strategisch bedeutsame Mudschahedin-Positionen.

Die Genfer Abkommen vom April 1988
Die Sowjetunion und die Regierung in Kabul waren nicht in der Lage, den Krieg für sich zu entscheiden, da ihnen dazu eine der wichtigsten Voraussetzungen fehlte: die Unterstützung der Bevölkerung. Im Kontext von Guerillakrieg ist dieser Faktor in der Regel weit bedeutsamer als technische Überlegenheit oder stärkere Feuerkraft. Aus innen- und außenpolitischen Gründen war die Sowjetunion auch nicht bereit, ihr militärisches Engagement über das erwähnte Niveau hinaus weiter zu erhöhen, womit sie in die Sackgasse geriet, einen ungewinnbaren Krieg zu führen, der ihr wirtschaftlich und politisch teuer zu stehen kam. Mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows als sowjetischer Parteichef und dann Präsident und dem Beginn der Perestroika konnte auch eine Wende in der sowjetischen Afghanistanpolitik vollzogen werden: der Abzug der Truppen war als notwendig erkannt, und es konnte nur noch um seine Konditionen und politische Flankierung gehen. 1988 kam es zum Durchbruch, nämlich den Genfer Afghanistan-Abkommen.
Diese vier gleichzeitig unterzeichneten waren keine Friedensverträge. Sie regelten nur die internationalen Aspekte des Krieges, insbesondere den Abzug der sowjetischen Truppen. Die Abkommen wurden von den Regierungen Afghanistans, Pakistans, der Sowjetunion und den USA unterzeichnet. Die wichtigsten Vertragsinhalte bestanden aus drei Elementen:
1. der wechselseitigen Verpflichtung zur Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans und Pakistans ("der Hohen vertragschließenden Parteien") Dies schloß das Verbot einer Unterstützung bewaffneter Gruppen oder Aufständischer (also der Mudschahedin) ein, sowie das Verbot, "irgendwelche anderen Handlungen zu unternehmen oder zu dulden, die als Einmischung und Intervention angesehen werden könnten."
2. der wechselseitigen Verpflichtung, eine Repatriierung der afghanischen Flüchtlinge in ihr Heimatland auf freiwilliger Basis "im Rahmen ihrer Möglichkeiten" nach Kräften zu unterstützen.
3. der Verpflichtung der Sowjetunion, ihre Truppen innerhalb von neun Monaten (beginnend mit dem 15. Mai 1988) aus Afghanistan abzuziehen.
Die Koppelung dieser drei Punkte bedeutete zweifellos einen entscheidenden Schritt nach vorn: der erste Punkt entsprach nur der ohnehin bestehenden Verpflichtung aufgrund der UNO-Charta, bedeutete aber in diesem konkreten Fall eine teilweise De-Internationalisierung des Krieges, da Pakistan und die USA danach die Finanzierung, Bewaffnung und sonstige Unterstützung der einen Kriegspartei zu unterlassen hatten.
Dem entspricht der dritte Punkt: auch die Sowjetunion mußte sich an die entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen halten und ihre Truppen zurückziehen. Damit wäre es im wesentlichen gelungen, den afghanischen Bürgerkrieg auf seien inner-afghanische Dimension zurückzuführen - noch kein Friede, aber ein wichtiger Zwischenschritt.
Diese Perspektive der Genfer Abkommen - bzw. ihres Wortlauts - wurde durch Erklärungen Pakistans und der USA zum Teil noch vor der Vertragsunterzeichnung, zum Teil kurz danach, wieder zunichte gemacht. Der damalige pakistanische Diktator Zia Ul-Haq, der traditionell die Hisb-i Islami des Fundamentalistenführers Hekmatyar unterstützt (und deren pakistanische Bruderpartei zur Förderung der Islamisierung seines Landes in die Regierung aufgenommen) hatte, erklärte bereits am 7. April, die Mudschahedin weiter unterstützen zu wollen. US-Außenminister George Shultz meinte anläßlich der Unterzeichnung der Abkommen, "daß es im Einklang mit unseren Verpflichtungen als Garantiemacht unser Recht ist, dem Widerstand militärische Hilfe zukommen zu lassen." Daß genau das Gegenteil den Inhalt der Abkommen darstellte wurde diskret übersehen. Damit ergab sich die ungewöhnliche Situation, daß die Regierungen in Washington und Islamabad feierlich einen internationalen Vertrag unter Anerkennung der afghanischen Regierung unterzeichneten und im gleichen Atemzug öffentlich erklärten, diesen Vertrag brechen zu wollen. Dies dürfte damit zu erklären sein, daß beide Länder die Vorteile eines sowjetischen Truppenabzuges für ihre regionalen Interessen nutzen wollten, zugleich aber wegen der sowjetischen Zwangslage in Afghanistan ihre versprochene Gegenleistung nicht glauben erbringen zu müssen.

Der Sturz Präsident Nadschibullahs
Der Rückzug der sowjetischen Truppen führte nicht, wie allgemein erwartet, zum sofortigen Zusammenbruch der Regierung in Kabul, sondern mittelfristig sogar zu ihrer Stärkung. Die Mudschahedin starteten eine Großoffensive und „Entscheidungsschlacht“ um die Provinzhauptstadt Jalalabad (nahe der pakistanischen Grenze), erlitten aber eine schwere Niederlage und einen entsprechenden Prestigeverlust. Die Regierungsarmee gewann an Selbstvertrauen und Motivation, seitdem sie ohne sowjetische Beaufsichtigung operierte, und die militärischen Erfolge verstärkten diese Tendenz. Außerdem hatte der Abzug der sowjetischen Truppen den innenpolitischen Spielraum der Regierung erhöht, da sie nunmehr von Teilen der Bevölkerung zum ersten Mal als „Herr im eigenen Haus“ ernstgenommen wurde. Die Stärke der Mudschahedin lag im Krieg in klassischer Guerillataktik, in schnellen, überraschenden Angriffen in kleinen oder mittelgroßen Einheiten. Mit der Einnahme großer, gut befestigter und massiv verteidigter Stellungen oder Städte, hatten die Mudschahedin große Schwierigkeiten, die mit mangelnder Koordination für die erforderlichen Großoperationen, mit Problemen mit weitreichender Mobilität in größeren Einheiten und mit deren häufig nur regionalen Verankerung zusammenhingen. Und gerade hier zeigten die Regierungstruppen ihre besondere Stärke.
Es kam nach dem Abzug der sowjetischen Truppen zu einer Situation, in der die Regierung zwar keine Chance hatte, die Aufständischen militärisch zu schlagen, zugleich von diesen aber auch nicht besiegt werden konnte und langsam an sozialer Basis gewann. Innerhalb der lokalen Widerstandsgruppen wuchs die Bereitschaft, mit der Regierung formelle oder informelle Abkommen und Waffenstillstandsvereinbarungen abzuschließen.
Trotzdem kam es im April 1992 zum Sturz der Regierung Nadschibullah und der Herrschaft der PDPA, die sich inzwischen in Watan-Partei, „Partei des Vaterlandes“ umbenannt hatte. Der Grund lag zum größten Teil in den inneren Widersprüchen des PDPA-Regimes, aber auch an externen Faktoren. Die UNO hatte seit längerem an einem Friedenskonzept für Afghanistan gearbeitet, das eine Übergangsregierung zur Vorbereitung von Wahlen beinhaltete. Präsident Nadschibullah stimmte diesem Plan schließlich zu und erklärte sich bereit, die Macht an eine noch zu formende Übergangsregierung abzugeben. Von diesem Zeitpunkt an begann sein Stern schnell zu sinken: er wurde innerhalb und außerhalb seiner Partei nur noch als Zwischenlösung ohne Zukunft angesehen – mit dem Ergebnis, daß selbst höchste Militärführer, Minister und Mitglieder seines Politbüros Kontakt mit Mudschahedinparteien aufnahmen, um sich für die zukünftige Entwicklung abzusichern. Damit war der Zerfall der Partei und des Staatsapparates eingeleitet. Als zweiter und ebenso wichtiger Faktor erwies sich eine Kombination ethnischer und ökonomischer Widersprüche im Regierungslager: als die Regierung im Norden des Landes einen paschtunischen General mit dem Kommando über nichtpaschtunische Truppen ernennen wollte, kam es zu schweren Konflikten innerhalb des Militärs und zwischen der – paschtunisch dominierten – Regierung und tadschikischen und usbekischen Offizieren. Das Faß zum Überlaufen brachte schließlich die desolate Finanzlage der Regierung. Sie war nicht mehr in der Lage, den Usbekengeneral Dostum (und andere lokale Machtgrößen) durch größere Geldzahlungen an sich zu binden, was Dostum zum Überlaufen auf die Seite der Mudschahedin veranlaßte. Damit brach die Regierung zusammen, zwar von außen nicht militärisch zu besiegen, aber von innen morsch und nicht überlebensfähig. Regierung, Staatsapparat und Armee lösten sich praktisch auf, liefen entweder zu den Mudschahedin über, flohen aus dem Land, oder verschwanden einfach von der Bildfläche. Die Mudschahedin zogen in Kabul ein, ohne auch nur einen Schuß abgeben zu müssen.

Herrschaft der Mudschahedin
In der westlichen Öffentlichkeit waren die Mudschahedin in den achtziger Jahren häufig als "Freiheitskämpfer" betrachtet worden, die gegen die russischen Invasoren die Waffen erhoben hätten und deren Hauptziel darin bestehe, ihr Land von den Eindringlingen zu befreien. Diese Darstellung haben sie selbst jahrelang vertreten, häufig wurde sie für bare Münze genommen. Trotzdem ist sie falsch. Zwar war der bewaffnete Widerstand als Folge der sowjetischen Intervention deutlich gestärkt worden, aber er ging dieser voraus. Direkt nach der April-Revolution des Jahres 1978 hatten Mudschahedin-Gruppen unter anti-kommunistischen und islamistischen Vorzeichen bewaffnet gegen die Regierung gekämpft - häufig noch bevor diese ihre verhängnisvolle Politik auch nur beginnen konnte. Wenig beachtet wurde, daß manche Organisationen bereits deutlich vor dieser Zeit kämpften: ein pakistanischer General a.D. schilderte dem Verfasser ausführlich, wie er mit zwei Kollegen vom militärischen Geheimdienst ISI bereits 1971/72 begonnen hatte, die Mudschahedin aufzubauen. Dabei ging es der pakistanischen Regierung darum, nach ihrer Niederlage im Krieg gegen Indien und der Unabhängigkeit des ehemaligen Ostpakistans als Bangladesch ihre strategische Position in der Region zu verbessern. Deshalb sollten im Nachbarland Afghanistan (mit dem es historische Grenzstreitigkeiten gab) in allen Provinzen kleine, bewaffnete Gruppen als strategische, militärische Option aufgebaut werden. Dies hatte offensichtlich nichts mit „Kommunismus“ oder einer sowjetischen Intervention zu tun, die ja erst Jahre später erfolgte. Obwohl diese Gruppen damals noch nicht „Mudschahedin“ hießen – gegen den noch regierenden König Sahir Shah ließ sich schließlich kein „Heiliger Krieg“ führen – waren Männer wie Rabbani und Hekmatyar (die später als Mudschahedinführer bekannt wurden) bereits in Führungspositionen. Das ISI führte die Operation bis zum Sturz der Regierung Zulfikar Ali Bhutto (1976) weiter, um sie auf Anweisung des neuen Regimes abzubrechen. Damit begann eine starke Fragmentierung der Gruppen, die auf der Suche nach Ersatz für die ausfallenden Finanzmittel in Konkurrenz zueinander gerieten und sich an unterschiedliche potentielle Förderer wandten, wie an Saudi Arabien, Libyen, usw.
Ab 1978 begannen die USA als Reaktion auf die Machtübernahme der PDPA mit einer begrenzten logistischen und materiellen Hilfe für die Mudschahedin, ab 1980 wurden diese Maßnahmen massiv ausgeweitet und zur größten Operation der CIA in ihrer Geschichte. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Mudschahedin zwar einerseits tatsächlich als Reaktion auf radikale politische Veränderungen und externe Intervention begriffen werden müssen, aber – insbesondere auf Leitungsebene – zugleich von einer opportunistischen Söldnermentalität geprägt waren, die den persönlichen Nutzen über politische Erwägungen stellte. Vor diesem Hintergrund lassen sich die verschiedenen Parteien folgendermaßen charakterisieren:
1. Die wichtigsten und in den achtziger Jahren schlagkräftigsten Mudschahedin-Gruppen (wie Hisb und mit deutlichen Einschränkungen Jamiat) können als revolutionär-fundamentalistisch und islamistisch bezeichnet werden. Sie wollten, auf einem anderen Weg als die PDPA, Afghanistan ebenfalls zu einem zentralen, "nationalen" Staatswesen umformen, das dann als „islamischer Staat“ von einer Kaderpartei geführt werden sollte. Jede Form von Demokratie oder auch nur das Wahlrecht für Frauen wären in diesem Konzept fehl am Platze.
2. Der andere Hauptflügel wurde in der Regel als der "gemäßigte" bezeichnet: Gemeint sind Gruppen, die einer eher traditionalistisch-fundamentalistischen Linie folgen, die das Afghanistan von gestern verkörpern, und das Afghanistan der traditionellen Abhängigkeiten und Ausbeutungsstrukturen wiedererrichten möchten. Sie sind prinzipiell pro-westlich orientiert und stehen nicht selten der theokratischen Herrschaft des saudi arabischen Königshauses nahe, von dem sie beträchtliche Summen erhalten.
Über diese beiden politischen Grundkonzeptionen wölbt sich schließlich eine eher "modern" anmutende Verhaltensweise: Kriegsgewinnler, Leute mit Söldnermentalität und Kräfte, die den Krieg insgesamt als Geschäft und zur persönlichen Bereicherung betreiben. Es ist kein Zufall, daß bis zu 70 % der US-amerikanischen Hilfsgelder in dunklen Kanälen verschwanden und bei den eigentlichen Kämpfern nie ankamen: geschäftstüchtige Mudschahedinführer verkauften Waffen und Nachschub in Pakistan auf eigene Rechnung, um unabhängig vom Verlauf des Krieges ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Bereits während ihres angeblich „Heiligen Krieges“ kämpften die Mudschahedin an zwei Fronten: einerseits leisteten sie Widerstand gegen die sowjetischen Truppen und die Regierung der PDPA, andererseits befanden sie sich in einem dauerhaften Krieg untereinander, der zum Teil um die Hegemonie im eigenen Lager, zum Teil um handfeste materielle Vorteile geführt wurde, wie etwa die Kontrolle der Opiumproduktion in der Provinz Helmand. Die Brutalität und Grausamkeit der Mudschahedin stand der ihrer Gegner in nichts nach. Anschläge auf Zivilisten mit Dutzenden von Toten, Abschüsse von Zivilflugzeugen, Massenerschießung von Gefangenen, Heroinhandel im großen Stil, Folter und andere Methoden der Konfliktaustragung waren immer an der Tagesordnung. Als die Mudschahedin im April 1992 die Macht in Kabul übernahmen, führte dies weder zum Frieden in Afghanistan, noch zu einer demokratischen oder die Menschenrechte achtenden Regierung. Es wurde nur eine neue Runde des Krieges eröffnet, die insbesondere sich in der Hauptstadt als verheerender erwies, als alles zuvor erlebte. Erst nach dem Sturz Präsident Nadschibullahs wurde Kabul weitgehend zerstört. Die Hauptkonfliktlinie verlief in dieser Zeit vor allem zwischen Präsident Rabbani und Ministerpräsident Hekmatyar. Von einer Lösung der sozialen und politischen Probleme des Landes oder dem wirtschaftlichen Wiederaufbau konnte unter solchen Umständen natürlich keine Rede sein.

Aufstieg und Macht der Taliban
Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1988/89 und dem Sturz der PDPA 1992 war die Legitimität einer Weiterführung des Krieges in der Bevölkerung fraglich: die fremden, „ungläubigen“ Invasoren waren vertrieben, und selbst die durch die Kooperation mit ihnen kompromittierte Regierung gestürzt. Der Bevölkerung war nicht einsichtig, aus welchen Gründen immer noch kein Friede möglich war, den sie eigentlich schon nach dem Abzug der Sowjetunion erwartet hatte. Die Kriegsmüdigkeit wuchs, und die Unzufriedenheit mit der inkompetenten und korrupten Herrschaft konkurrierender Mudschahedinfraktionen nahm kontinuierlich zu. Immer stärker wurden diese nicht als Befreier, sondern als Quelle aller Übel wahrgenommen, eine Tendenz, die sich in Kabul bereits seit etwa 1990 beobachten ließ. Mit Hinblick auf die sieben sich bekämpfenden Mudschahedinparteien meinte man im Basar häufig: „Besser ein starker, schlechter Präsident als sieben, die miteinander Krieg führen“.
An diesem Punkt der afghanischen Geschichte betraten die Taliban vor etwa drei Jahren die Bühne. Wie aus dem Nichts schien diese unbekannte, neue Miliz aufgetaucht zu sein. Tatsächlich deutet einiges darauf hin, daß der pakistanische Militärgeheimdienst ISI am Aufbau der Taliban wesentlich beteiligt war: von Anfang an war die Miliz gut bewaffnet und verfügte über schwere Waffen, einschließlich Panzer und Flugzeuge. Auch die Spannungen zwischen Pakistan und der Regierung in Kabul legen diesen Schluß nahe. Später wurde dies mehrfach belegt, etwa durch die Festnahme von pakistanischen Offizieren in Mazhar-i-Sharif, in afghanischen Norden.
Die Taliban verfügten über drei entscheidende Vorteile: erstens waren die Mudschahedinparteien und ihre zerstrittene Regierung in der Bevölkerung weitgehend diskreditiert. Es hatte sich lange herumgesprochen, daß sie weder das Wohl des Landes, noch den Islam im Sinn hatten, sondern nur das eigene, und daß sie den Krieg verewigten. Zweitens waren die Bevölkerung und selbst viele Mudschahedin ausgesprochen kriegsmüde. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1988/89 und dem Sturz Nadschibullahs 1992 waren immer weniger Gründe für eine Fortsetzung des Krieges zu erkennen, aber der Krieg und das Leiden hörten nicht auf. Beide Punkte stellten die Taliban ins Zentrum ihrer politischen Arbeit. Drittens aber waren die Taliban eine neue, unverbrauchte Kraft, die für die Verbrechen, Korruption und den Krieg keine Verantwortung trugen. Sie waren die einzige Organisation mit Glaubwürdigkeit. Und schließlich war es ein großer Vorteil, daß die Taliban nicht nur ständig vom Islam redeten, sondern “islamische Studenten” waren - also als überparteilich, unabhängig von der Parteipolitik und selbstlos gelten konnten. In der Bevölkerung waren die Taliban durchaus beliebt, da sie disziplinierter und rücksichtsvoller auftraten. Sie genossen Respekt, während man den Parteien gegenüber vor allem Furcht, Opportunismus oder Zynismus spüren konnte. Diese Stärken führten dazu, daß die Taliban in der Anfangsphase ihrer Offensive das halbe Land einnehmen konnten, ohne wirklich Krieg führen zu müssen: in den meisten Fällen flohen ihre Gegner, oder sie übergaben die Städte und Provinzen ohne Widerstand. Das wiederum stärkte das Prestige der Taliban ganz beträchtlich. Auch die Hauptstadt Kabul wurde im September 1996 nicht erobert, sondern einfach in Besitz genommen, nachdem die Einheiten der Regierung Rabbani sie geräumt hatten. Auf ähnliche Weise gelang den Taliban, was weder den sowjetischen Truppen, noch Nadschibullah oder Rabbani jemals geglückt war: die entscheidende Schwächung der Hisb-i-Islami des Gulbuddin Hekmatyar, die vor den anrückenden Taliban einfach dahinschmolz und in der Bedeutungslosigkeit versank.
Diese Serie fast gewaltloser Siege schien zu demonstrieren, daß die neue Kraft nicht nur stark, sondern moralisch überlegen war. Sie würde Schluß machen mit Krieg und den ständigen Kämpfen der korrupten Parteien. Wo diese nur vom Islam geredet hatten, würden die Taliban auch Taten folgen lassen.
Ihre Siege ließen genau den letzten Punkt zum entscheidenden Problem werden. Tatsächlich machten sie ernst mit “dem Islam”, wenn auch mit einer besonders rigiden und reaktionären Variante. Zuerst ließen die Taliban die Mohnfelder abbrennen und die Heroinlabors zerstören, da Drogen gegen den Islam verstießen. (Inzwischen haben sie den finanziellen Nutzen der Opiumproduktion erkannt und den Drogenexport wieder aufgenommen.) Sie einigten als drei Viertel des Landes unter ihrer Führung, womit die Zerstückelung Afghanistans zum Teil rückgängig gemacht und die Instabilität verringert wurde. Und in ihren Herrschaftsgebieten wurde tatsächlich der Krieg beendet - kein kleines Verdienst nach mehr als 1,5 Millionen Toten. Aber ihre Art des Islam hatte von Anfang an stark repressive Züge. Männer wurden gezwungen, sich Bärte wachsen zu lassen, Frauen verstärkt unterdrückt: Berufstätigkeit und Schulausbildung für Frauen sind verpönt und faktisch verboten. Das Tragen der burqa - ein Ganzkörperschleier - wird den Frauen aufgezwungen. Brutalste Bestrafungsformen und Willkür sind an der Tagesordnung. Was viele Afghanen zuerst als die letzte Hoffnung auf Frieden begrüßt hatten, entwickelte sich schnell zu einer terroristischen Gewaltherrschaft hinter religiösen Rechtfertigungsformeln. Wie bereits nach dem Sturz Nadschibullahs war Afghanistan vom Regen in die Traufe gekommen.
Zu tatsächlicher Kriegführung sahen sich die Taliban erst im Norden des Landes gezwungen, als sie auf die Positionen des tadschikischen Ahmad Schah Masud und des Usbekenwarlords Raschid Dostum vorrückten. Hier kam es zu harten und für beide Seiten verlustreichen Kämpfen. Bemerkenswerterweise erfolgten auch im Norden Afghanistans bis heute (Juni 1997) die Durchbrüche der Taliban (insbesondere die großen Geländegewinne im Mai 1997) nicht durch militärische Siege, sondern erneut durch politische Erfolge. Die Einnahme des Hauptquartiers Dostums und dessen Flucht ins Ausland wurde durch die Desertion seines Generals Malik ermöglicht, der sich kurz darauf allerdings wieder von den Taliban abwandte und ihnen schwere Verluste in Mazar-i-Scharif zufügte. Gegenwärtig kontrollieren die Taliban über 70 Prozent des Landes. Westlich der Hauptstadt behauptet sich eine von schiitischen Hazara kontrollierte Region, die allerdings mit den Taliban über eine Zusammenarbeit verhandelt; nördlich und nordöstlich Kabuls besteht noch eine vom tadschikischen warlord Masud kontrollierte Zone, deren Kern das schwer einzunehmende Pandschir-Tal bildet; und schließlich existiert im Norden des Landes noch um die Provinzhauptstadt Mazar-i-Scharif ein „Nordstaat“, der allerdings nicht länger von Dostum, sondern General Malik kontrolliert wird. Der Rest des Landes befindet sich gegenwärtig unter Kontrolle der Taliban.
Allerdings: der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der Taliban hat im Norden nach ihrem blitzschnellen Sieg im Mai und ihrem Einmarsch in Mazhar-i-Sharif mehr als nur einen taktischen Rückschlag erlitten. Nach dem erneuten Umschwenken General Maliks kam es zu hohen Verlusten unter den Taliban und einem Vordringen der Usbeken und Tadschiken an fast allen Fronten. Zwar ist ein militärischer Sieg dieser Allianz gegen die Taliban auf absehbare Zeit kaum vorstellbar, aber auch deren Aussichten auf einen Sieg im Norden sind deutlich gesunken. Ohne einen nicht-paschtunischen Verbündeten sind die Chancen eines militärischen Sieges und erst Recht einer dauerhaften Beherrschung des Nordens durch die Taliban eher gering.

Afghanistan: Ethnizität und Staatszerfall
Der langandauernde Krieg in Afghanistan ist durch einen einzelnen Faktor nicht zu erklären, sondern zeichnet sich gerade durch seine Vielschichtigkeit aus. Es lassen sich zumindest die folgenden Faktoren identifizieren:

  • Der Kampf um lokale Autonomie versus Stärkung zentralstaatlicher Instanzen und Zuständigkeiten
    Widerstand gegen versus Aufzwingung gesellschaftlicher Modernisierung und der verbundenen sozialen und politischen Umbrüche
  • Ringen um Macht zwischen den unterschiedlichen ethnischen, stammesgebundenen und religiösen Gruppen und Strömungen
  • Persönliche ökonomische und Machtinteressen kleiner Führungseliten oder charismatischer Führer
    Durchsetzung einer Ökonomie des Krieges und der Drogen
  • Ideologische Widersprüche, sowohl säkularer als auch religiöser Art (z.B.: Marxismus-Leninismus vs eigenständige, nationale Reformperspektve; Sozialismus vs traditionelle Gesellschaftskonzepte, traditionelles vs islamistisches Religionsverständnis, Sunni vs. Schia, etc.)
  • Externe Einflußnahme, Afghanistan als geopolitisches Konfliktfeld (Pakistan, Iran, Sowjetunion (später Rußland, Usbekistan, Tadschikistan), USA, Saudi-Arabien, Ägypten

Erst das Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Konfliktebenen ließen den Krieg in Afghanistan so komplex und „unlösbar“ werden. Sie traten darüber hinaus nicht säuberlich getrennt durch unterschiedliche Akteure vertreten auf, sondern in einer bemerkenswerten Vermengung. Die Widersprüche innerhalb der PDPA beruhten eben nicht allein – und nicht einmal vordringlich – auf politisch-ideologischen Streitigkeiten, sondern zugleich auf „ethnischen“ Unterschieden (Paschtunen vs. Nichtpaschtunen, v.a. Tadschiken, unterschiedliche Zweige innerhalb der Paschtunen), auf der Frage der außenpolitischen Orientierung (Maß der Unterordnung unter die sowjetische Politik vs. eigenständige Reform/Revolutionsperspektive), ökonomischer Gier (Desertion General Dostums zu den Mudschahedin) und anderen Aspekten der Konfliktdynamik. Die Zusammenarbeit der „radikalsozialistischen“ Chalqi-Fraktion der PDPA mit der „extremfundamentalistischen“ Hisb-i-Islami des Gulbuddin Hekmatyar in der Schlußphase der Regierungszeit Präsident Nadschibullahs über alle ideologischen Unterschiede hinweg erfolgte beispielsweise zum großen Teil über ethnische (paschtunische) Gemeinsamkeiten vermittelt. Besonders unübersichtlich wird die Situation dadurch, daß viele der Faktoren gelegentlich kausal für politische Entscheidungen verantwortlich waren, häufiger aber nur der bloßen Legitimation einer aus anderen Gründen bevorzugten Politik dienten. Sowohl der religiöse Eifer mancher Beteiligter, als auch die ethnischen Identitäten dienten nicht selten als ideologische Instrumente der Allianzbildung, der Ein- und Ausgrenzung. Mitglied eines bestimmten Stammes, einer bestimmten Ethnie oder Religionsgemeinschaft, eines ausgedehnten Familienverbandes oder einer linguistischen Gruppe, Region oder Provinz zu sein bedeutete und bedeutet in Afghanistan nicht automatisch einen Gegensatz zu einer „nationalstaatlichen“ Perspektive oder zu den anderen vorhandenen Ethnien. Andererseits läßt sich ein solcher Gegensatz bei Bedarf immer leicht herstellen.
Die Konfliktgenese läßt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen:
Ausgangspunkt war der Versuch, Afghanistan durch den Staatsapparat ohne breite soziale Unterstützung eine Modernisierung gewaltsam aufzuzwingen. Drei Faktoren führten zu massivem Widerstand: in einem Teil der Bevölkerung die Modernisierung als solche, in anderen Teilen ihre repressive Durchsetzung und die Einschränkung oder Aufhebung regionaler oder sozialer Autonomie. Der Widerstand wurde verstärkt durch die nicht selten inkompetente Art der Modernisierung und mangelnde Rücksicht auf lokale Traditionen und Bräuche.
Bereits in diesem Stadium des Konfliktes existierten allerdings funktionsfähige Kerne bewaffneter Aufständischer, die sich bald mit lokalen Machthabern und den traditionellen Strukturen (z.B. Stämmen) verbündeten, und so eine soziale Basis gewannen.
Die entscheidende Eskalationsstufe wurde allerdings durch die externe Einflußnahme erreicht: durch die sowjetische Intervention und die US-amerikanische Geheimdienstoperation, die zur umfangreichsten in der Geschichte der USA wurde. Afghanistan wurde zum wichtigen Schlachtfeld des zweiten Kalten Krieges der achtziger Jahre. Beide Supermächte und ihre Verbündeten pumpten riesige Mengen an Waffen, Material und Geld ins Land, das einerseits den Krieg auf eine viel blutigere Ebene hob, ihm aber zugleich eine neue Dimension hinzufügte: eine Ökonomie des Krieges, die von den politischen und militärischen Eliten bis an die soziale Basis ein Interesse an seiner Fortsetzung schuf. In dieser Phase wurden Pakistan, die USA und eine Reihe islamistischer Organisationen aus dem Nahen und Mittleren Osten, wie auch westliche Hilfsorganisationen praktisch zu Kriegsparteien.
Die traditionellen Machtbeziehungen zwischen Stadt und Land, zwischen und innerhalb der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen waren zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen zerstört, wie auch das diffizile Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft. Die allseitige Verfügbarkeit von Waffen führte zu zusätzlicher Fragmentierung und der gewaltsamen Zuspitzung alter und neuer Konflikte, die man ansonsten auf friedliche Weise hätte beilegen können. Insbesondere die geheime Infrastruktur zur Unterstützung der Mudschahedin durch diese selbst, das pakistanische ISI und die CIA wurde zunehmend mit einer mafiotischen verknüpft, deren Kernelement im Drogenschmuggel bestand. In der Schlußphase der sowjetischen Militärpräsenz duplizierte sich ähnliches auch auf der Seite der Kabuler Regierung und bei den abziehenden sowjetischen Truppen. Der sowjetische Rückzug und die resultierende Verminderung des US-Engagements bedeuteten, daß der Konflikt von der Dimension des Stellvertreterkrieges zwischen den damaligen Supermächten befreit, und daß seine externe Finanzierung drastisch vermindert wurde. An ihre Stelle traten allerdings eine verstärkte Betonung persönlicher, krimineller und ethnischer Konkurrenzen, die für eine historische Phase in der Konstellation zwischen Präsident Rabbani und seinem Verteidigungsminister Masud einerseits (beide Tadschiken), dem paschtunischen Ministerpräsidenten Hekmatyar als Führer der stärksten Drogenmafia und zugleich der islamistischen Kaderpartei Hisb-i-Islami, und dem Usbekenwarlord Dostum verkörpert wurden.
Der Bürgerkrieg zwischen diesen Akteuren (unter Beteiligung der schiitischen Wahdat) hatte nichts mehr mit dem Kampf gegen externe Besatzer und ebensowenig mit religiösem Übereifer zu tun, wenn letzteres auch aus Legitimationsgründen weiter behauptet wurde. Er war kaum etwas anderes, als ein Kampf um persönliche Macht, der mit dem Streben nach Hegemonie der eigenen ethnischen Gruppe verknüpft war.
Genau aus dieser Tatsache bezogen die Taliban ihre Stärke, die ihnen bis zum Frühjahr 1997 einen kometenhaften Aufstieg ermöglichte. Der Überdruß der Bevölkerung an der Fortsetzung eines sinnlosen Krieges, das Prestige der frühen Talibanbewegung als neu, unverbraucht, über den diskreditierten Mudschahedinparteien stehend und tatsächlich moralisch (nämlich religiös) motiviert gaben den Taliban einen unschätzbaren politischen Wettbewerbsvorteil. Nicht ihre militärische Stärke, sondern die völlige Diskreditierung, der moralische und politische Bankrott ihrer Gegner waren für ihren Aufstieg verantwortlich. Erst durch ihre politisch-religiöse Rigorosität und den ethnischen Faktor kam ihr Vormarsch ins Stocken: Nachdem sie in kurzer Zeit die paschtunischen Siedlungsgebiete und die Hauptstadt Kabul unter ihre Kontrolle gebracht hatten, gelang ihnen jedes weitere Vordringen nur unter großen Schwierigkeiten und mit dramatischen Rückschlägen. Dies galt für ihre Versuche, nördlich von Kabul auf die Hochburg des tadschikischen Ahmed Shah Masud zu marschieren, und vor allem für ihre politisch-militärische Katastrophe im Norden, in Mazar-i-Sharif. In beiden Fällen trafen sie auf eine skeptische, nicht-paschtunische Bevölkerung, deren Vorbehalte oder Widerstand mit Zwang, Gewalt und schließlich ethnischen Säuberungen überwunden werden sollten. Damit wurden die ethnischen Aversionen aber nur vertieft und die Basis für einen Erfolg der Taliban im Norden untergraben oder gar verspielt.
Gegenwärtig existieren für die zukünftige Entwicklung des Landes folgende Alternativen:
a) Eine Einnahme des Nordens durch die Taliban auf militärischem oder politischem Wege, und damit die Einigung des Landes unter ihrer Führung. In diesem Falle sind mittelfristig eine Differenzierung und möglicherweise Fragmentierung der Taliban sehr wahrscheinlich, ebenso wie dauerhafter Widerstand gegen ihre Herrschaft, der sich am stärksten in den nicht-paschtunischen Siedlungsgebieten ausprägen dürfte.
b) Gegenwärtig unwahrscheinlich, aber nicht prinzipiell ausgeschlossen ist die Bildung einer Koalitionsregierung der jetzigen Kriegsgegner, falls sich keine der beiden Seiten durchzusetzen vermag. Das so entstehende Gleichgewicht wäre allerdings sehr fragil und würde nur funktionieren, wenn die Zentralregierung den nicht-paschtunischen Ethnien eine weitgehende Autonomie zugestände.
c) Schließlich ist unter der Voraussetzung, daß keine Seite zum Sieg fähig ist, auch eine Teilung des Landes in zwei oder mehr kleinere Staaten möglich: etwa die Bildung eines usbekischen oder usbekisch-tadschikischen Staates im Norden und eines paschtunischen im Rest des Landes – wobei die Stellung der schiitischen Hazara und anderer Minderheiten ungeklärt bliebe. Dieses Szenario entspräche in gewissem Sinne der Formalisierung der gegenwärtigen Realitäten, und scheint damit realistischer als die beiden anderen.
In allen Fällen wird die zukünftige Entwicklung allerdings zum großen Teil davon abhängen, ob und in welchem Maße es den Taliban gelingen wird, ihre doktrinäre Ideologie und rigide und brutale Praxis zu mäßigen, und sich auf diese Weise wieder eine breitere soziale Basis zu verschaffen. Sie haben bereits bei einem großen Teil der Bevölkerung – auch der paschtunischen – ihren politischen Kredit verspielt, und damit ihrer Herrschaft einen Teil der Legitimation entzogen. Falls sie nicht einen integrativeren Kurs einschlagen werden, sind interne Auseinandersetzungen und Widerstand auch der Paschtunen bereits vorprogrammiert.



© Jochen Hippler

Quelle:
Jochen Hippler, Afghanistan: Von der "Volksdemokratie" zur Herrschaft der Taliban,
in: Betz, Joachim / Brüne, Stefan (Hrsg.), Jahrbuch Dritte Welt 1998, München 1997, S. 165-184
 

 

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